Facebook ist kein Naturereignis
Anja Reschkes "Tagesthemen"-Kommentar gegen Hass-Posts schlägt Wellen, nur bei Facebook nicht so. Der Bundesinnenministerium steigt nun auch tiefer in die Netzpolitik-Landesverrats-Affäre ein. Das Bundesamt für Verfassungsschutz macht auch Pressearbeit. Und was sagt Harald Range?

Die beste Antwort auf die Frage, was genau es hilft, wenn die zum Glück vielen, die keine hasserfüllten Meinungen über Flüchtlinge vertreten, einander in den sogenannten sozialen Medien noch mal selbst versichern, dass ihnen ... kann man sagen: "weniger ins Gehirn geschissen" wurde (schleckysilberstein.com)? Besser nicht oder gerade doch? ...  ... Die beste Antwort jedenfalls gibt Anja Reschke selbst:

"Ich wollte mal wieder das Gefühl haben, dass die Masse doch noch auf der richtigen Seite steht",

sagte sie im tagesschau24-Interview, das tagesschau.de hier zeigt. Es handelt sich um das obere Video. Das untere ist der Original-Kommentar der Chefin des ARD-Politmagazins "Panorama" in den ARD-"Tagesthemen" vom Mittwochabend, der auch zu einem neuen "Aufstand der Anständigen" aufruft.

Das Video wurde "bei Facebook ... bis zum frühen Donnerstagmittag mehr als 2,6 Millionen Mal aufgerufen. Zahlreiche Nutzer auf Facebook und Twitter lobten Reschke und äußerten Zustimmung. Mehr als 68.000 Facebook-Nutzer gaben dem Beitrag ein 'Like', mehr als 77.000 User teilten das Video", meldeten die Kollegen hier nebenan bereits gestern mittag.

Ja, es hatte sich sogar "vorab schon in Windeseile im Netz verbreitet" (dwdl.de). Und solche Zahlen sinken ja niemals, sondern steigen natürlich. Derzeit zeigt Facebook über 4,8 Millionen Aufrufe an, Googles Youtube dagegen nicht mal 0,2 Millionen (und sowohl über diese vergleichsweise sehr niedrige Zahl, als auch darüber, dass Youtubes bequemer Autovervollständigungs-Service, wenn man ins Suchfenster "Anja Reschke" eingibt, als dritte Suchbegriffe "hot", "beine" und "leder" vorschlägt, könnte eigentlich auch dringend geschrieben werden ...).

Es gab und gibt viel gute Presse, die sich online die Möglichkeit zunutze macht, das Video einzubinden. "Klare Worte zur rechten Zeit", loben etwa die Berliner Zeitung und die Rubrik quelleinternet.faz.net, "mutiger ARD-Kommentar", meedia.de und regte so auch den scharfen Öffentlich-Rechtlichen-Kritiker Hans-Peter Siebenhaar vom Handelsblatt zu einem "Glückwunsch ARD!" an.

"Ihr Kommentar richtet sich also nicht an die vernagelten Fremdenfeinde. Sondern an jene, die vom rechten Meinungsfuror eingeschüchtert sind. Denn mitunter scheint es, als hätten die Rechten das Feld der öffentlichen Meinung besetzt",

erklärt Anja Maier bei taz.de.

Was Maier meint, beschreibt gut fr-online.de unter der Überschrift "Anja Reschke und die Hater". Dort kuratiert und verlinkt Monika Gemmer sozusagen die bei Facebook und anderso eingegangenen Kommentare zu Reschkes Kommentar, um die sie ja auch ausdrücklich gebeten hat.

Dass moderne Onlinemedien mit so was ganz anders umzugehen verstehen (vice.com: "Wir haben die Kommentare gelesen und sie nach Dummheit sortiert"), ist nicht erst seit den Perlen aus Freital nicht neu, aber natürlich immer auch erschreckend aufschlussreich. Der buzzfeed.de-Chefin Juliane Leopold hat sueddeutsche.de wohl ungefähr die Frage gestellt, die ich oben auch stellte.

"Es reiche nicht, auf Facebook gegen Ausländerfeindlichkeit zu sein. 'Ein Shitstorm gegen Nazis im Netz wird keinen Rassisten bekehren', sagte Leopold. Leopold ist überzeugt, dass der Hass, der sich im Netz äußert, gesellschaftlich tief verwurzelt ist. 'Online-Phänomene gibt es nicht, es gibt nur die echte Welt. Das Internet macht nichts mit Menschen, was nicht schon vorher in ihnen war.' Ihre Prognose ist düster: 'Unser Problem ist, dass die Mitte der Gesellschaft sich nach rechts bewegt.' Zugleich sei es falsch, die Netz-Kommentare als repräsentativ anzusehen, sagt die Buzzfeed-Chefin. Eine Faustregel besage: 90 Prozent der Online-Leser bleiben passiv, 9 Prozent interagieren, indem sie den 'Gefällt mir'-Knopf drücken oder den Beitrag weiterleiten. Nur 1 Prozent der Leser kommentiert - und von denen vor allem jene, die sich unverstanden fühlen."

