Begeisterung, Haltung, Conduct!
Viel Anlass zur Begeisterung besteht zwar nicht, aber im Netz muss man einfach begeistern (egal, wovon die Texte handeln). In punkto Edward Snowden zeigen sich Deutschland und Europa zumindest konsequent. Die Streiter ums Leistungsschutzrecht haben keinen Schritt voran gemacht, aber eine Instanz hinter sich gebracht. Axel Springer bringt jetzt auch Haltung ins Zeitschriftenregal. Und der Fachbegriff des Tages lautet: Artikel-Hopping.

Ein Flüchtling, dem Deutschland jedenfalls überhaupt kein Asyl gewährt, nicht einmal freies Geleit, ist Edward Snowden.

Das muss auch manchmal geschrieben werden in diesen nachrichtenreichen Echtzeit, auch wenn die von Snowden ausgelösten Empörungswellen schon älter und medial natürlich verebbt sind.

Und diese Haltung der Bundesregierung besitzt  zumindest, was womöglich für nicht sehr viele ihrer sonstigen Haltungen gilt, Konsequenz. Schließlich spielt ungefähr alles, wofür Snowden stand und steht, in der Digital- und Netzpolitik tatsächlich entweder keine Rolle oder sogar die, dass die Entwicklung in die Gegenrichtung verläuft.

"Europa nach Snowden: Nicht weniger, sondern mehr Überwachung",

überschreibt netzpolitik.org eine Zusammenfassung des New York Times-Artikels "Europe Is Spying on You" vom Europarats-Menschenrechtskommissar Nils Muižnieks. Aktuelle Beispiele werden von Muižnieks genannt und vom auch Blog verlinkt aus Frankreich (siehe dazu noch aktueller heise.de), Österreich und Deutschland.

Das aktuelleste Exempel schlechter Netzpolitik hat nicht direkt mit  Überwachung zu tun, läuft aber ebenfalls dem zuwider, wofür Snowden steht. Das Durchwinken der möglichen Abschaffung der Netzneutralität im EU-Parlament (Altpapier vom Dienstag) trat nun immerhin eine Reise durch Medien- (Tagesspiegel) und Politikressorts (die "Sorge vor einer Zweiklassengesellschaft" formuliert sogar Reinhard Müller auf der FAZ-Seite 10) an. Mutmaßliche Auswirkungen einer speziellen "schwammigen Formulierung, die drei Interpretationen erlaubt", umreißen der österreichische Telekom-Regulator Johannes Gungl im Standard und netzpolitik.orgs Markus Beckedahl im NDR-Interview (nachdem er erst mal darauf hingewiesen hat, dass das EU-Parlament am Dienstag "für das Gegenteil" dessen stimmte, was es im Jahr zuvor beschlossen hatte):

"Wir sehen mehr Rechtsunsicherheit durch die vagen und unklaren Definitionen, die dazu führen werden, dass sehr viele Entscheidungen vor Gericht ausgefochten werden müssen. Dann müssen Gerichte klären, was in diesen Gesetzestexten wie gemeint ist, weil es das EU-Parlament nicht gemacht hat."

[+++] Dieses Procedere scheint die Norm für alles, was mit Internet und Recht zu tun hat, zu sein. Es erinnert an das bekannteste rein netzpolitische deutsche Gesetz, ans Leistungsschutzrecht. Dort sind die streitende Parteien gerade ein Schrittchen vorangekommen, bzw. genauer: kein Stück voran, aber eine der Instanzen auf dem voraussichtlich langen Rechtsweg haben sie hinter sich gebracht (EPD/ evangelisch.de).

"Die Schiedsstelle des Deutschen Patent- und Markenamts in München teilte mit, das Schiedsverfahren sei gescheitert. Die VG Media, die mehr als 200 digitale Verlagsangebote vertritt, fordert von Google und anderen Suchmaschinenanbietern Lizenzgebühren für die Verwertung von Verlagsinhalten. Google lehnt das ab",

und nun müssen Gerichte entscheiden bzw. (weil die Sache sicher in die höchste Instanz gehen wird, sofern das Gesetz nicht einfach abgeschafft wird) zu entscheiden beginnen, um was genau es sich bei den legendären "kleinsten Textausschnitten" (vgl. Altpapier 2013) aus dem Gesetzestext handelt. Es wäre schön, wenn die Netzneutralitäts-Regelungen ähnlich unschädlich bleiben würden wie das LSR, das mangels Praktikabilität derzeit kaum zur Anwendung kommt; doch zu befürchten ist, dass die Lobbyisten, die den Wortlaut des EU-Gesetzes mitformuliert haben, andere Kaliber sind als die (aus Sicht jedenfalls der Journalisten und vielleicht auch der Öffentlichkeit: leider) sehr hilflosen Lobbyisten der deutschen Verlage.

[+++] Jetzt aber: Begeisterung, Haltung, Conduct! Auch so etwas gibt es schließlich in den Medien und im Netz, auch in Deutschland.

