Starke Pfeiler
Brennpunkt Köln-Mülheim: wer Grimmes Onlinepreise gewann, wo das "tv total"-Studio verfällt. Zum Rotz kamen Ruhm und Reichtum; hat Raab nun endlich den Raab geschlagen? Der beste Witz, die elaborierteste Laudatio dazu. Außerdem: Wenn Medienkritiker Medienkritiker entfreunden. Party auch in Berlin-Mitte.

Puh, da bin ich ja noch mal davon gekommen. Fast hätte mir die gestern weit unten im Altpapierkorb geäußerte Ahnung, der Tagesspiegel-Chefredakteur und -Newsletterer Lorenz Maroldt würde, wenn der Berliner Frühaufsteher schon an den Rhein reist, auch einen Grimme Online Award bekommen, als eine der krassesten Fehlspekulationen in fast 15 Jahren Altpapier um die Ohren geflogen sein können.

Aber dann bekam Maroldt, auch absolut mit Recht, tatsächlich so einen Grimme Online Award. Hier der Beweis, hier der Twitter-Einlauf zum Hashtag (#goa15). Hier listet das Grimmeinstitut alle Gewinner dieses Jahres auf (darunter auch correctiv.org, ebenfalls Glückwunsch!), hier gibt's Maroldts "mit min. 0,8 Promille - im Morgengrauen am Rhein" verfassten, aber keineswegs aus dem Rahmen fallenden heutigen Newsletter.

Wer sich zum Thema Grimme-Onlinepreis übrigens vorbildlich wenig aus dem Fenster lehnte, ja sogar anstandslos Sätze wie

"Was die Einreichungen für den Preis angeht, lässt sich das sagen - vor allem in den vergangenen fünf Jahren sind die Aufbereitung wie auch die publizistische Qualität keinesfalls gesunken"

performte, die vielleicht sogar ihrem Vorgänger Uwe Kammann ein wenig arg inhaltsarm erschienen wären, ist die noch neue Grimmeinstituts-Direktorin Frauke Gerlach (meedia.de-Interview).

[+++] Wir bleiben in Köln-Mülheim, dem von "Dynamik" (Gerlach) gekennzeichneten, "sozialen Brennpunkt, ... sehr alternativen Pflaster" (Interviewer Marvin Schade) auf der rechten Rheinseite.

Denn dort befindet sich auch ein olles Fernsehstudio, "von dem es hieß, dass es teilweise nur noch mit Klebestreifen zusammengehalten wurde" (Stefan Niggemeier), und dessen wohl unvermeidlicher Umbau vielleicht so teuer gewesen wäre, dass nun "die Verschrottung allemal billiger" kommt (Hans Hoff, sueddeutsche.de).

Es geht um das "tv total"-Studio, in dem Stefan Raab mit seiner gleichnamigen Show zwar noch bis tief in den August Sommerpause macht (weshalb heute auch trotz des aktuellsten Anlasses gar keine Frühkritik erschien), in dem er zurzeit aber andere seiner zahlreichen Shows aufzeichnet und am Mittwochabend zunächst seinen Mitarbeitern den Entschluss, seine "Fernsehschuhe an den Nagel zu hängen", ankündigte.

Die Nachricht ging dann wie ein "Lauffeuer" (dwdl.de) herum, löste ein "Erdbeben in der deutschen TV-Landschaft" aus (auch dwdl.de), erreichte ja auch den gestrigen Altpapierkorb und auch den empfindsamsten Seismographen für gesellschaftliche Entwicklungen, den wir haben.

"Stefan Raab treibt Pro-Sieben-Aktionäre in die Verzweiflung", meldete handelsblatt.com empathisch. Ein Blick auf den Kursverlauf zeigt aber, dass Anleger, die nicht augenblicklich vom nächsten Hochhaus sprangen, sich wenig später wieder beruhigen durften. Ohnehin hat, wer geduldig in ProSiebenSat.1-Aktien investiert hatte, prächtig von der konsequenten Verflachung des Programmniveaus profitiert.

Und wer kürzlich hier gelesen hat, dass 90 Prozent der US-amerikanischen Fernsehausstoßes im deutschen Fernsehen noch gar nicht läuft, muss sich auch nicht sorgen, dass Pro Sieben nicht weiß, was es ohne Raab denn senden soll. Andererseits soll Raab "im vergangenen Jahr brutto über 107 Millionen Euro", "das entspricht rund fünf Prozent des gesamten Werbeumsatzes" der ganzen AG (zu der auch noch Sat.1 und andere Nischensender gehören) eingespielt haben. Das ließ wuv.de von Marketing-Analysten errechnen, deren Chef Raab dann als "einen starken Pfeiler" der P7S1-Werbeeinnahmen würdigt.

