Was Bündel können, können nur Bündel
Dem gedruckten Tagesspiegel ist ein attraktives Missgeschick geglückt.
Zusammenlesen geht gedruckt einfach besser. Ein eher doofes Missgeschick des Möchtegern-Entbündelungs- bzw. Kaffeepadisierungs-Gewinners Axel Springer. Der Trend zum Euphoriejournalismus, die Macht des Megathemas. Außerdem: die (oder eine) "Lebenslüge Europas"; Kritiken zum Talkshow-Auftritt der "Kanzlerin der Herzen".

Ein schön sinnfälliges Bild, das in den Digitalisierungsdebatten immer wiederkehrt (vielleicht zuletzt im September in einem TAZ-Artikel über Blendle), ist das vom alten Bündel und seiner digitalen Entbündelung.

Früher, in der Analog-Ära konnten Inhalteproduzenten noch verkaufen, was immer sie wollten, besagt es ungefähr. Als Popmusiker zum Beispiel zwei oder drei Singlehits und dazu noch viele sonstige Stücke von geringer Hitqualität im Rahmen eines sogenannten Albums aus Vinyl. Übertragen auf denjenigen Rahmen aus der alten Medienwelt, der derzeit kräftig entbündelt wird, erklärt dieses Bild erstens, warum es oft doch schön oder interessant ist, in einer Papierzeitung zu blättern: Man kann auf Dinge stoßen, von denen man gar nichts wusste, nicht einmal, dass sie einen interessieren könnten.

Zweitens erklärt es, warum Zeitungen ökonomisch unter Druck stehen und stehen bleiben werden. Warum soll noch jemand monate- oder  jahrelang für Stücke, viele Seiten, ganze Ressorts bezahlen, die er sowieso nie liest? In der Digitalära bezahlt jeder nur für seine individuellen Singlehits. So erklärte Tim Renner, als er noch keiner der SPD-nahen Berliner Erfolgspolitiker war, warum digital besser ist.

Ein Beispiel für ein analoges Bündel, das es in digital gar nicht geben kann, ist gestern dem Berliner Tagesspiegel gelungen. Jeder weiß ja längst, dass auf Onlineportal-Titelseiten wie SPON Artikel über Beate Zschäpe und schwangere Urpferdchen immer bunt durcheinander stehen. Wenn die Mischung nicht bunt genug ist, wenn ein Vorspann keinen Superlativ enthält oder ein angeteaserter Artikel differenziert zu argumentieren droht, wird in Echtzeit nachgebessert, die Reihenfolge umgestellt und die Überschrift verändert.

Ist aber eine gedruckte Zeitungstitelseite, auf der oben ein Foto eines Hitler-Darstellers zu sehen und in der zentralen Schlagzeile darunter von Flüchtlingspolitik als "Chefsache" zu lesen ist, in der Welt, dann geht sie in Windeseile rum, wird weiterfotografiert und kommentiert. Dann spottet das Netz. Und das (deutschsprachige) Ausland merkt auch auf.

"Viele Leser haben zwischen dem Foto und dem darunter stehenden Text einen Zusammenhang gesehen, der von uns nicht gewollt war",

erläuterte dann die Tagesspiegel-Chefredaktion unter der Überschrift

"Wir bitten, die geschmacklose Verbindung von Bild und Text zu entschuldigen",

die auch am Donnerstagmorgen noch die tagesspiegel.de-Lesercharts anführt. Unter dem eher kurzen Text sind viele, viele via Twitter eingebundene Fotos der Tagesspiegel-Titelseite zu sehen.

Lorenz Maroldt, der Chefredakteur mit dem Morgen-Newsletter (in dem er heute gelassen "auf die Idee muss man auch erst mal kommen" schreibt sowie natürlich den medienmedial besten, freilich auch internen Tweet integriert), erklärte das attraktive "Missgeschick" gestern auch bereits in (als mp3 bei radioeins.de downloadbarer) Audioform.

Dabei verwendete er das Verb "zusammenlesen", das man sich merken könnte: Zusammenlesen geht im Rahmen einer Zeitung oder Zeitungsseite viel besser. Online liest man ohnehin immer alles zusammen, also kaum etwas im Zusammenhang oder zuende. Was Bündel können, können nur Bündel.

