Je tiefer, desto investigativer
Ein hochtrabend unterkomplexes Modell dafür, wie man in wenigen Minuten Journalist einer virtuellen Redaktion wird. Ein unaufgeregtes Plädoyer (eines Medienwissenschaftlers!) dafür, weniger hysterisch weniger Schreckensmeldungen zu bringen. Einen "Gesellschaftsvertrag" mit Bild-Zeitungs-Lesern gibt's vielleicht doch nicht; Journalismus ist bloß Bezahl- (statt Frei-)bier. Außerdem: der neue "Bond" und die Netzpolitik, das Gremium namens GEREK und die Netzneutralität.

Wie wird man eigentlich Journalist? Endlich wird diese Frage auch so beantwortet wie die, wie man bei Mädchen an- oder nicht schulfrei bekommt: per Youtube-Tutorial.

"Wenn ihr unserer Einladung zur Recherche folgt, erklären wir euch Schritt für Schritt, wie man als Journalist/in arbeitet, wie man Quellen überprüft, Belege herbeischafft ...",

schreibt correctiv.org-Chefredakteur Markus Grill im Editorial des neuen crowdnewsroom.org.

Der Abschnitt "Lernen" besteht aus den vier 1,37- bis 3,11-minütigen Videos "1.) Wer ist ein Journalist?" ("In diesem Video erklären wir Dir die drei wesentlichen Aufgaben eines Journalisten"), "2.) Die investigative Recherche" ("In diesem Video erklären wir, was den investigativen Journalismus auszeichnet und worin das Besondere der Arbeitsweise von Enthüllungsjournalisten besteht"), "3.) Warum wir bei der Recherche offen sein müssen" und "4.) Wie Journalisten auftreten". Durch die, wie correctiv.org es nennt, "Kurse", führt Jonathan Sachse vom Correctiv, ein freundlich auftretender junger Mann mit ruhiger Mimik und, sobald man sich dran gewöhnt hat, faszinierender Gestik.

Besonders bewahrenswerte Faustregeln wie "Je tiefer, desto investigativer" erscheinen als Textinsert neben dem Kopf des jungen Mannes (Kurs 2, Min. 2.07). Und unter den Kursen stellen die Macher denen, die den iconic turn noch vor sich haben oder halt Streber sind, hochwertiges Bonusmaterial in Form von geschriebenen sehr kurzen Texten sowie weiterführenden Links zur Verfügung, z.B. bei 2.): "Zwei Beispiele für herausragenden investivativen Journalismus: Die Universität von Texas und Austin hat die Watergate-Berichterstattung von Bob Woodward und Carl Bernstein aufwändig rekonstruiert ...".

Wie man das correctiv.org, "dem gemeinnützigen Recherchezentrum", wohl erwarten darf, gilt die Sache einem vermutlich guten Zweck. Die so und durch zwei weitere Kurs-Angebote angelernten Nachwuchsjournalisten werden dann Teil einer "virtuellen Redaktion" und können bei einer "Sparkasse-Recherche mitmachen. Im CrowdNewsroom könnt ihr selbst journalistisch arbeiten und dadurch lernen, wie man recherchiert".

Dass diese Sparkassen-Recherche sinnvoll zu sein scheint, erklären auf der schon oben verlinkten Editorial-Seite diverse weitere Artikel und ein (sichtlich weniger Youtube-Tutorial-Seherfahrung mitbringender) Redakteur des Projekt-Kooperationspartners FAZ ebenfalls per Video. Viele lokale deutsche Sparkassen­-Chefs verdienten "mehr als die Bundeskanzlerin und freuen sich über lukrative Renten", obwohl "zum Teil die Kommunen" Verluste dieser Sparkassen "mit Steuergeldern ausgleichen" müssten. Das dazu bereits vorhandene umfangreiche Datenmaterial dürfte nicht nur alle interessieren, die sich dafür interessieren, was andere so verdienen, sondern könnte angesichts des öffentlich-rechtlichen Charakters der deutschen Sparkassen brisant sein.

