Kleine Blogger, Großverlage und ihre Keulen
Rücktrittsforderungen, jetzt auch gegen denselben Amtsträger aus ganz unterschiedlichen Richtungen; alte Rechnungen zwischen Analog- und Digitalmedien; ein Abgang, der zumindest in der eigenen Filterblase viel her macht: Der Medienfreiheits-Diskurs ist schon wieder im deutschen Medien-Alltag angekommen. Außerdem: Die Funkes mit dem eher schlechten Ruf spielen darin nun auch eine Rolle. Und die Bild-Zeitung mit dem noch schlechteren?

Wie prophezeite Robert Ide, die aufgekratzte Miniteilzeit-Urlaubsvertretung des Morgen-Newsletterers Lorenz Maroldt, schon am Montag?

"Wegen der Maaßen-Überwachung in Deutschland bewirft sich nun die halbe Bundesregierung mit giftigem Datenmüll. Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen verteidigt unbeirrt verwirrt seinen Insgeheimdienst. Die in Anti-Terror-Ermittlungen geratenen Journalisten vom Rechercheportal 'Netzpolitik.org' gestehen: 'Wir mussten Landesverrat erst googeln.' Am Sonntagabend ließ noch Generalbundesanwalt Harald Range, der den umstrittenen Fall erst aufnahm und dann ruhen ließ, wissen, die ganze Aufregung habe sich schon vor zweieinhalb Monaten abgespielt - intern, und Justizminister Heiko Maas (SPD) habe alles gewusst. Derweil meint Innenminister Thomas de Maizière (CDU), er habe gar nichts mitgekriegt. Wer fragt jetzt die NSA, wie es wirklich war?"

In genau diesem Stadium bewegt die ganze Sache sich nun. Markus Beckedahl gesteht immer noch, erst mal gegoogelt zu haben (Standard), obwohl gerade Blogs wie netzpolitik.org doch die NSA-Selektorenliste (in der "Landesverrat", falls nicht seit eh und je enthalten, der höchste Neueinsteiger der Woche sein dürfte) bekannt gemacht haben. Wenn, dann duckduckgo-en Sie solche Begriffe besser!

Bundesminister Maas wird von unterschiedlichen Seiten attackiert. Einerseits erwartungsgemäß von denen, die die Behörden Verfassungsschutz und Generalbundesanwaltschaft "blind, ja man muss schon sagen ... blöde" nennen und außer dem, ähm, "Bauern-" (Altpapier gestern) auch noch ein richtiges Opfer wollen. "Vertuschung und Verantwortungsverschiebung" könnten den "Anfangsverdacht" gegen Maas bilden, argumentiert Jochen Bittner bei zeit.de.

Andererseits wär da der Verdacht der "Strafvereitelung im Amt", wie der Tagesspiegel enthüllt. Die Staatsanwaltschaft Berlin ermittele aufgrund mehrerer Anzeigen, deren Spur vor allem zur Organisation "Verein der Bundesrichter und Bundesanwälte des BGH" führt. Diese erklärte, "es gebe 'Anhaltspunkte für eine rechtswidrige Behinderung der Ermittlungen des Generalbundesanwalts, die bis hin zu dessen Entlassung geführt hat. Es ist der Eindruck entstanden, dass in die laufenden prozessordnungsgemäßen Ermittlungen eingegriffen wurde, um ein bestimmtes - politisch gewolltes - Ergebnis zu erreichen, und zwar durch eine gezielte Steuerung der Beweisaufnahme ...'"

Ja, in der Bundesjustizhauptstadt Karlsruhe ereigneite sich Nie-da-gewesenes:

"Er wurde gefeiert. Es gab Beifallsstürme. Range hatte noch kein Wort gesagt, da klatschten sie schon. Auch die wissenschaftlichen Mitarbeiter, die Sekretärinnen bejubelten ihn",

berichtet Hans Leyendecker in der SZ von einer "Rebellion gegen Berlin, gegen den Justizminister", als sei er dabei gewesen.