[+++] Ein Möchtegern-Gewinner der Zeitungs-Entbündelung, ikiosk.de aus dem Auch-noch-Verlag Axel Springer, ließ sich von gewiss hochpreisigen Kreativen den pfiffigen Claim "Die neue Pressefreiheit" ersinnen. Sogar eine noch pfiffigere Idee, daraus "eine Guerilla-Kampagne" (horizont.net) zu gestalten, die idealerweise hätte viral gehen und in So-spottet-das-Netz-Umschauen landen sollen, gehörte offenbar dazu.

Wie cool ist das denn, lautet ungefähr der Tenor des Artikels bei horizont.net (das von sogenannten Kreativen aus der Werbebranche gelesen wird) darüber, wie Jung von Matt/Spree eine Pegida-Demonstration in Dresden zur "Kulisse für eine Guerilla-Kampagne" machte bzw. sogar "crashte". Dort hatten angeheuerte Event-Kreative zumindest kurzzeitig ein Auto mit dem Bonus-Slogan "Die ganze Lügenpresse aus einer Hand" entlanggefahren.

"Wie peinlich ist das denn", titelt dagegen meedia.de, das das Distinktionsmerkmal "Kritische Haltung" ja nicht oft benutzt, zumal nicht gegenüber irgendwas in Springer-Zusammenhang, über Springers Versuch, das Unwort "Lügenpresse" zu kapern. Wobei, so gesehen, funktioniert es doch viral: Wenn meedia.de etwas von Springer peinlich findet, muss man wirklich mal klicken.

Apropos: Entbündeln muss im Journalismus gar kein Erfolgsrezept werden. "Bis auf wenige Aficionados (Vielleser und notorische Kioskstöberer) will niemand für einzelne Zeitungsartikel einzelne Kauf-Entscheidungen treffen müssen", argumentierte Wolfgang Michal in seinem Blog, und fragte:

"Kann man Lebensmittel (die man braucht) oder Lieder (die man immer wieder hören mag) überhaupt mit Journalismus vergleichen? Manche Journalisten wünschen sich das: dass ihre Texte wie Lebensmittel oder Lebensmelodien wären".

Wobei der die Überschrift stiftende Begriff "Kaffeepadisierung" ja zumindest ein Journalisten-Lebensmittel bezeichnet. Das war zwar schon im September, doch liegt darin ja definitiv ein Vorteil des Entbündelns: Anstelle des Echtzeit-Ausstoßes lassen sich immer auch bessere ältere Artikel in neue Bündel einbinden.

[+++] Im selben September, in einem anderen Beitrag schrieb Michal vom "monothematischen Journalismus", der im Jahr 2015 mit "moralisierendem Zeigefinger" immer jeweils ein Megathema setzt, dem dann "sich ... zu entziehen" "kaum jemandem gelingt". Das, zumal der darin auch verwandte Begriff "Emotionskindergarten" passt zum ebenfalls merk-würdigen Begriff "Euphoriejournalismus", den Matthias Iken vom Hamburger Abendblatt gerade benutzte (was keineswegs heißen muss, dass Iken und Michal derselben Meinung sind).

"Viele Medien haben in der Flüchtlingsfrage Euphoriejournalismus betrieben. Nun legen die ersten eine Kehrtwende hin",

lautet der Vorspann des Kommentars. Darin versucht Iken sich an der schwierigen Aufgabe, vieles zusammenzulesen, was zum aktuellen Megathema Flüchtlinge so geschrieben wird. "Es gibt kein Schwarz oder Weiß" lautet die Titelzeile, die natürlich jeden Online-Überschriften-Optimierer mit Grausen erfüllt (und auch nicht stimmt; schließlich gibt es durchaus auch schwarz und weiß). Aber diskussionswert ist, was der stellvertretende Chefredakteur des Abendblatts (aus der Funke-Mediengruppe) darunter schreibt.