Falls aber jemand, sei es deshalb, sei es, weil die Tutorials dieses Thema aussparen, fragt, was der fortgebildete Journalistennachwuchs im CrowdNewsroom verdient: Die FAQ zeigen, wo man Correctiv-Mitglied "werden und dadurch" (also durch Bezahlen) "unabhängigen Journalismus fördern" kann, sagen zu ersterer Frage aber nichts. Wahrscheinlich wird die recherchierende Crowd nicht bezahlt - was dann wohl okay wäre (schließlich geschieht im Internet sehr viel, auch journalistische Arbeit unbezahlt), wenn die Tutorials weniger hochtrabend unterkomplex daherkämen.

Correctiv.org ist ein spannendes Projekt, auch gerade, was das schwierige Thema Journalismusfinanzierung angeht. Es wird durch Crowdfunding, aber auch durch Spenden u.a. schwer reicher ehemaliger WAZ-Eigentümer finanziert. Mit dieser Kampagne aber hat es sich erst einmal keinen Gefallen getan, würde ich sagen.

[+++] Hilft es, irgendwas mit Medienwissenschaft zu studieren, um Journalist zu werden? Hmjein, nicht mehr oder weniger als anderes, müsste die Antwort wohl lauten.

Schließlich sind Medien- und Kommunikationswissenschaftler auch nicht mehr, was sie vielleicht niemals waren. Interviews mit Bernd, das Pörk, wie er hier im Altpapier manchmal liebevoll genannt wird, und Kollegen zeigen oft, dass die Wissenschaft der dynamischen Echtzeit-Entwicklung ähnlich gegenüber steht wie der Journalismus selbst, eloquent hilflos, und halt Meinungen äußert wie ungefähr alle anderen es im Internet auch tun.

Aber heute gibt's ein aufschlussreiches Kommunikationswissenschaftler-Interview, sogar in einer gedruckten Zeitung. Oliver Quiring heißt der noch unverbrauchte Experte und lehrt in Mainz. Joachim Huber vom Tagesspiegel fragt nach dem "Lügenpresse"-Problem. Schließlich halten zwei aktuell kursierenden Umfrage-Meldungen zufolge entweder jeder fünfte oder sogar fast jeder zweite Deutsche "die Medien für 'Lügenpresse'". Hat die Wissenschaft eine Lösung, fragt Huber, bzw.:

"Worauf führen Sie das grassierende Misstrauen zurück?"

Quiring: "Der Begriff 'grassierendes Misstrauen' ist deutlich zu hoch gehängt. Ihre Frage erklärt aber auch gleich einen Teil des Problems. Wir können seit Jahrzehnten beobachten, dass in der medialen Darstellung immer mehr die negativen, sensationellen, skandalösen und dramatischen Aspekte herausgearbeitet werden oder zumindest so formuliert wird. Eine Bevölkerung, der täglich mehr oder minder hysterisch die nächste Schreckensmeldung präsentiert wird, sieht natürlich erstmal genauer hin. Und meldet sich seit geraumer Zeit auch lautstark in den sozialen Medien zu Wort. ... Kurzfristig weckt eine dramatisierende Berichterstattung zwar Aufmerksamkeit und die Nachrichten lassen sich erstmal gut verkaufen. Langfristig beruht das Geschäftsmodell der Medien aber auf Vertrauenswürdigkeit und nicht auf wohltemperiertem Schrecken. Hinzu kommt, dass die Medien selbst aktuell das Thema 'Misstrauen' derart prominent präsentieren, dass immer mehr Menschen sich damit beschäftigen. Ein wenig weniger Nabelschau würde wohl zur Beruhigung der Gemüter beitragen."

Was Quiring angenehm unalarmistisch in diesem Interview sagt, könnte tatsächlich Teil der Lösung sein.

Wobei wie alles auch Nabel differenziert betrachtet werden können. Quiring spricht ferner "tatsächliche Probleme" wie "die massive Unterfinanzierung vieler Medien", die "zwangsläufig hin und wieder zu Lasten der Qualität gehen" muss, an. Dazu könnte Interviewer Huber sicher einiges sagen. Schließlich war bei seiner Zeitung kürzlich überraschend das Vorweihnachtsgeschäft weggebrochen, weshalb der Tagesspiegel seine freien Leiharbeiter kurzfristig vor die Tür setzte, zumindest bis ins neue Jahr (in dem saisonal bedingt zunächst kein Vorweihnachtsgeschäft ansteht). Aber so weit, eigene Probleme konkret transparent zu machen, selbst wenn sie sich auf externe Faktoren zurückführen lassen, geht die Nabelschau deutscher Journalisten auch wieder nicht.