Der beste Kommentar zum Reschke-Kommentar und den Kommentar-Kommentaren erwähnt Anja Reschke nur am Rande. Thomas Lückerath beschäftigt sich bei dwdl.de vor allem mit dem Medium, bei dem das Kommentar-Video mit weitem Abstand am meisten angesehen und kommentiert wurde, und das deutsche Onlineredakteure zurzeit vor allem als Naturereignis betrachten, mit dem man eben so umgehen muss, dass der meiste Traffic rausspringt, mit Facebook:

"Das größte soziale Netzwerk der Welt agiert gänzlich verantwortungslos und toleriert trotz Kenntnis gewaltverherrlichende und/oder fremdenfeindliche Postings auf seinen Seiten. Ich erwarte ja nicht einmal, dass Facebook selbst proaktiv im Blick hat, was auf seinen Seiten so alles geschrieben wird - wir wären schnell bei einer Diskussion über Zensur. Aber ich erwarte, dass man verantwortungsbewusst handelt. Und das tut Facebook nicht."

Tatsächlich ist Facebook ja ein sehr erfolgreich profit-orientierter US-amerikanischer Konzern, der ein bisschen Personal auch in Europa beschäftigt, in Irland, wo er das dortige bisschen Datenschutzrecht EU-weit in Anspruch nimmt, und auch hierzulande, wo er Werbeeinnahmen in vermutlich erheblichem Ausmaß generiert. Lückerath nennt und zeigt dann sogar Facebooks "Country Director DACH (Deutschland, Österreich, Schweiz)", Marianne Dölz, die auf dem Promofoto sehr eiskalt aussieht, sich aber um Hass-Äußerungen, selbst wenn einer wie Lückerath alle Facebook-Spielregeln einhält, wohl wenig schert.

"Wer auch immer zuhause in Jogginghose am Kacheltisch sitzt und hasserfüllt seine Kommentare in die Tastatur hämmert - er oder sie füllt technisch gesehen erst einmal ein Eingabeformular auf einer Website aus",

lautet noch ein starker dwdl.de-Satz.

Wer, mit Recht natürlich, wortgewaltig gegen Hass-Äußerungen auf Facebook einschreitet, sollte sich dann auch Bereitschaft mitbringen, sich mit Facebook selbst anzulegen, auch wenn das Reichweite kostet.

[+++] Und wer gegen vermeintlichen Landesverrat vorgeht, sollte auch Bereitschaft zeigen, sich mit aus- und inländischen Geheimdiensten anzulegen, die erst recht im Verdacht stehen, auf womöglich ungesetzliche Weise demselben Land, seinen Bürgern und (in Deutschland wichtig) seinen Unternehmen zu schaden. Dann kämen Schritte gegen vermeintlichen Landesverrat zumindest weniger unglaubwürdig rüber.

Damit also zur Netzpolitik-/ Verfassungsschutz-Sache, in der weiterhin viel los ist. Vielleicht die wichtigste Wendung: Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière steckt jetzt auch in dieser wieder mittendrin.

"Anders als bisher dargestellt, wusste das BMI auch, dass der Generalbundesanwalt ein Ermittlungsverfahren wegen Landesverrates gegen die Journalisten Markus Beckedahl und Andre Meister eingeleitet hatte. Das dem BMI unterstehende Bundeskriminalamt (BKA) habe die zuständige Fachabteilung schon im Juni informiert, dass es vom Generalbundesanwalt (GBA) mit den konkreten Ermittlungen wegen Landesverrats beauftragt worden sein ...",

meldete zunächst tagesschau.de. Eine "Richtigstellung" dazu hat das BMI wohl nicht ins Internet gestellt, sondern per schwerer verbreitbarem Fax (das Tilo Jung aber bei Facebook gepostet hat) versandt. "Das Innenministerium hat gelogen und war über #Landesverrat umfassend informiert", meldet netzpolitik.org im Rahmen seiner Berichterstattung über die "größer werdende Staatsaffäre ..., die nach uns benannt ist."

Beinahe könnte man leicht gespannt sein, ob de Maizière, der ja schon einige Turbulenzen überstanden hat, auch in dieser Sache zum richtigen Zeitpunkt über das Entscheidende noch nicht informiert gewesen ist. Rücktrittsforderungen der kleinen Opposition gegen die Große Koalition gehen ja eigentlich immer.