[+++] Die Macht des Megathemas war es übrigens, die dem Tagesspiegel gestern bzw. spät vorgestern, als die gestrige Titelseite entstand, sein attraktives Missgeschick bescherte. Beim Tagesspiegel wissen sie ja  auch, dass alle, die sich für Facebook interessieren, Facebook gut finden und Facebook-Kritik kaum als Kaufanreiz auffassen, und dass Datenschutz nur wenige interessiert, so groß die Sprachbilder auch sind. (Falls es doch interessiert: In Ergänzung zu den gestern hier genannten wären etwa noch "Datenschutz ist die Lebenslüge Europas" und "A Biblical Parable of Judicial Power" zu haben). Und haben beim Nachdruck nachgebessert.

"In der sogenannten Frühausgabe des Tagesspiegels hatte unter dem Foto zunächst ein anderer Text zur 'Safe Harbor'-Entscheidung des EuGH gestanden. Dieser wurde dann am späteren Abend zugunsten der Flüchtlingsnachricht ausgetauscht",

heißt es im Kleingedruckten der oben verlinkten Entschuldigung.

Mit Echtzeit-Ausstoß zum Top-Aufhänger des aktuellen Megathemas geht's weiter im ...


Altpapierkorb

+++ "Merkels ehrlichste Regierungserklärung" heißt der SPON-Superlativ zur die Anne-Will-Sondersendung mit der Bundeskanzlerin als einzigem Gast gestern abend in der ARD. +++ Noch superlativischer drauf zeigt sich Michael Hanfeld bei faz.net unter der Überschrift "So spricht die Kanzlerin der Herzen". Hanfeld hat gleich die anschließenden "Tagesthemen" weitergeguckt und übernimmt am Ende das Kanzlerin-"Wir". Selbst die Formulierung "Verwöhn- und Vereinnahmungsfernsehen, wie die ARD es an einem solchen Abend produziert, hilft da auch nicht weiter" scheint er bei weitem nicht so Öffentlich-Rechtlichen-kritisch zu meinen wie er sich sonst oft zeigt. Vielleicht kein "denkwürdiger Fernsehabend" (auch Hanfeld), aber ein denkwürdiger Hanfeld-Text. +++ Erheblich nüchterner und deskriptiv: Thorsten Denkler von der Süddeutschen. +++ Sowie ich bei handelsblatt.com ("Angela Merkels Politik des freundlichen Gesichts"). +++ Was Merkel "antreibt: Ein entschlossener Protestantismus, der auch im Flüchtling den 'Nächsten' sieht", hat Robin Alexander bei welt.de rausgehört. +++ Merkel "ist argumentativ nicht so stark, wie man das erwarten könnte. Einmal beendet sie ihre Gedanken mit der Frage, die niemand beantworten kann. 'Stellen Sie sich mal vor, wir würden jetzt alle sagen, wir schaffen das nicht. Und dann?'" , hat Jochen Arntz aus der DuMont-Hauptstadtredaktion gehört, die überdies eine "Netzschau" gestaltet hat. +++ "Rund 3,5 Millionen ARD-Zuschauer schalten den Talk ein" (tagesspiegel.de unter der Überschrift "Angela Merkels inoffizielle Regierungserklärung"). +++ "Anne Will beißt nicht mehr und die einzige, die sich in dem skurrilen Farb-Mix ihrer Studio-Kulisse (weinrot, orange, braun und blau) passend kleiden kann, ist Anne Will selbst" (Bela Anda von der Bild-Zeitung in seinem Newsletter, der online wohl garnicht zu haben ist ... ). +++

+++ "Überraschendes Kopfballtor einer Mannschaft, die 16:1 zurückliegt. Schlimmer noch, das ganze Datenschutz-Turnier findet auf einem Abhang statt ..." (Sascha Lobos SPON-Metapher zum EuGH-Urteil). +++ Breaking? "Frankfurt, 7. Oktober. Große deutsche Unternehmen gründen nach Informationen dieser Zeitung ein eigenes strategisches Forschungsinstitut, um den Vereinigten Staaten und China technologisch verstärkt Konkurrenz zu machen. Das 'Digital Society Institute' soll an der privaten Berliner European School of Management and Technology entstehen und sich nicht nur Internet-Themen widmen. Die DAX-30-Konzerne, die sich daran beteiligen, wollen sich gesellschaftlich engagieren, politische Themen ansprechen und sich am öffentlichen Diskurs beteiligen. ...". Diese Meldung steht unter auf der FAZ-Titelseite. +++