Auch wenn Heribert Prantl das im S. 4-Leitartikel ebd. überhaupt nicht so stehen lassen kann, als Höchststrafe gleich im ersten Satz den Plusquamperfekt rausholt und daran erinnert, bei welchen sehr viel besseren Rebellions-Gelegenheiten Harald Range versagt hatte: Der Bundesanwalt, "der in der Behörde den Spitznamen 'Opi' hatte" (Standard, nun in einem Kurzporträt des Nachfolgers) und mit 67 ja auch schon vor zwei Wochen dem Ruhestand entgegensah, hat sich einen Abgang verschafft, der ihm zumindest in der eigenen Community und Filterblase, die Prantl gewiss auszublenden versteht, Nachhall gibt.

Den Minister Maas wiederum kritisieren zwei ganz unterschiedliche Seiten, was in einer Gesellschaft, in der die meisten Wahlen in der Mitte gewonnen werden, auch nicht das Schlechteste ist. (Wird er am Ende noch Kanzlerkandidat? Zumindest, um die Zeit bis in die 20er Jahre zu überbrücken, in denen die SPD vielleicht wieder den Kanzler stellen könnte?)

Volles Vertrauen spricht Maas indes die FAZ aus, deren Günter Bannas bei der Gelegenheit den Ministerkollegen Thomas de Maizière in denselben Blickpunkt rückt und zugleich das in manchen Ressorts bemerkenswert schlichte FAZ-Weltbild elegant beiläufig weiterverbreitet:

"Das Vorgehen seines ihm unterstehenden Bundesamtes für Verfassungsschutz, die Keule 'Verrat von Staatsgeheimnissen' gegen kleine Blogger und nicht gegen einschlägig bekannte Großverlage einzusetzen, war nicht gerade Ausdruck von Heldenmut und Weitsicht"

Jene überkommene FAZ-Arroganz, der sich im Allgemeinen gut mit der von Juliane am Dienstag hier formulierten Haltung, dass sie "aus dem Jahr 1995 abgeholt werden möchte", begegnen lässt, zieht anderswo natürlich heftigere Reaktionen nach sich. "Die FAZ ist eines der wenigen Medien, die sich in der Netzpolitik-Affäre nicht solidarisch zeigt", schimpft Mikael in den Fahrt (metronaut.de), allerdings wegen dieses Artikels, der sich zwar erwartungsgemäß ärgert, dass nun "die Netz-Aktivisten besser ... als je zuvor" dastehen, eigentlich aber eine Allerwelts-Zusammenfassung für ältere Zeitgenossen darstellt, was netzpolitik.org ist. Der allerdings von jüngeren FAZ-Leuten, die auch wissen, was online geht, dennoch als "überfällige Analyse" angepriesen wurde.

So schön es ist, dass der "Landesverrats"-Vorwurf sich so rasch selbst erledigt hat und in Deutschland derzeit keine Journalisten im Gefängnis sitzen, die unbedingt der uneingeschränkten Solidarität aller anderen Journalisten und überhaupt aller bedürften, so schade ist es, dass die davon angestoßene Grundsatzdiskussion schon wieder zum vorhersehbaren, kleinlichen Aufrechnen jeweils für falsch gehaltener Ansichten (inklusive des uralten wahlkampftaktischen Mittels der Rücktrittsforderungen als wichtigsten Konsequenzen) wird und wichtigere, komplexe Fragen übertönt. Nur zum Beispiel die nach den Selektoren.

[+++] "Range-Entlassung reicht Netzpolitik-Blogger Beckedahl nicht", meldete auch derwesten.de gestern mittag. Das ist interessant, weil im Onlineportal der WAZ-Zeitungen aus der Funke-Mediengruppe eine durchaus wichtige Meldung in eigener Sache, die auch sehr gut "zur Landesverrat-Debatte passt" (meedia.de), erst neun Stunden später erschien - lange, nachdem sie von Funke als Pressemitteilung veröffentlicht wurde und als Agenturmeldung rumging. Dabei klingt, was Klaus Brandt dann um 20.57 Uhr dazu bei derwesten.de publizierte, spektakulär:

"Wieder bekämpft die Bundesregierung eine journalistische Berichterstattung. Diesmal betroffen: die Funke Mediengruppe, zu der auch diese Redaktion gehört. Nach Androhung einer Zwangsvollstreckung hat Funke am Mittwoch Tausende Dokumente zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr aus dem Internet entfernt ..."