So stellt sich ein Medienkonzern hinter heftig kritisierten Mitarbeiter, und zwar Springer hinter den "Megadienstleister Alfred Draxler" (Altpapier vom Freitag). Für kress.de hat Bülend Ürük, keiner der schärfsten Springer-Kritiker, von Springer die Auskunft erhalten, dass der enge Beckenbauer-Freund gegen den konzerneignenen, strengen "Code of Conduct" nicht verstoßen habe. Ja, der Bild-Zeitung gehe "es vor allem um die Aufklärung der Affäre, ohne dabei einseitig für bestimmte Beteiligte Partei zu ergreifen". Sollte dieser Ansatz sich bestätigen, könnte für die Bild-Zeitung eine ganz neue Ära beginnen.

Falls Sie wenig in Sportressorts lesen und wissen wollen, was sonst so in der Sommermärchen-Sache läuft: Zum gestern hier antizipierten Prozess über die bloß mittelbar interessante Frage, ob bzw. wie lange Elvira Netzer während eines Treffens ihres Gatten Günter mit Theo Zwanziger am Tisch saß, dürfte es kommen. Spiegel Online zitiert die Süddeutsche Zeitung, die Süddeutsche zitiert Spiegel Online (bzw. zitieren beide, was Beteiligte dem jeweils anderen so sagten). Netzers Anwalt ist der aus Kachelmann-Zusammenhängen als Streiter wider Springer geläufige Ralf Höcker. In der frischen Übersicht über den "medialen Stellungskampf", die wiederum die elektronische Presse des NDR gibt, kommt auch noch der Rechtsvertreter des DFB, Christian Schertz, zu Wort. Die prominenten Medienanwälte dürften sorgen,  dass auch diese Sache durch die eine oder andere Instanz gehen und solange an medialer Brisanz verlieren wird, bis die Anwälte dann vom Weiterprozessieren abraten.

Schließlich ist für alle, die Fußball in Medien aufbereiten, um den ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky und nochmals das NDR-Medienmagazin "Zapp" (bzw. ein von diesem vor einer Woche auf Youtube gestelltes Interview) zu zitieren, "die größte Schlacht, die man je erlebt hat", immer noch die um die nächsten Fußballfernsehrechte.

Zweitens: Haltung. Haltung ist geradezu en vogue, zumindest "auf dem Kioskregalbrett für Frauenzeitschriften" (kress.de), auf dem es 2016 noch voller werden wird, sofern bis Ende März nicht noch die eine oder andere Mitbewerberin ausscheidet. "Haltung und Glaubwürdigkeit" sollen jedenfalls die neue, alte Zeitschrift Allegra kennzeichnen, die der genannte Springer-Konzern dann wieder herausbringen möchte. Der Tagesspiegel flankiert die Wiedergabe der Pressmitteilung mit Erinnerungen an die alte Allegra und an die, zumindest was Werbebuchungen angeht, sehr erfolgreiche neue Barbara des Konkurrenzen Gruner + Jahr ("positive Lebenshaltung ...").

Drittens: Begeisterung! Zumindest einen "Begeisterungsvirus" diagnostiziert die SZ-Medienseite. Dirk von Gehlen gibt dort einen instruktiven Überblick über Clickbaiting, also die "Strategie, die Texte erfolgreich machen soll - fast egal wovon sie handeln":

"Bei diesen kurzen Locktexten der 'Social Teaser' handelt es sich um ein vergleichsweise neues Genre. Häufig folgen sie einem immer gleichen Muster der Zuspitzung. Ein Teaser für diesen Text hier könnte etwa lauten: 'Zehn Gründe, warum Medienhäuser Angebote für Social Media bauen. Nummer acht hat mich zu Tränen gerührt.' Diese Form setzt auf Emotionalität und oft auf direkte Ansprache ('Du wirst nicht glauben, was dann passierte')."

Der Artikel erklärt ganz gut, wie Onlineangebote um die sehr vielen Leser bzw. Klicker, die sie brauchen, um sich mit Werbung finanzieren zu können, kämpfen. Der "Begeisterungsvirus" befallen habe, so von Gehlen, besonders die neuen Jugendangebote klassischer Printmedienmarken wie das ze.tt der Zeit und bento.de des Spiegel.

[+++] Genau dazu stellten bei vocer.org ungenannte Interviewer (von "nextMedia.Hamburg") an Alan Posener die sehr gute Frage

"Ist es nicht verrückt, noch mehr Angebote auf einen sowieso vollen Markt zu werfen?"

Die Verlage würden "wahrscheinlich wissen, was sie tun", sie hätten ja Marktforschung betrieben, lautet die auch gute Antwort des Autors der Welt-Gruppe (also wiederum Springers). Zuvor schöpft Posener noch den Fachbegriff, den man sich an diesem Donnerstag am ehesten merken sollte: "Artikel-Hopping".

"Wer das Artikel-Hopping gewohnt ist - und das ist jeder unter 50 - wird nicht zum Online-Abo zurückkehren. Sondern er wird allenfalls bereit sein, für einzelne, herausragende Stücke zu zahlen",

sagt er. Zu Begeisterung besteht im digitalen Journalismus wenig Anlass. Aber dafür, Haltung zu zeigen, umso mehr.