Das ist ein Moment zum Innehalten: Medienschaffende, die im privaten Fernsehen, aber auch in weiten Teilen des Internets der Gegenwart professionell tätig sind, können kaum Höheres erreichen, als starke Pfeiler der Werbeeinnahmen ihrer Arbeit- oder Auftraggeber zu sein.

Umso flotter weiter durch den wachsenden Berg der Nachrufe auf Raab (auch wenn "ein Brainpool-Mitarbeiter, der nicht genannt werden will", im oben verlinkten dwdl.de-Artikel anmerkte: "'Tot ist er ja nun noch nicht'"). Sie leiden ein bisschen darunter, dass sich kein professioneller Kritiker außer vielleicht Peer Schader (weiterer dwdl.de-Artikel) in den letzten Jahren noch Raab-Shows länger angesehen hat.

Dafür gehen sie mit breiter Perspektive und festem Urteil an die Sache heran:

"Für Stefan Raab ist es die richtige Entscheidung zur richtigen Zeit - bevor er von YouTube-Stars noch weiter in die Ecke gedrängt wird und womöglich vom Publikum wie Thomas Gottschalk nur noch Mitleid erntet, zieht er sich lieber in sein geliebtes und gerichtlich verteidigtes Privatleben zurück" (Bülend Ürük, kress.de).

"Da aber Raabs Formate allesamt eine gewisse Jugendlichkeit erfordern, tat sich da eine immer größere Spalte zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf" (Hoff, sueddeutsche.de noch mal).

"Möglicherweise ist aber das Loslassen nun der größte Triumph in Raabs Karriere. Der Moment, in dem sein Überehrgeiz gewichen ist. Vielleicht hat Raab endlich den Raab geschlagen" (ders. & David Denk, ein paar Spuren pathetischer, auf der SZ-Medienseite).

"Die Zeit der großen generationen- und geschmäckerverbindenden Entertainer ist im immer segmentierteren Fernsehen vorbei. Das 'TV' wird nie wieder 'Total' sein." (Christian Buß, Spiegel Online).

Und (während die TAZ in Gestalt Uli Hannemann bloß die fortdauernde "löbliche Selbstbereinigung der deutschen Fernsehlandschaft" begrüßt), sprachlich am schönsten schreibt Joachim Huber im Tagesspiegel: "Zum Rotz kamen Ruhm und Reichtum." Auf einen Jauch-Zusammenhang stößt natürlich auch, wer hinklickt.

Den besten Witz zum Thema macht meedia.de ("... das Thema Politik geht dem Sender" Pro Sieben mit Raabs Abschied "noch mehr abhanden"). Die elaborierteste Laudatio gibt es nur gesprochen: Im Deutschlandradio würdigte Altpapier-Veteran Matthias Dell Raab, dass er "den Körper des Moderators im Fernsehen erst eingeführt" und außerdem Youtube und Vine vorweggenommen habe.

[+++] Der Abschied des anderen starken Pfeilers Stefan, Niggemeiers von krautreporter.de (siehe auch Altpapier gestern), zieht in anderen, kleineren Kreisen ebenfalls Reaktionen nach sich.

"Der Stefan Niggemeier macht oft ne echt gute Arbeit. Nur in eigener Sache nicht so wirklich", prothmannte der streitbare Hardy Prothmann und stellt interssierten Investigatoren eine Menge möglicher Fragen zur Verfügung ("Wie viel Geld kosten Herausgeber, Geschäftsführer und Chefredakteur monatlich?"). Falk Steiner geht als Ex-Crowdfunder in seinem Blog eher auf Herausgeber Sebastian Esser los, u.a. mit einem ganz guten (!) Hugo-Egon-Balder-Witz. Am schärfsten kritisiert Christian Jakubetz, ebenfalls im eigenen Blog:

"... und am allererstaunlichsten waren die Reaktionen von denen, die den Appendix 'Kritiker' in die Berufsbezeichnung eingebaut haben: Stefan Niggemeier war jedenfalls so angefasst, dass er mich auf Facebook entfreundete. Wieder also was Spannendes gelernt: Wenn man Niggemeier-Projekte kritisiert, reagiert er souverän wie die Springer-Presseabteilung auf eine Bildblog-Anfrage."

Jedenfalls gehört der Kniff, den Andreas Haberl oder der österreichische Standard für die Überschrift ihres Berichts über das deutsche Krautreporter-Projekt angewendet haben, in jedes Handbuch für Onlinejournalisten, in dem er nicht schon steht:

"Ein Jahr Krautreporter: (K)ein Grund zum Feiern",

lautet sie.