Diese Sache, die wie immer verlässlich auch netzpolitik.org vermeldet, ist inhaltlich komplex, weil es um Gefahren für Bundeswehr-Soldaten in Afghanistan geht, und juristisch kurios, weil das Verteidigungsministerium sich "nicht etwa auf einen Bruch der Geheimhaltung berufen" hatte, sondern aufs Urheberrecht, wie heute die SZ-Medienseite zusammenfasst. Onlinejournalistisch Fahrt gewann sie, als sich die nordrhein-westfälische Piratenpartei bzw. in Gestalt Marc Grumpy Olejaks ein echt piratig rüberkommender Pirat im routinierten Politiksound ("Gutsherrenart", "Bauernopfer") solidarisierte, und zwar vor allem gegen "den damaligen Verteidigungsminister und heutigen Innenminister Thomas de Maizière".

Die Seite, mit der die NRW-Piratenpartei sich solidarisierte, ist also die Funke-Mediengruppe, die zwar nach eigenen Angaben auf ihrer Unternehmens-Webseite funkemedien.de (inkl. eines Leerzeichens zuviel) den leicht abstrusen Anspruch erhebt, "auf dem Weg, das beste  nationale Medienhaus in Deutschland zu werden", zu sein, die aber unter Medienbeobachtern einen ziemlich schlechten Ruf genießt (vgl. z.B. dieses, dieses und dieses Altpapier), weil sie führend darin ist, Redaktionen auszudünnen und Zombiezeitungen zu kreieren.

Vielleicht können die Funkes der Gegenwart, deren Investigativabteilung ja teilweise ins Correctiv ausgelagert wurde, mit älteren Recherchen nicht mehr so viel anfangen (auch wenn sie nun vor den Bundesgerichtshof nach Karlsruhe ziehen). Vielleicht muss aber auch, wer für die Pressefreiheit eintritt, eben manchmal an die Seite der Funkes mit dem schlechten Ruf treten. Die Fronten verlaufen nicht immer klar.

Es könnte sogar sein, dass selbst die Bild-Zeitung, wenn sie von einem "Angriff auf die Pressefreiheit!" schreibt, weil sie selbst von einem Prozess gegen mutmaßliche ISIS-Terroristen dis-akkreditiert wurde (Altpapier, bildblog.de), trotz ihres noch schlechteren Rufs nicht ganz Unrecht hat.

"Wenn ein Richter nun diese Persönlichkeitsrechte, auf die Ebrahim H.B. ja offenbar gerne verzichtet, wenn er glaubt, dass es ihm nutzt, höher bewertet, als das Recht der Presse, auch im Bild über den Prozess zu berichten, ist das eine Einschränkung der Pressefreiheit. Und es ist kein Einzelfall: Immer wieder haben auch wir Probleme mit den Auflagen von Gerichten, müssen die Gesichter zum Teil bekannter und sich offen bekennender Neonazis verpixeln",

meint ruhrbarone.de sogar unter der Überschrift "Bild führt eine Auseinandersetzung für alle Medien". Auch darüber lässt sich natürlich streiten.

Aber die Medienlandschaft, deren rasanter Wandel schon länger läuft, aber vermutlich auch noch lange laufen wird, besteht eben längst nicht mehr aus "kleinen Blogger" und "Großverlagen", sondern auch aus größeren Onlinemedien und vor allem Printzeitungen verkaufenden Verlagsgruppen aller Art, von denen viele mindestens kriseln, die oft unterschiedliche Medien herausgeben (oft aber auch immer dasselbe unter unterschiedlichen Logos publizieren), die einem oft unsympathisch erscheinen mögen, aber manchmal Recht haben. Und manchmal nicht. Differenzieren bleibt wichtig.


Altpapierkorb

+++ Inzwischen fünfsprachig: der Aufruf für netzpolitik.org, der sich unter netzpolitik.us unterzeichnen lässt. +++ Wie dem Blog gestern der Innovationspreis der regierungsnahen "Land der Ideen"-Aktion verliehen wurde, ist auf land-der-ideen.de am Donnerstag noch nicht zu sehen, aber in der 20.00 Uhr-"Tagesschau" ganz am Anfang dokumentiert. +++

