Blöd angemacht vom Kioskbesitzer?
Spähexzesse und Landesverrat, "Durchstecher", Leaks und Leseräume in der US-Botschaft. Ein Brief von Sigmar Gabriel jetzt "exklusiv" neu im Internet. Die Digitale Agenda der Bundesregierung wird ein Jahr alt und gibt Anlass zu bitteren und noch bittereren Zwischenbilanzen. Außerdem: ein Testbericht zum Onlinekiosk namens Blendle.

Ein wenig zufrieden scheinen sie bei netzpolitik.org durchaus zu sein, dass der schwere Vorwurf des Landesverrats, kaum dass er nach langer Vergessenheit gegen den Blog erhoben wurde und mit viel medial erfreulichem Brimborium verpuffte, "an anderer Stelle wieder" auftaucht: an einer, an der die Chancen gut stehen dürften, dass er es mindestens bis in einen Gerichtssaal schafft. Immerhin war der nun angeklagte, anders als Markus Beckedahl und André Meister schon länger in Untersuchungshaft befindliche Markus R. Mitarbeiter des Bundesnachrichtendensts und für einen "eindeutigen Beleg US-amerikanischer Spionage auf deutschem Boden" verantwortlich - für einen kleinen Teil der "Spähexzesse der NSA und ihrer Partnerdienste", wie es an anderer Stelle heißt.

Dass der bisherige Generalbundesanwalt Harald Range so etwas gründlich ignorierte, trug dazu bei (Altpapier), seinen verblüffende Landesverrats-Klage gegen die Blogger umso absurder erscheinen zu lassen.

Wer genau Anklage erhoben hat? "Der Generalbundesanwalt" heißt es in der Originalquelle Spiegel Online ganz ohne Nennung eines Anwaltsnamens. Während auf generalbundesanwalt.de weiterhin Harald Range grüßt und sein Nachfolger noch nur designiert ist, nennt die früher erschienenen Pressemitteilung (presseportal.de, Rubrik "Blaulicht") der Behörde namens "Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof (GBA)" die Staatsanwältin Frauke Köhler.

Wem die nun vielleicht aufkommende Sache unangenehm werden könnte, schreibt die FAZ (S. 2):

"Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), dem das für Spionageabwehr zuständige Bundesamt für Verfassungsschutz unterstellt ist, hatte zunächst davon gesprochen, dass der Schaden durch die verratenen Informationen gering sei. Anfang des Jahres bestätigten deutsche Sicherheitskreise indes, dass R. eine Liste mit Namen von 3500 aktiven und ehemaligen BND-Mitarbeitern entwendet habe."

Wahrscheinlich wird de Maizière, dessen Ministerium netzpolitik.org nach der Rechtsausschuss-Sitzung am Mittwoch (Altpapier) vorwirft, die Strafanzeigen gegen das Blog "explizit gebilligt" zu haben, und der zurzeit ja auch in der Flüchtlingsfrage gefragt ist, zum damaligen Zeitpunkt aber nichts davon geahnt haben können.

[+++] "Die 'Durchstecher' ... können auf den Berliner Tischen tanzen", stand gestern in einem FAZ-Kommentar unter der Überschrift "Im Hohen Tollhaus", der Verständnis für Range, de Maizière und den ebenfalls weiterhin Verfassungsschutzchef Maaßen äußerte und mit Durchstechen das Rausgeben von vertraulich bis hoch geheim genannten Dokumenten an Medien meinte. Das für problematisch zu halten, ist aus Sicht der Behörden natürlich legitim. Nur sollten sie halt, wie Frank Lübberding neulich hier schrieb, nicht "sich selbst mit dem Gemeinwohl ... verwechseln".

In so einem Sinn durchgestochen wird weiterhin. Unklar aber, ob der Brief, den Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel an die Kommissarin ?ir Angelegenheiten des Handels, Cecilia Malmström, in der Rue de la Loi in Brüssel schreiben ließ, durchgestochen wurde. Jedenfalls prangt er nun "exklusiv" auf correctiv.org (das den Bericht aber an den Tagesspiegel weiter durchreichte).

