Alles wächst zusammen
Wikileaks rüttelt wieder, jetzt auch die Griechenland-Euro- und die NSA-Spionage-Sache zusammen. Ein pensionierter deutscher Richter greift ein (starkes Foto!). Die "absurd niedrige Erfolgsquote" des (frisch verklagten) BND. Whistleblower auch im WDR - gefährden sie den filigranen Teamspirit der Anstalt? Außerdem: Ist Mark Zuckerberg nur Lenin, und der Facebook-Stalin kommt erst noch?

Alles wächst zusammen, heißt der Meta-Megatrend des laufenden Jahrzehnts. Jetzt wachsen auch zwei der größten Medien-Themen derselben Epoche zusammen, die Griechenland-Fragen und die globale Ausspähung durch US-amerikanische Geheimdienste. Jedenfalls dienen, um die der Aufregung unverdächtige FAZ zu zitieren, "detaillierte Inhalte" aus einem Angela-Merkel-Gespräch über Griechenland im Jahre 2011 als Aufhänger, um die Brisanz der neuen Wikileaks-Enthüllungen zu zeigen. Hier gibt's sie auf englisch frei online.

Wer die Dateien vorab auswerten konnte und heute groß präsentiert, ist der bekannte, aus ganz anderen Gründen nicht völlig unumstrittene Rechercheverbund von NDR, WDR und SZ. Mit der Titelschlagzeile "US-Spähangriff auf Bundesregierung" macht die Süddeutsche auf. Um den aus Medienmedien-Sicht vielleicht wichtigsten Satz ihrer Doppelseite 6/ 7 (mit den hier frei online zusammengefassten detailliertesten Inhalten) zu zitieren:

"Wikileaks verfügt offenbar über die Materialsammlung eines NSA-Insiders, der nicht Snowden heißt und der Europa noch ein bisschen durchrütteln kann. Wer immer es ist - er wäre mit seinen Dokumenten vermutlich nicht zur Bundesanwaltschaft gegangen",

lautet der dann folgende Satz, weil diese Bundesanwaltschaft gerade erst mit der sang- und klanglosen Einstellung ihrer Ermittlungen gegen die NSA für kleine Schlagzeilen gesorgt hat. Der wohl wütendste aus dem Kurt-Kister-Kommentar (S. 4) lautet:

"Und es ist verwerflich, wenn einerseits von Freundschaft salbadert wird, andererseits der große Freund nach Mafia-Art bei den kleineren Freunden Wanzen platziert, offenbar unter Mithilfe der Pudel in London."

Am Rande: Wer gestern abend sah, was die vom Recherchebunds-Mitglied NDR produzierten ARD-"Tagesthemen" lange, nachdem erneut ausführlich die aktuelle Bundesregierungs-Haltung zu Griechenland zu Ehren gekommen und auch bereits die US-amerikanische-kubanische Annäherung noch einmal gewürdigt worden war, aus der Sache machten (inklusive einer kaum für möglich gehaltene Sehnsucht nach Uli Deppendorf schürenden Schalte zur neuen Hauptstadtstudio-Leiterin ...), kann die Kritik am ARD-SZ-Rechercheverbund noch besser verstehen. Aber in der elektronische Presse bereitet tagesschau.de alles natürlich auch auf.

[+++] "The timing of today’s release is far from coincidental, earlier today the Merkel administration named a former senior judge as special investigator to examine a list of NSA-provided targets that German Intelligence had been tracking",

glaubt techcrunch.com.

Dieser "senior judge as special investigator" Kurt Graulich sieht auf dem Foto über seinem Spiegel Online-Interview aus, als sei er der Protagonist der ewig ersehnten ersten deutschen Netflix-Serie und könnte durchaus das eine oder andere verbale Duell mit abgezockten US-amerikanischen Heimatschützern überstehen.

Er kritisiert, obschon SPD-Mitglied, die Vorratsdatenspeicherung und sagt sogar kompetent zupackende Sätze zur "verwirrenden Rechtsgrundlage", was deutsche Geheimdienste betrifft, wie:

"Das G10-Gesetz steht erratisch neben dem BND-Gesetz, beide sind nie aufeinander abgestimmt worden, außerdem gelten noch Teile des Bundesverfassungsschutzgesetzes. Wahrscheinlich ist das Selektoren-Chaos ein Produkt dieser unzureichenden Rechtslage."

