Empört wird sich ja sowieso
Also müssen Journalisten dabei also nicht mehr mitmachen. Mehr Investigativreporter denn je? Aber auch unbezahlte Informationsbroker im Außendienst. Was Oliver Welke am besten kann. Giovanni di Lorenzos "letzte Videobotschaft". Außerdem: Disintermediation bei gleichzeitiger Hyperintermediation. Wir müssen Volker Herres dankbar sein.

Eine repräsentative Umfrage zum "Medienvertrauen" in Deutschland wirkt erst einmal ungefähr so erfrischend, brisant und relevant, wie Umfragen etwa dazu wären, wie zufrieden die Deutschen denn bisher mit diesem Sommer sind, oder ob sie, falls am nächsten Sonntag Wahl wäre, Sigmar Gabriel zum Kanzler wählen würden. Ob sie lieber als einen Bundespräsidenten "ein royales Staatsoberhaupt" hätten, wie gerade aus aktuellstem Anlass eine prominente Zeitschrift aus Hamburg umfragen ließ, erfrischt da erheblich mehr.

Andererseits, sie ergibt halt einen Nachrichtenanlass. Medien brauchen Nachrichten, vor allem online brauchen sie sehr sehr viele, um auf ihre Klicks kommen zu können. Journalisten, von denen viele Medien ja noch befüllt werden, interessieren sich inzwischen alle für das, "was morgen vom Journalismus übrig sein wird" (TAZ-Kriegsreporterin, anderer Mikro-, selber Makro-Zusammenhang), und das Publikum, das vom bisherigen Journalismus mehr oder weniger übrig lassen wird, interessiert sich entweder aus anderen Gründen auch dafür oder sollte es wenigstens.

Nun hat die Wochenzeitung Die Zeit so eine Umfrage in Auftrag gegeben, die dank bewährter Vorabmeldungspolitik auch schon rumgegangen ist. Und weil die Zeit-Grafiker auf der Titelseite außer den Logos von ARD, ZDF, SZ und Spiegel Online auch das eigene in Rauch aufgehen lassen, und erst recht, weil Chefredakteur Giovanni di Lorenzo im üblichen Werbevideo ankündigt, dies sei seine "letzte Videobotschaft" (Ja, warum das denn? Klicken Sie Youtube oder lesen Sie weiter!), blättern wir halt mal wieder Die Zeit auf. Auch wenn der eine Titelseiten-Artikel ("iSorry/ Der erfolgreichste Konzern der Welt hat sich dem Protest einer 25-jährigen Musikerin gebeugt") sich anfühlt, als hätten ihn Taylor Swift oder sogar Siri selbst geschrieben, und der andere von Helmut Schmidt stammt ...

Der vierseitige Schwerpunkt besteht erst mal aus einem doppelseitigen "Essay über Fehler von Journalisten, Leser in Lynchstimmung und die Verantwortung des Publikums" von Götz Hamann (zurzeit nicht frei online). Das ist der Medienjournalist, der, weil es bei der Zeit kein Medienressort gibt, im Wirtschaftsressort arbeitet und der im aktuellen Werbevideo von Giovanni di Lorenzo vorge... befragt wird.

Der Essay ist lang und lesenswert. Er steigt mit Zitaten von online verbreiteter Lynchstimmung ein, zitiert die üblichen Professoren (Steffen Burckhardt, Bernhard Pörksen), bindet die erwartbaren Ergebnisse der frischen Umfrage ein und äußert am Ende der zweiten Spalte eine erste These:

"Viele wichtige Zeitungen und Sender haben in den letzten Jahren in Qualität investiert, trotz der Anzeigen- und Auflagenkrise. Es werden heute mehr investigative Reporter beschäftigt denn je, und viele Reportagen verbinden mittlerweile faktenreichen Journalismus mit einer wunderbaren Sprache."

Ist das so? Da hätten zwei, drei harte Zahlen oder zumindest konkrete Beispiele, vielleicht statt des blumigen "wunderbar", nicht geschadet. Aber wer Die Zeit-Vertrauen besitzt, mag es so hinnehmen oder mit der dann folgenden Selbstkritik verrechnen. In der Finanzkrise 2008, nach dem Irakkrieg 2003 etwa sei viel Vertrauen in Medien, die vorher bzw. währenddessen berichtet hatten, was sich im Nachhinein als offensichtlich falsch darstellte, verloren gegangen, schreibt Hamann.