Es geht darum, dass die EU-Kommission, die schon lange unter höchster Geheimhaltung mit den USA das umstrittene Freihandelsabkommen TTIP aushandelt, den Zugang für Parlamentarier zu Protokollen der laufenden Verhandlungen kürzlich (Altpapier) erschwert hat:

"Selbst für die Vertreter der einzelnen Bundesministerien ist die Benutzung der Leseräume sehr aufwändig. In einer Pressekonferenz am Mittwoch konnte kein Ministerium Auskunft darüber geben, wer aus den jeweiligen Häusern bereits die TTIP-Leseräume betreten hat. Die Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums teilte lediglich mit, dass die Fachministerien insgesamt 139 Personen für die Leseräume der Berliner US-Botschaft angemeldet hätten. Für Regierungsvertreter sind die Leseräume nur zweimal pro Woche für jeweils zwei Stunden geöffnet. Es dürfen nicht mehr als zwei Personen gleichzeitig die TTIP-Dokumente einsehen. Nach Angaben des Wirtschaftsministeriums wurden diese Öffnungszeiten mit etwa 30 Besuchen 'fast durchgängig belegt'."

Versteht sich, dass Tilo Jung diese Pressekonferenz am Mittwoch gefilmt und als vielleicht lehrreiches Entertainment auf drei Minuten Youtube verdichtet hat. Der Grund für die Erschwernis, darauf ist correctiv.org, das sich nun übrigens "Recherchezentrum" nennt, mit Recht stolz, sind seine eigenen TTIP-Leaks. Die Frage, inwieweit Freihandel, wenn seine Bedingungen von ausgebufften Lobbyisten, deren Namen, Hintergrund und Zahl niemand genau kennt, unter strengster Geheimhaltung so ausgehandelt werden, dass am Ende Parlamente allenfalls über das Gesamtpaket abstimmen dürfen, zum Gemeinwohl beiträgt, gehört auch auf die lange Liste drängenderer Fragen.

Die Frage nach Gabriels Brief gehört nicht darauf. Der SPD-Chef dürfte nichts dagegen haben, dass alle lesen, was seine Leute nett diplomatisch über "neue Herausforderungen", vor denen auch die Handelspolitik stehe, schrieben. Sein Vorschlag "einer sicheren Datenbank" dürfte Cecilia Malmström höchstens einen Seufzer entlockt haben. Schließlich sind die Verhandlungspartner aus den USA dafür bekannt, alle Datenbanke der Welt zu knacken oder sowieso zuhause gespeichert zu haben, und Deutschland dafür, derzeit von wenigem weniger zu verstehen als von sicheren Daten.

[+++] Gerade wurde das Computersystem des Bundestags zur Generalüberholung nach dem Großangriff abgeschaltet (heise.de). Das lenkt ein bisschen auch die Aufmerksamkeit auf die Digitale Agenda der Bundesregierung, an der als Minister außer Gabriel und de Maizière auch noch Alexander Dobrindt, der mit der Maut, beteiligt sind.

Mit digitale-agenda.de besitzt sie einen vorbildlichen, noch vor vier Wochen aktualisierten Internetauftritt (wer unter "Informiert bleiben" aufs Twitter-Logo klickt, landet direkt bei @RegSprecher Steffen Seibert). Nun wurde sie ein Jahr alt, was zu ein paar Würdigungen von interessierter Seite führt. Diplomatisch am Positivsten sehen sie Eco (" Die Bundesregierung macht Fortschritte bei der Umsetzung ihrer Digitalen Agenda, aber sie wird einen Zahn zulegen müssen ...") und Bitkom ("Nach einer Analyse des Digitalverbands Bitkom wurden von 121 Einzelmaßnahmen 36 umgesetzt, bei 60 hat die Arbeit begonnen") -  also Branchen- bzw. Lobbyverbände, deren Mitglieder sicher auch bei den TTIP-Verhandlungen dabei sind, teilweise auf beiden Seiten.

Erheblich skeptischer sieht es das wohl einzige Nachrichtenportal, das die Agenda einer ausführlichen Würdigung unterzieht.