Er sagt allerdings auch zu, dass er seine Aufgabe "loyal gegenüber dem Auftraggeber erfüllen" will, und "das ist in diesem Fall die Bundesregierung" - was die kleine Opposition gegen die Große Koalition im Bundestag bereits noch mehr als das Fröhliche-Interview-Geben an sich irritiert (golem.de).

Immerhin spricht Graulich genau die Rechtslage an, in der nun die Reporter ohne Grenzen den Bundesnachrichtendienst beim Bundesverwaltungsgericht verklagt haben.

"Dabei machen die Reporter anhand offizieller Daten eine einfache Rechnung auf: Es seien wohl 'Hunderte Millionen E-Mails' gescannt worden, dabei habe es aber nur 15.401 Treffer gegeben, von denen wiederum nur 118 als 'nachrichtendienstlich relevant' eingestuft wurden. Das sei eine 'absurd niedrige Erfolgsquote' und könne nicht rechtfertigen, dass bei Bürgern und Journalisten ein 'Gefühl ständigen Überwachtwerdens' erzeugt wird",

zitiert Christian Rath in der TAZ aus der 30-seitigen Klageschrift. Er macht auch eine Prognose, was die "Zulässigkeit" der Klage, sozusagen die Frage, ob das Gericht sich der gewiss heiklen Sache so locker entziehen könnte, wie es der Bundesanwaltschaft zunächst gelang. So einfach dürfte es jetzt laut Rath nicht werden.

[+++] Wurde eigentlich schon letztinstanzlich geklärt, ob Whistleblower Helden oder Verräter sind? Einstweilen liegt  weiterhin im Auge bzw. in der Dienstbrille der Betrachter.

Wo sich solche Fragen nun auch stellen: beim Westdeutschen Rundfunk, bekannt u.v.a. aus dem SZ-NDR-WDR-Rechercheverbund (sowie als "kleiner Sumpf", zuletzt der Thommy-Gottschalk-Gagen wegen). Seit kurzem entertaint der Twitter-Account WDR_Leaks auf teilweise leicht grenzwertige Art die Medienmedien mit Details zu Radioprogrammreform-Ideen, und zwar so sehr, dass WDR-seits die Hörfunkdirektorin Valerie Weber sich unter der Überschrift "Illoyalität schadet dem ganzen Unternehmen" an die Öffentlichkeit wandte:

"Deshalb enttäuscht es mich besonders, dass solche kreativen Prozesse in dieser filigranen Phase des Entstehens - wenn noch gar nichts entschieden ist - nach außen getragen werden. Und als Chef überlegen Sie dann auch, ob Sie sich - bei allem Teamspirit - künftig noch mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beraten können, wenn einzelne von ihnen WDR-Interna nach außen 'posten'."

Zu erfahren, dass im WDR noch "filigran" gearbeitet wird, ist natürlich schön. Das Stichwort "Illoyalität" wirft freilich die Frage auf, wem eigentlich Loyalität gebührte.

Worum genau geht es? "WDR-Sparkurs soll zu Qualitätsverlust führen", titeln die WAZ-Zeitungen aus der Funke-Mediengruppe (derwesten.de), deren Mitarbeiter sich bei diesen Stichworten ja wirklich auskennen:

"'WDR Leaks' wirft dem Sender die Vereinheitlichung der Nachrichtenformate vor und sieht die Hörer künftig einem 'Einheitsbrei' auf allen Sendern (1Live, WDR 2, 3, 4 und 5) ausgesetzt. Ferner sorgten sich freie und feste Mitarbeiter, 'dass der WDR alle Programme kaputt weichspült'."

Der Stadtanzeiger vom WDR-Sitz Köln hat von der Pressestelle eine Auskunft erhalten:

"Die WDR-Pressestelle erklärte auf Anfrage, dass zurzeit in allen Bereichen geprüft werde, wie trotz finanzieller Einschnitte ein attraktives Programm auch in Zukunft möglich sei."

Am konkretesten informiert scheint der Watchblog radiowatcher.de, der sich schon zuvor intensiv mit Weber befasst hatte und auch die WDR-Verlautbarung ausführlicher zitiert. Ekki Kern schreibt dort,

"dass es künftig nur noch eine einzige Nachrichtensendung zur vollen Stunden geben wird. Sie soll inklusive Wetter nicht länger als dreieinhalb Minuten dauern und sowohl im Jugendprogramm 1LIVE als auch auf den Wellen WDR 2, WDR 3, WDR 4 und WDR 5 laufen".