+++ "War das die neue 'Spiegel'-Affäre? Wohl eher nicht. Die offenen Fragen, die hinter der Affäre stehen, bleiben vorerst: Wo fängt das Staatsgeheimnis an? Wie transparent sollen Behörden sein? Wer genießt den Schutz des Presserechts? Müssten es nicht bald alle Bürger sein, weil jeder online publizieren kann?" Ganz gute Fragen, die Ursula Scheer dazu heute auf der FAZ-Medienseite stellt. +++

+++ Wenn Sie schon auf tagesschau.de waren: Anja Reschkes "Tagesthemen"-Kommentar zur Hetze im Internet heischt um Kommentare. +++

+++ Prozesse gegen Journalisten anderswo waren und sind häufig Thema der Medienressorts. Was Ägypten angeht, brachte faz.net kürzlich auf den Stand. +++ Von einer Anklage gegen 18 Journalisten wegen "terroristischer Propaganda" in der Türkei vermeldet die SZ-Medienseite, die FAZ berichtet gedruckt ausführlicher (S. 2) als online. +++

+++ "Das Fernsehen könnte ja zunächst die Programme der 60er Jahre wiederholen. Gewissermaßen als Qualitätsoffensive. Denn dann wäre der WDR wieder unterscheidbar im Querzapping-Sender-Einheitsbrei ...": Da hält Klaus Bergner im Blog medienmeister.wordpress.com das wichtige Genre der WDR-Kritik (siehe z.B. dieses Altpapier) am Leben. +++

+++ "In manchen Häusern ist inzwischen unter den Hand von einem Anzeigenminus von 30 Prozent die Rede", und zwar, was Papierzeitungen angeht: kress.de bleibt im Genre der Journalismus-Krisenberichte am Ball. Eigentlicher Anlass ist eine Idee, die Springer-Chef Mathias Döpfner von ProSiebenSat.1 übernommen hat: "Werbeplätze an Jung-Unternehmen gegen Anteile abzugeben". +++ Dass die nächste Fusionsgespräche-Runde der beiden Konzerne im nächsten Jahr bevorstehen könnte, raunte kürzlich Kai-Hinrich Renner vom Handelsblatt. +++

+++ Eine Gemeinsamkeit der erwähnten Bild-Zeitung und eines Sympathieträgers auf Augenhöhe, der Deutschen Bahn, die auf neue Weise wirbt, behandelt Sonja Alvarez im Tagesspiegel: "Was lustig wirken sollte, ist am Ende ein peinlicher Abklatsch geworden, der schon fast einer Beleidigung des Originals gleichkommt." +++

+++ Wie Windows seinen Rückstand auf andere Datenkraken aufholen will, hat Johannes Boie aufgeschrieben (sueddeutsche.de). +++

+++ "Das Risiko der vorproduzierten Nachrufe" ist Thema im epd medien-Tagebuch. +++

+++ "Selig sind jene, die nach dem Abend im Biergarten nicht den Fehler machen, noch mal kurz den Fernseher einzuschalten", schreibt David Denk über die "Lars Reichow Show", mit der das ZDF die Markus-Lanz-Sommerpause vertreibt. +++ In der Hauptsache geht's auf der SZ-Medienseite um Jon Stewarts letzte "Daily Show" in den USA. +++

+++ Und was den am Montag hier erwähnten, noch später im ZDF gesendeten und schon daher wenig gesehenen polnischen Spielfilm "Warschau 1944" angeht, so hat der Blog erinnerung.hypotheses.org ("Erinnerung und Geschichtspolitik im östlichen und südöstlichen Europa") eine enorm fundierte Analyse: "Ist das ein Film für einen ausländischer Besucher, der den Verlauf des Krieges im polnischen Gebiet nicht bzw. kaum kennt? Ist es den Filmemachern gelungen, ein solches Niveau und eine Universalität in der Darstellung zu erreichen, dass das Bild die Aufmerksamkeit der mit dem Thema nicht emotional verbundenen Personen fesselt? Man kann an dieser Stelle Zweifel anmelden. Zweifelsohne muss man diesen Film kennen, ähnlich wie andere polnische Filme der letzten Zeit, wie 'Der Massenmord von Katyn' von Wajda oder 'Ró?a / Die Rose' von Wojciech Smogorzewski. Sie zeigen eine neue Sicht auf die Behandlung der historischen Fragen im polnischen Kino, vor allem in seiner kommerziellen Variante. ..." +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.