"Beispiel Forschung. Ein in der Agenda angekündigtes öffentlich finanziertes Forschungsinstitut soll mit einem 'interdisziplinären Ansatz die ethischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und partizipativen Aspekte von Internet und Digitalisierung erforschen'. Bildungsministerin Johanna Wanka hatte zwar für den Sommer einen Wettbewerb der Hochschulen angeregt, dennoch fehlt es noch immer an konkreten Maßnahmen aus dem Bundesministerium für Bildung und Forschung. So wird es voraussichtlich auch 2017 in Deutschland noch keine öffentlich finanzierte Forschungsinstitution geben, die sich mit den Folgen der Digitalisierung befasst. Dass diese Aufgabe bisher maßgeblich von einem durch Google privatwirtschaftlich mitfinanzierten Institut übernommen wurde", diesem "erscheint im Rahmen der politischen Debatte umso paradoxer, wenn man den gleichzeitig von der Politik unterstützten Kampf deutscher Zeitungsverleger gegen den Internetkonzern betrachtet",

schreiben Christian Heise und Vera Bunse auf zeit.de. Und bei anderen Beispielen, die inhaltlich  noch drängender sind, sehen es die beiden nicht besser.

Eine dennoch noch erheblich bitterere und ausführlichere Bilanz, die "insgesamt so gut wie keine nennenswerten Fortschritte, dafür aber viel Stillstand und einige verheerende Rückschritte" konstatiert, gibt es auf digitalegesellschaft.de als 33-seitiges PDF. Darin findet sich auch das eingangs erwähnte Wort "Spähexzesse".

Da handelt es sich um "den Digitale Gesellschaft e.V.", wie die schon mehrfach erwähnten, führend daran beteiligten Leute von netzpolitik.org den Verein nennen - und nicht direkt um die digitale Gesellschaft, die es Lutz Hachmeister zufolge gar nicht gibt.


Altpapierkorb

+++ Kennen Sie das auch, "die Gefahr, dass einen der Kioskbesitzer blöd von der Seite anmacht"? Nicht so? Markus Böhm, der Kioskforscher, kennt sie jedenfalls und baut darauf seinen Spiegel Online-Testbericht des niederländischen, inzwischen von Springer und der New York Times mit besessenen Onlinekiosks Blendle auf, der Printerzeugnisse artikelweise entbündelt und gerade beta in Deutschland startet (siehe zuletzt dieses Altpapier). Der Bericht ist für SPOn-Verhältnisse bemerkenswert subjektiv (22-mal "ich", "mich" und "mir", wenn ich mich nicht verzählt habe) aber informativ-nutzwertig ("Aktuell gibt es etwa die aktuelle 'Stern'-Titelgeschichte und ein 'Brigitte'-Ernährungsdossier für jeweils 65 Cent. Die 'Seite Drei'-Reportage der 'Süddeutschen Zeitung' kostet 79 Cent, eine 'Welt'-Kurzmeldung 15 Cent. Kauft man einen Einzelartikel, sinkt auch der Gesamtpreis des Hefts, für den Fall, dass man anschließend gern doch den Rest hätte") und durchaus lesenswert. Dass SPON allerdings ein paar Links ins eigene Archiv setzt, aber keinen einzigen zu blendle.com/de, obwohl dort mitnichten eine exklusive Pressevorführung läuft, sondern eben eine öffentliche Betaphase, ist auch aufschlussreich, auch für die digitale Gesellschaft in Deutschland . +++

+++ Ein Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg könnte dramatische Folgen für alle Medien mit Archiv haben, wenn es "der Bundesgerichtshof, dessen Pressesenat ... schon manche Urteile aus Hamburg kassiert hat", nicht revidiert. Das Hamburger Gericht habe "die 'Süddeutsche Zeitung' dazu verurteilt, dass frühere Artikel über ein Strafverfahren auch auf ihrer eigenen Internetseite nicht mehr auffindbar sein dürfen, wenn man den Namen des damaligen Beschuldigten eintippt", meldet die FAZ-Medienseite im Rahmen einer Randspaltenglosse. Erstritten wurde es von einem "namhaften Kommunikationsberater, der noch immer höchst aktiv im Geschäft ist". Die FAZ gibt Hinweise zur Entschlüsselung und gelangt am Ende der Glosse zu Stalin, der "bekanntlich die Bilder seines Rivalen Trotzki von Fotos wegretuschieren" ließ, "nachdem er ihn erst ins Exil vertrieben hatte und dann ermorden ließ." +++