Die Zeit-Ausgabe aus dem März, die mit "Absturz eines Mythos" aufmachte (siehe v.a. dieses Altpapier), bevor die Flugzeugabsturz-Ursache geklärt war, und die die Redaktion nun wohl am liebsten "ungeschehen" machen würde, nennt er ebenso wie den Streit zwischen den Zeit-Haudegen Josef Joffe und Jochen Bittner und der ZDF-Show "Die Anstalt" (siehe u.a. dieses Altpapier). Es kommt also alles vor, dazwischen auch wieder eine originäre These:

"Es gibt also, paradoxerweise, eine maßlose Lust am Skandal - und zugleich eine weit verbreitete Enttäuschung über die Medien, die diese Lust bedienen. Und es gibt, noch paradoxer, ausgerechnet im Fernsehen mehr und mehr Satire-Formate, die beides, Skandallust und Medienfrust, mit enormem Aufwand bedienen. Auf diese Weise steigern sie Abscheu und Misstrauen noch einmal. Am besten gelingt das Oliver Welke."

Es folgen fünf Abätze über die "heute-show", die den Unterschied zwischen der deutschen Sendung und ihren erheblich investigativeren US-amerikanischen Vorbildern schildern und in die Zuspitzung münden:

"So verstärken die Mediensatiriker die Abneigung gegen jene Medien, denen sie ihre Sendeplätze verdanken."

Das naheliegende Argument, dass dieser Olli Welke im ZDF nicht nur freitags Gags zu Ausschnitten aus anderen Medien aufführt, sondern auch mittwochs im selben Sender bei der endlosen Fußballberichterstattung mitmischt, die mindestens genauso gut im Privatfernsehen laufen könnte, die das ZDF aber mit Gebührenmilliarden eingekauft hat, um seine eigene Stellung im inzwischen prekären Mediensystem möglichst langfristig zu sichern, verzichtet Die Zeit, um lieber die bekannten Pörksen-Thesen von der "permanenten Skandalisierung" und der "fünften Gewalt" Raum zu geben. Sowie zu einer versöhnlichen Conclusio zu gelangen:

"Angesichts der Wucht, mit der öffentliche Debatten inzwischen eskalieren, müssen sich die Kräfte der Aufklärung in der vierten und der fünften Gewalt endlich verbünden - gegen die Skandalisierung in den Medien und im Netz. Für Journalisten heißt das: Übertreibt es nicht. Eure Rolle hat sich verändert. Früher waren die Journalisten für die Skandalisierung zuständig, sie mussten sich öffentlich empören, weil es sonst niemand tat. Heute findet die Empörung ohnehin statt, und nimmt man die Reaktionen bei vielen Lesern und Zuschauern auf die Germanwings-Berichterstattung ernst, dann will ein erheblicher Teil des Publikums mehr als bisher für Stabilität im öffentlichen Diskurs sorgen."

Womit genau es Journalisten nicht mehr übertreiben sollten, wird vielleicht bei der Zeit intern angesagt. Und der Verdacht, dass diese Reaktionen nicht alle ernst genommen werden sollten (vielleicht, weil Olli Welke ja auch nichts ernst nimmt), scheint mitzuschwingen. Der respektable Die Zeit-Essay enthält die Menge diskussionswerter Gedanken, für die die Wochenzeitung bekannt ist. Vor allem ist er aber als Dokument einer großen Verunsicherung lesenswert.

Ergänzt wird es auf den beiden folgenden Seite von einem Interview mit der ARD-Korrespondentin Golineh Atai (Vorabmeldung) und einem "Appell" Pörksens selbst, der ähnliche Forderungen aufstellt, aber immerhin schön professoral ("Worauf es insgesamt ankommt, ebendies meint Disintermediation bei gleichzeitiger Hyperintermediation: Es entstehen, parallel zur publizistischen Selbstermächtigung des Einzelnen, Nachrichten- und Weltbildmaschinen eigener Art, globale Monopole der Wirklichkeitskonstruktion, die längst mächtiger sind als die klassischen Nachrichtenmacher") klingt. Außerdem führt er die Begriffe der "Jedermann-Publizisten, die Tag für Tag als unbezahlte Informationsbroker im Außendienst tätig sind und nach Kräften posten, verlinken, Tweets absetzen, Blog-Beiträge verfassen" in die Diskussion ein, die die Informationsbroker gewiss aufnehmen werden.