Altpapierkorb

+++ Berlin-Mitte ist nicht Köln-Mülheim, aber auch dynamisch. Und auch Unter den Linden wurde gestern gefeiert. "Siggi Pop" Gabriel und Olivia Jones, übrigens wiederum auch Raab-Expertin (Hamburger Abendblatt) waren nur zwei der namhaften, glamourösen Gäste. Als größter deutscher Medienkonzern stellt Gastgeber Bertelsmann bereits umfangreiche Berichterstattung (inkl. fantastische Bildergalerie  und "Mitschnitt der Live-Übertragung vom Roten Teppich") zur Verfügung. +++

+++ "Aber die Vorratsdatenspeicherung hat nun mal Sigmar Gabriel durchgesetzt. Ohne Not. Ohne Absprache. Und ohne Ahnung vom Thema zu haben" (Christian Rath auf der TAZ-Meinungsseite). +++

+++ Gestern trafen sich die Ministerpräsidenten der Bundesländer, um über Medienpolitik zu beratschlagen und am Rande den neuen ZDF-Staatsvertrag zu unterschreiben (siehe Altpapier von vor einer Woche). Natürlich schreibt Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite heute darüber: "Der Fernsehrat wird von 77 auf sechzig Mitglieder verkleinert, der Verwaltungsrat von vierzehn auf zwölf Mitglieder, die Repräsentanz der Politik wird reduziert, die Stellung der Länder in den Aufsichtsgremien des ZDF aber verstärkt sich angesichts der nun gestrichenen anderen politischen Besetzungen". +++

+++ Das andere wichtige Thema: der Umgang mit den immer noch höher als womöglich erwartet ausfallenden Einnahmen aus Rundfunksbeiträgen. Darüber hat der Tagesspiegel mit dem SWR-Justiziar, "so etwas wie der Wortführer der ARD in Sachen Beitragsrecht", gesprochen. Hermann Eicher rutschte "ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her", beschreibt Thomas Gehringer. Es gelang ihm aber, den Tonfall zu bestimmen. "Insbesondere die Behauptung, die Anstalten hätten einen 'geheimen Plan' zur Mehrung ihrer Einnahmen gehabt, ärgert ihn. Das sei 'ehrenvoll, aber falsch', sagt er. Zu den Mehreinnahmen komme es vor allem durch den einmaligen Meldedatenabgleich in Verbindung mit dem Ende 2013 beschlossenen Instrument der Direktanmeldung. Dadurch sei es möglich geworden, eine unerwartet große Zahl bis dahin nicht angemeldeter Personen in den Bestand des Beitragsservice aufzunehmen ..." +++
"70.000 Briefe, 10.000 Faxe, 5.000 E-Mails und 18.000 Anrufe erreichen den Beitragsservice jeden Tag. Die Sachbearbeiter verschicken täglich 50.000 Briefe. Wenn man so will: auch ein Stück deutscher Befindlichkeit": Diese und noch mehr Zahlen zum "Beitragsservice" hat Torsten Zarges bei dwdl.de. Die Einnahmen stiegen gar nicht im erwarteteten Ausmaß, sagt da der Chef dieses Service. +++

+++ Die Medienkorrespondenz legt Wert darauf, die gestern hier nur via Tagesspiegel vermeldete Berlin-Brandenburger Medienwacht-Personalie als erste und am ausführlichsten gehabt zu haben. +++

+++ "Dem Haus steht allem Anschein nach eine Marathon-Diskussion beim Thema Kosten bevor, und da ließ Hass die in solchen Situationen erforderliche Klarheit vermissen", analysiert meedia.des Georg Altrogge zur auch bereits gestern thematisierten neuen Spiegel-Strategie. Bevor Sie einwenden, dass Hass nie zu Klarheit beiträgt: Der verantwortliche Geschäftsführer heißt Thomas Hass. +++

+++ Weitere Stimmen zum gestern hier ausführlich vorgestellten deutschen Journalisten-(Kino-)film "Die Lügen der Sieger": Sascha Westphal findet ihn hier nebenan gut; mit Andreas Kilb ein weiterer FAZ-Kritiker (heute im Print-Feuilleton) nicht so: "Aber je länger 'Die Lügen der Sieger' dauert, desto stärker spürt man das Missverhältnis zwischen dem, was Hochhäusler mit der Kamera (Reinhold Vorschneider), und dem, was er mit den Figuren macht." Überschrift: "Auf digitalen Sohlen kommt der stilgerechte Tod". +++

+++ Mit mit einem völlig anderen, aber umso tödlicheren Thema befasst sich die TAZ noch: mit dem Umgang gegängelter südkoranischer Medien mit der Infektionskrankheit Mers. +++

+++ Und die Ansicht "Es gibt Qualitätsjournalismus nur in Verbindung mit bedrucktem Papier – und das aus belegbaren Gründen" kommt wiederum aus Österreich (Standard, aber nicht von diesem, sondern von einem Interviewpartner). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.