Und:

"Teil des Plans von Valerie Weber und Hörfunk-Chefredakteurin Angelica Netz ist aktuell offensichtlich, dass die Nachrichten mit einem sogenannten 'O-Ton der Stunde' beginnen und mit einem 'versöhnlichen Rausschmeißer', wie es in einem Sitzungsprotokoll heißt, enden."

Wobei Rausschmeißen natürlich das diametrale Gegenteil dessen ist, was die Durchhörbarkeit der Formatradios, mit der Weber schon lange assoziiert wird (vgl. dieses Altpapier von 2013), beabsichtigt. Gegebenenfalls muss der WDR noch etwas filigrane Kreativität ins wording investieren.

[+++] Zurück zum ganz großen Großen und Ganzen. Das besprechen heute auf der FAZ-Medienseite Jaron Lanier, der auch nicht unumstrittene Internetdystopist, und FAZ-Digitalchef Mathias Müller von Blumencron.

"Es ist eine sehr merkwürdige Situation, und es wird einstmals von Historikern beschrieben werden als ein besonders bizarrer Moment in der Menschheitsgeschichte",

in der wir uns befinden, sagt Lanier und bietet den FAZ-Lesern, die auf historische Vergleiche ja anspringen, gleich mehrere davon an:

"Ich habe das einmal digitalen Maoismus genannt. Ich möchte diese Metapher indes nicht zu stark beanspruchen, weil durch die Kulturrevolution Millionen umgekommen sind, durch die digitale natürlich nicht."

Daher verschiebt Lanier den Fokus nach Westen, von China aus gesehen, aber nach Osten, von Deutschland aus: 

"Wenn eine kleine Gruppe Macht akkumuliert, selbst wenn die Leute ganz nett sind, dann sind es doch häufig ihre Erben nicht. Die Bolschewiken waren zum Beispiel sympathischer als Stalin",

sagt er gleich in seiner zweiten Antwort (nachdem Müller von Blumencron freilich schon auf aus der Geschichte zu ziehende Lehren zu fragen bzw. reden gekommen war).

Ist Mark Zuckerberg, der Erfinder von Facebook, um das und dessen Geschäftsangebot an Verlage es geht (Lanier: "Facebook gehören keine Medien, es könnte sich nicht weniger für deren Schicksal interessieren"), also lediglich Lenin, und der Digital-Stalin folgt erst noch?

Lanier will natürlich provozieren, auch auf Biegen und Brechen, sagt zwischendurch aber genug Kluges (z.B.: "Wir sehen eine Zunahme politischer Kommunikation, aber eine Abnahme politischer Teilhabe"), um insgesamt diskutabel zu bleiben. Wenn die FAZ allmählich die Frank-Schirrmacher-Tradition, das digitale Große Ganze in langen Beiträgen zu umkreisen, wieder aufnehmen sollte, wäre das sicher nicht das Schlechteste.

 


Altpapierkorb

+++ Bewegung in der deutschen Medienpolitik, aber nicht aus erfreulichen Gründen: Jacqueline Kraege musste den Posten der Bevollmächtigten des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund für Europa, Medien und Digitales aus Gesundheitsgründen aufgeben. Ihre Nachfolgerin heißt Heike Raab und war bisher Innenstaatssekretärin (rlp.de inkl. Malu-Dreyer-Blumenüberreichungsfoto). Seit mindestens Kurt Becks Zeiten ist Rheinland-Pfalz das Bundesland, das in der Medienpolitik der Bundesländer, also beim Rundfunksanderungs- und ZDF-Staatsverträge-Formulieren, die relativ erste Geige spielt. Siehe auch medienkorrespondenz.de.+++ Ein Beispiel für sinnvolle Bemühungen dieser Medienpolitik hat Torsten Zarges anlässlich der Tagung "Suchen - Finden - Navigieren" für dwdl.de aufgeschrieben: die Frage der "Auffindbarkeit" auf "Startscreens" von Geräten, die zum Fernsehen taugen. +++