+++ "Gäbe es einen Preis für kunstfertig versteckte schlechte Nachrichten in Pressemitteilungen, könnte der Verlag Condé Nast sich gute Chancen ausrechnen", lobt die SZ-Medienseite diese Pressemitteilung, die die "erst vor einem Jahr so richtig gestartete deutsche Ausgabe" der Zeitschrift Wired betrifft. Sie "drosselt ab 2016" ihre "Erscheinungsfrequenz", dafür macht dann "der Copypreis ... einen kräftigen Sprung" (turi2.de). +++

+++ Der jüngste Rücktritt eines Sat.1-Geschäftsführers ist für wiederum Michael Hanfeld (FAZ) Anlass, den Privatsender mit Borussia Mönchengladbach zu vergleichen. +++ "Den größten Anteil an der aktuellen Misere hatte sicherlich das Reality-Spektakel 'Newtopia'" (Christian Meier in der Welt aus dem Springer-Konzern, in dem anfangs auch dieses "Newtopia" produziert worden war). +++ Nachfolger Kaspar Pflüger "war vor seinem Einstieg bei Sat.1 unter anderem Programmdirektor von RTL Kroatien" (dwdl.de). +++

+++ "Ab 2016 wird Peter Boudgoust, Intendant des SWR, neuer Arte-Präsident" (Arte-Pressemitteilung). Dass dieser schöne Titel auch nicht für sehr große Bekanntheit sorgt, belegt Boudgousts noch amtierende Vorgängerin. Véronique Cayla heißt sie. +++

+++ Komplexes, wichtiges Thema, bei dem man nie leichtfertig formulieren sollte: mobiles Internet. "Google will das mobile Surfen im Netz beschleunigen und Medienhäuser am Kuchen mitnaschen lassen" (Standard). +++ Die Vermutung (ndr.de), dass Google dadurch vielleicht verbündeten Zeitungsverlagen helfen will, die ihre Inhalte irgendwie auch durch Smartphonenutzer monetarisieren wollen, aber mindestens genau so den Konkurrenten Facebook (mit seinen "Instant Articles") und "Apple News" zuvorkommen möchte, scheint aber legitim. +++

+++ Im SZ-Feuilleton widmet sich Thomas Steinfeld der Konzentration von Verlagskonzernen in Italien. Dort "gehört bald alles der Familie Berlusconi", konkret die RCS Mediagroup (Rizzoli). "Damit entsteht ein Unternehmen, das etwa vierzig Prozent des italienischen Marktes für Belletristik und Sachbücher beherrscht und etwa dreißig Prozent des Marktes für Lehr- und Schulbücher. Ferner werden etliche Zeitungen – die Mailänder Tageszeitung Corriere della Sera zum Beispiel – und Zeitschriften zu diesem Konzern gehören." +++

+++ Den Deutschen Fernsehpreis gibt's in diesem Jahr zwar nicht, aber doch den Deutschen Fernsehpreis der Deutschen Akademie für Fernsehen. Die Nominierten nennt dwdl.de. +++

+++ Facebook setzt durchaus Mittel ein, um die Veröffentlichung von Texten über Themen, die Facebook nicht legitim erscheinen, zu verhindern. Das hat Elisa Makowski vom EPD erfahren, als sie versuchte, einen zeithistorischen Artikel über das KZ Bergen-Belsen bei Facebook zu posten. Dann hatte sie aber die Mailbox der schon legendären Tina Kulow sowie einen leibhaftigen deutschsprachigen Facebook-Mitarbeiter am Telefon. Fazit: "Die Medien brauchen Facebook, Facebook aber braucht niemanden" (epd medien). +++

+++ Huch, schon wieder ein Hitler-Foto. Aber im Bündel der TAZ-Kriegsreporterin, die vielleicht die die ersten Ankündigungsrunden von Nico Hofmanns Hitler-Serie nicht mitbekommen oder wieder vergessen hat (da diese Serie noch längst nicht ins Fernsehen kommt oder gedreht wird; wer dann den RTL-Hitler gibt, wird überhaupt der größte Meldungsrunden-Anlass werden ...)  geht ja alles ...
+++

+++ Außerdem ist das neue Twitter-Profilfoto des Chefredakteurs der Dresdner Neuesten Nachrichten, Dirk Birgel (@CRDNN), einen Blick wert. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.