Aber warum hört Giovanni di Lorenzo denn nun mit seinen "Videobotschaften" auf, in denen er immer, vom gerade wieder abgeschlossenen Blattmachen authentisch übermüdet, potenziellen Lesern die fertig gewordene Zeitung vorstellt? (Und das nur wenige Monate, nachdem er schon seinen schriftlichen "Warum soll ich das lesen?"-Newsletter leise eingestellt hat?)

Da kommt die Pointe und schließt sich ein Kreis, wie er runder kaum sein könnte: Der Chefredakteur und telegene Fernseh-Talkmaster stellt das "Format vorerst ein", wie er am Ende des aktuellen Youtube-Filmchens sagt, um stattdessen ab kommender Woche "berühmte Kabarettisten und Comedians" im Video über die aktuelle Die Zeit-Ausgabe performen zu lassen.

[+++] Heißt auch: Alle müssen Volker Herres höllisch dankbar sein, dass der ARD-Programmsultan auf den 2016 frei werdenden Ex-Talkshow-Sendeplatz nicht etwa das neu programmierte, was er 2015 auf den von Reinhold Beckmann frei gemachten Ex-Talkshow-Sendeplatz setzte, also noch mehr Kabarett und Comedy, sondern bloß "anspruchsvollere", also für frühere Uhrzeiten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen selbstverständlich nicht geeignete Fernseh- und Spielfilme ... (weiter im Altpapierkorb)
 


Altpapierkorb

+++ Zur gestern hier erwähnten Kritik der Dokumentarfilmer (AG Dok), die auf dem Sendeplatz gerne Dokumentarfilme gesehen hätte, hat Herres eine Antwort gepfeffert ("Jemanden des Wortbruchs zu bezichtigen und dabei eine Studie heranzuziehen, die von einer einzigen untersuchten Woche auf ein ganzes Jahr schließt, ist, gelinde gesagt, unlauter"). Sie enthält auch eine Statistik, derzufolge der Anteil der "Dokumentationen und Dokumentarfilme im Abendprogramm des Ersten stabil" bleibe und gar nicht sinke (auf die AG-Dok-Info, dass die ARD "dem dokumentarischen Genre inzwischen auch die 'Wettermeldungen' zuordnet", aber nicht reagiert). Der Kern der Kritik, dass die ARD betonhart dabei bleibt, mehr vom selben zu senden, anstatt eine (nicht von ihr, sondern von Günther Jauch herbeigeführte) Chance zu nutzen, neue Programmformen im Hauptprogramm zu etablieren, kann also bestehen bleiben. +++ Die Entscheidung "sorgt ... andernorts freilich für Freude. Der Verband Deutscher Drehbuchautoren zeigte sich in einer Mitteilung 'erleichtert, dass sich die Programmverantwortlichen der ARD dazu durchgerungen haben, in das inzwischen wie Beton erstarrte Konzept der Talk-Offensive auf den Flächen des Spätprogramms endlich kleine Belüftungsschneisen einzuschlagen'" (dwdl.de). +++

+++ Im Tagesspiegel hat Matthias Meisner frei online Beispiele für Lynchstimmung gegen Journalisten, unter anderem aus Freital (von wo er berichtete). +++

+++ "Es ist keineswegs übertrieben zu sagen, dass das Vorhandensein von Netzneutralität über die Zukunft des Internet entscheiden wird" (Svenja Bergt auf der TAZ-Meinungsseite, mit finsteren Aussichten für EU-Europa). +++ "Andy Neumann vom Bund deutscher Kriminalbeamter erklärt: 'Wenn wir eine Person überprüfen und die entsprechenden Daten abfordern und wir stellen dabei fest, da ist eine interessante Rufnummer dabei und eine davon würde sich einem Journalisten zuordnen lassen, (...) müssten wir ab dann so tun, als hätten wir das nicht gewusst'", macht NDR-"Zapp" auf ein spezielles Journalisten-Problem bei der ohnehin problematischen Vorratsdatenspeicherung aufmerksam. +++