+++ Die Sportfernseh-News des Jahres oder auch Jahrzehnts, die gestern hier großes Thema war, veranlasste Markus Ehrenberg vom Tagesspiegel, sich auszumalen, wie die DFL-Bundesliga sich am Montag die Hände rieb und demnächst an Google verkauft. Denn "durch den Siegeszug von internetfähigen TV-Geräten drängen Google, Apple & Co in den Markt für bezahlte Inhalte." +++ "Am Montag ist Gustav Büsing, langjähriger Motorsport-Kommentator in diensten von Eurosport, im Alter von 71 Jahren gestorben. Zuletzt war er für den Sender bei den '24 Stunden von Le Mans' als Teamleiter im Einsatz. Während des Rennens erlitt er dort einen Herzinfarkt" (dwdl.de) wiederum. Wobei Eurosport noch nicht langjährig, sondern erst seit 2014 mehrheitlich zum US-amerikanischen Discovery-Konzern gehört, der nun die Olympischen Fernsehrechte besitzt. +++ "Letztlich wird der Zuschauer entscheiden, ob ihm reine Sportberichterstattung reicht. Kritische begleitende Berichterstattung können die Öffentlich-Rechtlichen jedenfalls auch ohne einen Vertrag mit dem IOC liefern" (NDR-Zapp trotzig; im selbst-mitfühlenden Video äußert sich auch ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky, dessen erste Reaktion René hier gestern "ziemlich jämmerlich" nannte). +++

+++ "Wer in Deutschland noch daran glaubt, dass Mitarbeiter einen Tariflohn verdienen, sollte den Blick auf Medienhäuser meiden, an denen die SPD-Verlagsgesellschaft ddvg bedeutende Anteile hält", etwa auf Madsack, das seine Druckerei in Hannover zu schließen ankündigt hat (Bülend Ürük kämpferisch bei kress.de). +++ Harmonisch dagegen verlief sein Besuch in Stuttgart bei Richard Rebmann, der für die dortigen Zeitungen gerade den "Neuen Stuttgarter Weg" des Einsparens durchsetzt (siehe Altpapier bzw. ebenfalls kress.de). Rebmann sagte über die Zeitung an sich: "'Sie ist jeden Tag wie ein neuer Blumenstrauß auf dem Tisch unserer Leser und hinterlässt bei ihm im besten Fall ein Gefühl der Bereicherung.' Es gehe um ein intellektuelles Sich-Reiben, fährt er fort – etwas, dass er auch in seiner Freizeit genießt." Glücklich, wer sich an Blumensträßen reibt. +++ Und vielleicht wird Jürgen Habermas' "Zur postdemokratischen Einschläferung der Öffentlichkeit trägt auch der Gestaltwandel der Presse zu einem betreuenden Journalismus bei, der sich Arm in Arm mit der politischen Klasse um das Wohlbefinden von Kunden kümmert" ja doch wieder zu einem geflügelten Wort. +++

+++ Die ebenfalls gestern hier zu lesende News, dass der öffentlich-rechtliche Kultursender Arte seine monatlich erscheinende Programmzeitschrift, nach langen Pitchverfahren unter allerhand Verlagen übrigens, an den Fast-nicht-mehr-Verlag Axel Springer versteigert hat, veranlasst Joachim Huber (Tagesspiegel) zu einem Kommentar von verblüffender Kühnheit: mit dem "Schluss, dass im Hause Springer eine Überzeugung vor allen anderen gilt: Argentum non olet – Geld stinkt nicht". Wenn das mal keine Gegendarstellung ergibt! +++

+++ Indes hat Axel Springer eine irre Innovation hervorgebracht: das "Hochkant-Video-Format" (axelspringer.de), das es Nutzern erlaubt "ohne Drehen und Kippen des Smartphones" moderierte bild.de-Videos anzuschauen. +++

+++ Cool quer hält Max Schrems, der österreichische Kläger gegen Facebook, sein Smartphone auf dem Foto über dem faz.net-Interview zur Verzögerung, die seine Klage gerade vor einem Wiener Gericht erfuhr. +++

+++ Zuletzt war "hochkant" am ehesten in Kombination mit Rausschmiss-/ Feuern-Formulierungen gebräuchlich. Der Spiegel Online- und Spiegel TV-Geschäftsführer Matthias Schmolz geht "'Spiegel'-untypisch" (dwdl.de) aber "in bestem Einvernehmen und aller Freundschaft". +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.