Indes hat FAZ-Redakteur Reinhard Müller, dem in derselben Sache gerade ja eine Altpapier-Überschrift gewidmet war, mit dem bereits gegangenen Generalbundesanwalt gesprochen (Online-Kurzfassung). "Wunderbarer Abschied - Ranges Entlassung bewegt die deutsche Justiz", lautet die erheblich erhabenere Überschrift in der Print-FAZ. Harald Range "wirkt ... aufgeräumt, wenn auch nicht gänzlich unversehrt", beruhigt Müller und hat eine neue Info: Der noch ungenannte externe Gutachter, dem Range die Frage, ob überhaupt ein Staatsgeheimnis vorlag, sei mit seinem Gutachten "so gut wie fertig" gewesen und zur Antwort: ja, ein Staatsgeheimnis, gelangt.

Dem von Range zumindest gewünschten Eindruck, er habe die Unabhängigkeit der Justiz hochhalten wollen, widerspricht indes bei in einem zeit.de-Gastbeitrag über "die historisch gewachsene Gewaltenteilung in der Justiz" der Rechtsanwalt Gerhard Strate. Dieser Gewaltenteilung zufolge sind nämlich Staatsanwalte mitnichten unabhängig von politischen Dienstherren, und sollten es auch nicht sein: Etwa der Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags im "Fall des siebeneinhalb Jahre in der Psychiatrie verschwundenen Gustl Mollath"

"war aber nur möglich, weil letztlich die Justizministerin für all das einzustehen hatte. Die stand im Hagel der Öffentlichkeit. Was hätte stattdessen wohl ein 'unabhängiges' Aufsichtskollegium von Richtern und Staatsanwälten bewirkt? Ich wette: nichts."

Noch im Amt, bloß "angezählt": Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen. Konrad Litschko zitiert in der TAZ aus einem frisch auf die Subseite verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/interviews gestellten Maaßen-Interview mit dem VBOB-Magazin (dem Magazin des Verbands der Beschäftigten der obersten und oberen Bundesbehörden). Noch besser zu finden auf verfassungsschutz.de ist ein Maaßen-Interview der Jüdischen Allgemeinen "über antisemitische Bedrohungen, NPD-Verbot und Vertrauen in seine Behörde".

Maaßen, der im Reschke'schen Aufstand der Anständigen ja auch auf der richtigen Seite steht (wie etwa dieser Artikel aus dem Ostbayerischen zeigt, den der schleswig-holsteinische SPD-Mann Ralf Stegner noch mal in den Diskurs speiste, weil er selbst kürzlich auch schon zu so einem Aufstand aufgerufen hatte ...), macht also auch eigene Öffentlichkeits- und Pressearbeit, und das nicht so ungeschickt.

Dann war da noch die überflüssige Nickeligkeit zwischen der FAZ und netzpolitik.org (Altpapier gestern), wer zurzeit eigentlich genau Journalist ist und wie sehr er sich inhaltlich engagieren darf. Dazu hat Petra Sorge (cicero.de) eine instruktive Übersicht verfasst und eine Stellungnahme im Namen einer schon erwähnten Respektsperson eingeholt:

"Eine Stellungnahme erbat Cicero auch vom Bundesinnenministerium. Dessen Chef Thomas de Maizière steht in der Kritik, weil der ihm untergebene Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen die Strafanzeige wegen Landesverrats gestellt hatte. Die Antwort des Ministeriumssprechers ist eindeutig: Zwischen Journalisten, Aktivisten und Bloggern mache man bei der Beantwortung von Fragen 'null Komma null Unterschied'."

Um nun nicht vor lauter Rücktrittsforderungen, Analog-Digital-Kleinklein usw. das Wichtigere nicht aus den Augen zu verlieren, hilft der inzwischen frei online vorliegende Jacob-Appelbaum-Beitrag aus der aktuellen Zeit (ausführlicher und englisch wiederum bei netzpolitik.org):

"... in Amerika ist die Situation für unabhängige Journalisten, die auf dem Gebiet der "nationalen Sicherheit" arbeiten, unerträglich geworden. Man muss bei Gesprächen vorsichtig sein, hat Angst vor Spitzeln, muss davon ausgehen, dass Wohnungen und Telefone abgehört und Autos mit Peilsendern versehen werden. Gegen fast jeden, der als Journalist bei WikiLeaks mitarbeitet, mich eingeschlossen, wird wegen Spionage ermittelt. Wir gelten als Landesverräter, einflussreiche Politiker fordern für meine Kollegen und unsere Quellen den Tod. Ziel dieser Einschüchterungsversuche ist es, albtraumhafte Verhältnisse zu schaffen und uns auf diese Weise mundtot zu machen. Die deutschen Geheimdienste wollen auch hierzulande ein solches Klima schaffen ...",

schreibt Appelbaum.
 