+++ Die Lage in Österreich: Chefredakteur Florian Klenk von der Wiener Stadtzeitung Falter hat gegen einen anonymen Poster, der ihm "mit Knieschüssen drohte, Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattet" (Standard). Ein Politiker gab ihm "selbst die Schuld an der Bedrohung " und riet "ihm implizit ..., die kritische Berichterstattung sein zu lassen, denn das hat er jetzt davon!" (nzz.at). Zum selben Zusammenhang gehören außerdem Kronenzeitungs-Kolumnen mit "Nestbeschmutzer"- und schlimmeren Vowürfen des Journalisten Michael Jeannée, die wiederum der Standard hier in Form von getwitterten Fotos in seinen Hintergrundbericht einbettet. Ursprünglich ging es um Polizeigewalt und Flüchtlinge. +++

+++ Auf der SZ-Medienseite zeigt sich Hans Hoff von der "im Privatfunk gestählten", "furchtlosen" WDR-Rundfunkdirektorin Valerie Weber und davon, wie sie "am gewohnten Programm rüttelt", angetan und schützt sie schon mal vor Protesten, die kommen werden, "vor allem, weil im Rundfunkrat viele Landespolitiker sitzen, die fürchten, mit ihrem Tun nicht mehr so oft im Programm vorzukommen." +++ Außerdem gewährt David Denk unter der Überschrift "Operette, halbnackt" Einblicke in die Welt des Fernsehsports Wrestling. +++

+++ "Von September an wird wieder gezeigt, was neu produziert wurde, und wie immer ist viel Konfektionsware darunter. Noch aber ...", leitet Heike Hupertz ihre FAZ-Empfehlung des heutigen Arte-Spielfilms "Nachspielzeit"  ("Kompromissloser als vieles, was sonst im Fernsehen zu sehen ist, mag der Film nicht perfekt sein, aber er ist engagiert. Und das ist selten"). +++ Parallel zum Bewerben der Neuproduktionen hagelt es Personalien: "Jan Böhmermann (34) und Olli Schulz (41) bekommen im ZDF-Nebenprogramm eine neue Talkshow. Die Sendung werde 'Schulz & Böhmermann' heißen und Anfang 2016 in ZDFneo zu sehen sein" (sueddeutsche.de). Sie kommt aus dem Radio sowie, zumindest firmensitzmäßig,  aus Köln (Kölner Stadtanzeiger). +++

+++ Außerdem: Es gibt endlich wieder einen neuen "Tatort"-Superstar (hier, da, dort und überall sonst auch). "Ob Freiburg sich tatsächlich durchsetzt" im Rennen südwestdeutscher Städte um einen festen "Tatort"-Schauplatz, "ist laut SWR aber unklar" (Tsp.). +++

+++ "Pfui! Und was kommt als nächstes? Nazi-Unterricht? In dem die Kinder etwas übers Dritte Reich lernen?" (zumindest, wenn die Bild-Zeitung einem interviewten Professor die Forderung nach "Porno-Unterricht" in den Mund legt; bildblog.de). +++

+++ Die Karriere des nun bei Google ganz oben angelangten einstigen Bertelsmann-AOL-Managers Philipp Schindler (Altpapier gestern) würdigt nun auch onlinemarketingrockstars.de. +++

+++ "Die Zeit 'schlägt' im Tagesspiegel zurück. Beide Blätter sind verlegerisch miteinander verbunden, einer der Tagesspiegel-Herausgeber ist stellvertretender Chefredakteur der Zeit. Die Autorin des Textes im Tagesspiegel, Christiane Peitz, immerhin die Feuilleton-Chefin, also nicht irgendwer, schreibt selbst regelmäßig in der Zeit...": Da greift, den "gewöhnlichen Mainstream-Journalismus" kritisierend, Franz Sommerfeld, früher u.a". Chefredakteur verschiedener Zeitungen und Vorstand der Mediengruppe M. DuMont Schauberg bis zum Ruhestand",  auf carta.info in die deutsche  Ai-Weiwei-Feuilleton-Debatte ein. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.