[+++] Allerdings fiel in ähnlichem Zusammenhang gerade der Begriff "Gesellschaftsvertrag" (vgl. Artikel des österreichischen Standard zum Berliner Verlegergipfel im Altpapierkorb gestern). Dem Springer-Vorstandsmitglied Andreas Wiele zufolge besteht der Vertrag darin, "dass unabhängiger Journalismus Werbeeinnahmen brauche". Ums Aufkündigen handele es sich ergo beim Installieren eines Werbeblockers.

Die Erfolgsmeldung der schärfsten deutschen Anti-Werbeblocker-Kampagne (siehe auch Altpapier), auf die Wiele vor allem gespannt machte, lieferte nun der Mathias Döpfner im Rahmen der turnusmäßigen telefonischen Pressekonferenz zur Bekanntgabe neuer, schöner Geschäftszahlen des "digitalen Verlags Axel Springer" (welt.de mit den Zahlen):

"Zwei Drittel der betroffenen Nutzer hätten ihre Adblocker ausgeschaltet und seien damit wieder für Werbung auf Bild.de erreichbar. Die vermarktbare Reichweite von Bild.de sei damit um 3 Millionen Visits gestiegen. ... Man hoffe, dass man damit auch andere Anbieter ermutige, Nutzer von Adblockern zu sperren",

sagte der vorstandsvorsitzende Sunnyboy laut horizont.net und kassierte dann auch den Begriff des "Gesellschaftsvertrags", um ihn durch einen nutzerfreundlicheren und bild.de-Leser-affineren zu ersetzen:

"Die Unterdrückung von Werbung auf frei zugänglichen Internetseiten sei 'eine Freibierkultur, mit der guter Journalismus nicht zu finanzieren ist', betonte Mathias Döpfner in der Pressekonferenz."


Altpapierkorb

+++ Kaum hat Angela Merkel auf dem Verlegergipfel gastiert, sprach sie auch "auf einem Digital-Kongress der Unions-Bundestagsfraktion am Mittwoch in Berlin". Erneut der Standard zitiert ihren Satz zur leider leidigen, lang diskutierten Frage des europäisch harmonisierten Datenschutzes: "Nach meiner Auffassung ist schon der Kompromiss zwischen Kommission und Rat an dem Ende dessen, was noch ein vernünftiges Big-Data-Management möglich macht". +++

+++ Wenn Sie das interessiert, könnte Sie auch das neue Anti-Datenschutz-Gesetz des EU-Mitglieds und besonders engen USA-Verbündeten Großbritannien interessieren (netzpolitik.org, nochmals Standard). +++ Gute Frage des (keineswegs sehr datenschutz-freundlichen) FAZ-Politikressorts dazu: "Ist es Zufall, dass das neue Geheimdienstgesetz just in den Tagen vorgestellt wird, in denen das Volk die jüngsten Heldentaten des Superagenten James Bond im Kino verfolgt?" Schließlich werfen auch deutsche Medien bei einem neuen "Bond"-Film die Gratis-PR-Maschine an wie sonst nur, wenn sich Gerüchte verdichten, dass Applle ein neues Gerät vorstellen könnte. +++ Erst ab 12.11. im Kino: "Democracy - Im Rausch der Daten". Einen der Protagonisten des "hochspannenden Dokumentarfilms", den Grünen Jan Philipp Albrecht, interviewt der Cicero (Kurzfassung bei netzpolitik.org). Es geht u.a. um den bzw. die "nervigsten Lobbyisten" gegen Datenschutz. Albrecht würdigt in seiner Antwort auch das Engagement der deutschen Verlage und des größten deutschen Medienkonzerns. +++