Altpapierkorb

+++ Der "Debatte um diese Affäre merkt man die Sommerpause der Talkshows in ARD und ZDF an. Es fehlt das Forum, wo sich die Politik ihren Kritikern stellen muss. Sie kann es daher eher gemächlich angehen lassen", schreibt Altpapier-Autor Frank Lübberding - in der faz.net-Nachtkritik zur dritten Ausgabe von Dunja Hayalis ZDF-Sommerpausen-Show, deren erste beiden Ausgaben die neu erschienenen konfessionellen Mediendienste besprechen. Ich selbst fand sie für epd medien nicht so gelungen. "Ein gelungenes Experiment", findet dagegen Harald Keller in der Medienkorrespondenz (und steht frei online). +++

+++ Die Zeitung mit dem schönen Titel Freies Wort berichtet online unfrei, das von der russischen Regierung finanzierte Portal rtdeutsch.com freut sich frei online darüber, dass die ansonsten wenig beachteten Thüringer Landesmedienwächter dem Privatsender Salve TV die Ausstrahlung der RT-Sendung "Der fehlende Part" gestattet hat. Die FAZ, die sich länger schon mit diesem Salve TV befasst, zitiert heute dazu auch noch aus einer "gleichermaßen konstruiert-seriös wie trollig anmutenden Pressemitteilung aus Moskau", die hier bei prnewswire.com zu haben ist. +++

+++ "Die 'Bild'-Leute wissen, wie mächtig Bilder sind", schreibt Stefan Niggemeier mit Recht. Deswegen heißen ihre Medien ja auch so (und sollte man besser "Bild-Zeitung" statt "die Bild" schreiben). Und dieser "'Bild'-Zeitung ist dieses bewusste Zurücktreten und Zweifeln naturgemäß fremd. Sie zelebriert jede neue Gräueltat, jedes besonders abscheuliche Video, nicht nur in großen Buchstaben, sondern auch in großen Bildern und ausführlichen Videosequenzen. Sie berichtet nicht nur, was ISIS tut, sie zeigt es auch - naturgemäß zum ganz überwiegenden Teil mit den Aufnahmen, die der IS selbst davon angefertigt hat, genau zu dem Zweck, dass sie größte weltweite Verbreitung finden. ... ... Wenn der IS ein Werbebanner gestaltet hätte, es hätte vermutlich kaum anders ausgesehen und der Slogan ähnlich gelautet ('Jetzt auch auf deutsch!')" wie Bild-Zeitungs-Berichte über ISIS-Werbung. Dieser Artikel ist Teil einer Auseinandersetzung, in der Julian Reichelt gar "das Erbe von @niggi" beschwor und gegen bildblog.de wenden wollte ... +++

+++ Wer oben den Link zur Berliner Zeitung geklickt hat, hat gesehen, dass bei DuMont inzwischen Onlineredakteure ausführlich Onlinevideos in Textform beschreiben müssen. Nun wird umorganisiert, bald "soll konzernweit die Trennung von Print- und Online-Redaktion (wieder) aufgehoben werden", berichtet Marvin Schade bei meedia.de (und erinnert daran, wann sie eingeführt wurde). +++

+++ Außerdem in der neuen MK: Altpapier-Autor Artes René Martens über Artes noch gut zwei Wochen laufenden "Summer of Peace" und die am Sonntag bevorstehenden Doku "Peace' n' Pop". +++ Sowie ein guter Überblick über die Lage der BBC. Obwohl das Regierungspapier dazu optimistisch "Grünbuch"/ "Green Paper" betitelt ist, ist sie bekanntlich alles andere als gewiss. +++

+++ In der aktuellen epd medien fordert Domik Speck: "Es ist höchste Zeit, dass Verfassungsschutz und Bundesanwaltschaft in der digitalen Moderne ankommen". +++ Und beklagt Martin Meuthen, wie sehr die Initiative namens "Open ARD ZDF" eingeschlafen ist (siehe netzpolitik.org 2013). +++

+++ Der Tagesspiegel hat ein Pro & Contra zur Frage aufgesetzt, ob öffentlich-rechtliche Sender, kurz bevor wieder die Saison der vielen abendlich live gezeigten und hinterher ausführlich besprochenen Fußballspiele beginnt, auch schon Fußballfreundschaftsspiele live zeigen und ausführlich besprechen sollten. +++

+++ Und noch bei dwdl.de: personelle Konsequenzen, die die Bavaria aus Kartellamtsvorwürfen (und -razzien) ziehen wollen soll. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.