Altpapierkorb

+++ Vielleicht hat es ja gar nichts mit der vermutlich schwierigen Situation der Tagesspiegel-Redakteure zu tun, die zurzeit das Blatt und den von ihm verbreiteten Online-Stoff ganz ohne die unwürdig freigesetzten freien Mitarbeiter (siehe freischreiber.de und einige jüngere Altpapiere) machen müssen, vielleicht liegt es am Urlaub des, äh, Headwriters Lorenz Maroldt, aber: So uninspiriert und voller Wolfsburg- und "Murks-Maut"-Gags, die jedem Fernsehcomedian zu doof wären, wie zurzeit waren die "Checkpoint"-Newsletter des Tagesspiegel wohl noch nie.  +++

+++ Mit Wolfgang Liebs Abschied von den Nachdenkseiten (Altpapier vom Montag) hat sich Martin Reeh für die TAZ befasst ("Weg vom linkssozialdemokratischen Mainstream, hin zum wahnsinnigen Rand: Auch auf den Nachdenkseiten ließ sich diese Wandlung finden ..."). +++

+++ Mit Bettina Reitz', sozusagen, Abschiedsinterview von der ARD (siehe Altpapier von vor zwei Wochen, Dietrich Leder bei medienkorrespondenz.de) bzw. der Frage, "warum ... sie dem Bayerischen Rundfunk zum Abschied noch einen mit" gibt, hat sich Jörg Seewald für faz.net befasst. Reitz sei kein Elch (der kritisiert, was er früher selbst war, wie ich schrieb), sondern "muss sich ... auf ihren letzten Stationen vorgekommen sein wie in der Geschichte vom Hase und vom Igel: Sobald sie sich irgendwo daranmachen wollte, in leitender Funktion kreative Funken zu schlagen, war gerade das Geld weg." +++

+++ "Die Kampagne gegen aufsässige Medien wird immer hemmungsloser. Sie riecht nach Verzweiflung", kommentiert die SZ das rabiate Vorgehen "mit Kettensägen" (wie u.a. zeit.de berichtet) der türkischen Regierung Erdogan gegen Medien. +++ Für den Tagesspiegel berichtet Cigdem Toprak über "Antisemitismus in der Türkei", auch das unter medialen Aspekten. +++ "Das Regime Erdogan will wenige Tage vor den Parlamentswahlen in der Türkei die letzten kritischen Journalisten in dem Land mundtot machen", kritisierte Michael Konken vom DJV, der sich oft ja auch zurecht empört. +++

+++ Dagegen "liegt Deutschland, was die Freiheit im Netz betrifft, nach einer Studie der amerikanischen Organisation 'Freedom House' international auf Platz vier, hinter Island, Estland und Kanada. China hingegen landete auf dem letzten Platz, noch hinter Iran und Syrien", fasst Andrea Diener auf der FAZ-Medienseite zusammen. Hier die Charts dazu. Dieser freedomhouse.org-Report ("Gute Nachrichten gibt es immerhin aus Sambia und Sri Lanka sowie aus Kuba, wo sich nach der diplomatischen Entspannung mit den Vereinigten Staaten das Internet allmählich ausbreitet") nennt als "Donors" außer dem niederländischen Außemninisterium auch das U.S. State Department’s Bureau of Democracy sowie Google, Facebook, Yahoo und Twitter. +++

+++ Holla, ein "'writing room' nach amerikanischem Vorbild" mitten bei der ARD! Auf der FAZ-Medienseite lobt Heike Hupertz Scarlett Kleint, Alfred Roesler-Kleint und Michael Vershinin, die darin den heutigen Abend-Regionalkrimi, einen "Usedom-Krimi", geschrieben haben. +++ Norddeutsche Regionalkomödien namens "Nordlichter" stellt Altpapier-Autor René Martens in der Medienkorrespondenz vor. Die erste Staffel beschäftige sich "aus unterschiedlicher Sicht mit dem komischen Wesen 'Mann'", sagt NDR-Fernsehfilmchef Christian Granderath, der sie initiierte. +++

+++ Wer schreibt denn noch "Liebe Internetgemeinde!"? WDR-Korrespondent Ulrich Adrian ist's, der wiederum am Montag hier am Ende des Altpapierkorbs dieses Tweets wegen erwähnt wurde. "Wir können gerne sachlich darüber reden, ob ich in der Eile und der Beschränktheit auf 140 Zeichen zu flapsig oder unglücklich formuliert habe", bietet er im "Tagesschau"-Blog dann "mit freundlichen Grüßen" an. Warum öffentlich-rechtliche Auslandskorrespondenten, die nicht selten zurecht darüber klagen, dass sie in den Fernsehprogrammen wenig Sendezeit erhalten, in irgendeiner Eile einen nett formuliert: leicht unterkomplexen Tweet absetzen müssen, obwohl Twitter sich doch auch so schnell genug füllt, wäre vielleicht das bessere Diskussionsthema. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.