+++ Nach Nordrhein-Westfalen. Einen Stimmungsbericht von der Epoche, in der Lutz Hachmeister Grimmeinstituts-Chef war (und Wolfgang Clement noch die Ärmel hochkrempelte) bis in die Gegenwart, in der die Landesregierung sich medienpolitisch darauf konzentriere, "die Vormachtstellung des WDR zu sichern und den Bürgerfunk als ins Nirvana sendende Spielwiese zu erhalten", und alle Aufbruchsstimmung dahin sei (Auch "Medienstaatssekretär Marc Jan Eumann soll schon auf dem Absprung sein und nach einer Anschlussverwendung in der Wirtschaft suchen") hat Ruhrbaron Stefan Laurin für kress.de geschrieben. +++ Frische Personalien rund um das Grimmeinstitut (jetzt mit Pressesprecher!) sowie drumherum gruppierte Baustellen ("Forschungskolleg Medien und Gesellschaft im digitalen Zeitalter") hat die Medienkorrespondenz. +++

+++ In Köln-Mülheim bei Brainpool hat sich der Kölner Stadtanzeiger umgehört: "'Natürlich war das ein Schock für uns alle', sagt ein langjähriger Mitarbeiter ..., der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte", aber niemand nähme Stefan Raab "'seine Entscheidung ... eigentlich richtig übel.'". Schließlich hätten die Mitarbeiter "auch lange Jahre vom Erfolgsmodell des Entertainers profitiert, durch langfristige Verträge beispielsweise". +++ "Brainpool hat in Sachen Öffentlichkeitsarbeit dichtgemacht", sorgt sich Hans Hoff auf der SZ-Medienseite: "Der einstige Branchenprimus will sich nicht in die Karten schauen lassen, nicht sagen, was auf die Produktionsfirma zukommt, wenn ihre Galionsfigur zum Jahresende die Fernsehschuhe an den Nagel hängt." +++ Wer sich für entlassene "TV total"-Mitarbeiter einsetzt: der Bundesvorsitzende der Journalistengewerkschaft DJV, Michael Konken (FAZ): "Die Gewerkschaft wirft den privaten Sendern vor, zu wenig eigenes Personal vorzuhalten und Moderatoren wie Raab dazu zu bringen, eigene Firmen zu gründen." +++

+++ Indes "sehr glücklich" nach Angaben des Geschäftsführers: die Fernsehproduktionsfirma Talpa Germany, und zwar darüber, dass sie "jetzt ein vollständiges Mitglied der Talpa Familie wird" bzw. nicht mehr halb zum Springer-Konzern gehört (dwdl.de, Springer).  Dieses Talpa stellt u.a. Sat.1' "Newtopia" her. +++

+++ "Aus einer TV-Reichweite von sagenhaften 52% generiert die Tagesschau eine Online-Reichweite von gerade einmal 8% (sogar einschließlich der Unterhaltungsangebote ihres Senders). Bei den ZDF-Kollegen von heute und heute journal ist das Verhältnis von 38% zu 7% auch nicht besser. Schwach", macht in seinem Blog Johannes Friedrich Reichert (der einen pfiffigen Weg gefunden hat, sich dort auch selbst zu präsentieren) auf einen selten beachteten Aspekt der deutschen Onlinemedien-Landschaft aufmerksam. Andererseits: Was würden alle privat finanzierten Medien erst schimpfen, wenn tagesschau.de fünfzigprozentige Reichweite besäßen ... +++

+++ "Mit nur teilweise berechtigter Empörung, kaum zu übersehender Verlegenheit und totaler Hilflosigkeit haben die französischen Politiker auf die Wikileaks-Enthüllungen reagiert, die nun 'Libération' und 'Médiapart' publizierten", berichtet Jürg Altwegg im Aufmachertext der FAZ-Medienseite. +++ Außerdem geht's um Heidi Klum, den neuen "Asterix"-Band (erscheint am 22. Oktober) und natürlich um eine US-amerikanische Serie bei Sky ("The Comeback"). +++

+++ Und inzwischen frei online zu haben: der neulich im Altpapier "Jugend wird dem Bereich Senioren zugeschlagen" erwähnte epd medien-Artikel über den Diemut Roether zufolge ziemlich misslungenen neuen ZDF-Staatsvertrag. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.