+++ Erfolgreich waren die auf EU-Institutionen angesetzten Lobbyisten bei der Netzneutralität. Zur künftig herrschenden Lage steht heute ein ausführlicher Gastbeitrag auf der SZ-Medienseite. U.a. macht er mit dem GEREK bekannt, dem "Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation", und zwar deshalb weil der Gastautor, der nordrhein-westfälische Medienwächter Jürgen Brautmeier, gern sich selbst oder seinesgleichen in diesem Gremium sähe: "Bisher ist beim entscheidenden Gremium auf EU-Ebene ... nur die Bundesnetzagentur an dem wichtigen Prozess beteiligt, in dem die Netzneutralität umgesetzt wird. Es soll ein 'nationaler Regulierer' dabei sein - den es im föderalen Deutschland so nicht gibt. Daher genügt es nicht, dass nur die Bundesnetzagentur beteiligt ist. Nein, im Sinne des Grundgesetzes müssen auch die Freiheit der Meinung und die Vielfalt in den Verhandlungen eine Rolle spielen. Diese Rolle muss die Gemeinschaft der Landesmedienanstalten übernehmen." +++

+++Hat die VG Media, eine der ganz wenigen Institutionen, wenn nicht die einzige, die das Leistungsschutzrecht für Presseverleger hoch hält, beim derzeit für den Rechtsstreit mit Google zuständigen Deutschen Patent- und Markenamt eine "streng geheime Niederlage" erlitten? Friedhelm Greis schildert bei golem.de en detail und mit Updates, was für diese Ansicht sprechen könnte. +++

+++ "... Darüber hinaus werden die beiden Herausgeber, Christian DuMont Schütte und Isabella Neven DuMont, ab Januar 2016 die Zusammenarbeit mit den Redaktionen der DuMont Tageszeitungen intensivieren, um die publizistische Verantwortung der DuMont Mediengruppe direkter wahrzunehmen. Der bisherige Vorstandsbereich Publizistik wird nicht fortgeführt. Robert von Heusinger (48), bisher Vorstand Publizistik, wird das Unternehmen nach Abschluss des Redaktionsprojekts 'Digitale Transformation' zum Jahresende im gegenseitigen Einvernehmen verlassen" (DuMont-Pressemitteilung). Heißt: "DuMont baut Vorstand um und löst Publizistik-Bereich auf" (horizont.net). +++

+++ "'Le Parisien' ist ein Wahlkampfgeschenk des reichsten Franzosen an Nicolas Sarkozy, der wieder Präsident werden will und dem Blatt schon mehrere Interviews gab. Etwa am Dienstag dieser Woche. Da präsentierte Sarkozy sein Programm zur inneren Sicherheit. Eigentlich müsste ihm der konservative 'Figaro' seines Parteifreundes Serge Dassault für derartige Auftritte näher sein. Doch seit Präsident Hollande mit Erfolg die Flugzeuge von Dassault verkauft, formuliert der 'Figaro' Kritik an den Sozialisten zurückhaltender.": In einem schön geschriebenen Artikel auf der FAZ-Medienseite erklärt Jürg Altwegg, wie in Frankreich "Paris mit der Presse Monopoly" spielt. +++ Indes (die üblichen) Neuigkeiten aus dem Zeitungsdruck-Geschäft in der Schweiz hat der kleinreport.ch. +++

+++ Eine Geschichte, die sich noch auswachsen könnte, um einen auf kunstministerielle Anweisung gelöschten, zuvor namens der Stiftung Sächsische Gedenkstätten erschienenen Tweet: sz-online.de (also die Sächsische, nicht die Süddeutsche Zeitung). +++

+++ "Es soll wohl ein Kompliment sein, jung ist hier aber auch jeder unter 45": Ein Erlebnis vergleichbar junger "Zapp"-Reporterinnen beim Verbandstag der Journalistengewerkschaft DJV geht auch viral. Scharfe Selbstkritik des (bei derselben Gelegenheit) ja relativ neu aufgestellten Verbands aber ebenfalls. +++ 

+++ Viral auf gedruckten Medienseiten: die Zukunft der "Musikantenstadl"-Nachfolgesendung (z.B. Tagesspiegel, SZ). +++

+++ Nachtrag von gestern: "Hass ist das Lametta der Berichterstattung" (TAZ-Kriegsreporterin). +++ "Aus der 'Flüchtlingskrise'scheint ein Kulturkampf zu werden. Das ist genau das, was die Rechten wollen": wolfgangmichal.de mit neuer, gewohnt wortgewaltiger Zusammenschau der Stränge der recht monothematischen "Dauerberichterstattung". Am Ende taucht, vielleicht als Licht hinten im Tunnel, der "Sozialdemokrat alter Schule" und Altpapier-Autor Frank Lübberding auf. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.