Denken Sie an etwas sehr Kompliziertes. Raketentechnik zum Beispiel. Die Befriedung des nahen Ostens. Das Überstehen einer ganzen Ausgabe „Volle Kanne“ bei Beibehaltung aller Gehirnzellen.
Schwierig, oder? Aber alles nichts gegen die Frage, die den Journalismus seit Jahren umtreibt: Was machen wir nun?
Dabei kann man niemandem zum Vorwurf machen, nicht nach Antwortmöglichkeiten gesucht zu haben. Gestern Nachmittag etwa erfand Peter Turi die ultimative Lösung für gestresste Redakteure mit Zeitmanagementproblemen und stellte begleitend zu der Nachricht, dass die dpa im Herbst 2016 mit Peter Kropsch von der APA einen neuen Geschäftsführer bekommt, gleich die gesamte Pressemitteilung samt Kontaktdaten des Sprechers online.
Falls die Leser mehr wissen wollen, können sie ja selber anrufen.
Leider hat bei Turi dieser Mut zur Innovation nicht lange angehalten, sodass die Meldung mittlerweile wieder aufs übliche Maß gekürzt wurde.
Einen ganz anderen Ansatz verfolgt derweil die New York Times – was, wenn wir ehrlich sind, wenig überrascht (sorry, Turi). Auch hier ist der Leser gefordert, allerdings nicht als Rechercheur, sondern in seiner Fähigkeit, die Website der Zeitung aus allen Orten der Welt aufzurufen (was sie, um das hier kurz zu erwähnen, in dieser Woche von den Redakteuren unterscheidet, denen der Zugang zur Homepage gesperrt wurde, zumindest vom Rechner aus, um sie für die Nutzung vom Handy zu sensibilisieren, siehe z.B. das Wall Street Journal).
Wie Adrian Lobe auf der Medienseite der FAZ schreibt, experimentiert die Zeitung mit Artikeln, die mit auf den Ort abgestimmten Textbausteinen ergänzt werden. Die Erfassung des Ortes erfolgt über die IP-Adresse.
„Der smarte Artikel weiß also, in welcher Gegend der Leser gerade auf die Seite zugreift, und modifiziert den Text. Wenn man auf seinem Smartphone in Minneapolis den Artikel aufruft, bekommt man Zahlen über Hennepin County im Bundesstaat Minnesota. Wenn man den Beitrag in San Antonio liest, werden Statistiken von Bexar County in Texas angezeigt. Der Artikel ist im Grunde ein Lückentext, der um die ortsspezifischen Daten ergänzt wird. (...)
Ein Vorzug des teilautomatisierten Schreibprozesses ist, dass man einen Artikel ohne Mehraufwand auf verschiedene Ebenen herunterbrechen und die Thematik näher an den Leser bringen kann. Gleichwohl ist der Rückgriff auf die IP-Adresse datenschutzrechtlich umstritten.“
Wir sind hier ja auf der Suche nach Antworten. Daher ist es blöd, dass sich an dieser Stelle drei Fragen anschließen:
Warum berichtet die FAZ ausgerechnet jetzt über diesen Anfang Mai erschienenen Artikel?
Warum kommen uns nach der Lektüre des oben zitierten Absatzes die Beispiele aus diesem ebenfalls Anfang Mai veröffentlichten Text des Niemanlabs bekannt vor?
„It knows what county you’re in and alters the story text depending on your location. Browsing on your phone in Minneapolis, you get Hennepin County, Minnesota. Reading at work in San Antonio, it’s Bexar County, Texas.“
Und was ist eigentlich ein teilautomatisierter Schreibprozess ohne Mehraufwand?
Sicher ist, dass dieser Begriff für manchen der derzeit durch Zeitungshäuser ziehenden Unternehmensberater nach der Lösung aller Probleme klingt. Sie haben schließlich schon vor Jahren ausgemacht, wie man die sinkenden Einnahmen wieder auf Kurs bringen kann – nämlich durch Beseitigung des Kostenfaktors Journalisten. In diesem speziellen Fall lässt sich das Feld jedoch nicht ganz den gut dressierten Affen und Computern überlassen, die aus Sicht jener das Bespielen der Zeitungen in Zukunft übernehmen sollen. Schließlich müssen Themen und Textbausteine irgendwo herkommen, bevor die Automatik mit Ortskenntnis übernimmt.
Zum Glück gibt es noch Alternativen, und eine davon probieren derzeit die Lübecker Nachrichten: Die Redakteure können bleiben, aber die Leser müssen weg. Zumindest mit ihren justiziablen, Arbeit machenden Kommentaren zu Flüchtlingsheimen. (Hatte ich schon gesagt, dass das hier heute ein thematischer Husarenritt wird?)
„Leider werden wir künftig unsere Berichte in Sachen Flüchtlinge in Lübeck erst einmal nicht mehr posten können - obwohl wir das Thema alles andere als irrelevant finden. Die Masse der justitiablen Anfeindungen und die Folgen wie Beleidigungsklagen sind einfach nicht mehr zu handhaben“,
schrieb bereits am Freitag Redakteur Timon Ruge auf der Facebookseite der Zeitung. Wo sich folgerichtig nun nur noch Posts finden über den gastierenden Zirkus, die kleinen Geparden-Racker im Rostocker Zoo sowie ein Aufruf, sich mit einer schönen Heiratsantragsgeschichte bei der Zeitung zu melden.
Eins muss man den Kollegen zugestehen: es funktioniert. Denn wenn man nicht gerade Deutschlehrer ist, machen einem Kommentare wie
„Hab sie heute gesehen so süß die racker“
oder
„Ich habe vor zwei Jahren meine zukünftige, im August ist endlich so weit, unter Wasser gefragt. Hab sie einfach während ihrer Ausbildung mit meinem Kameramann überrascht und ihr die frage schriftlich überreicht. Nach dem wir auf getaucht sind und ich ihr ja Wort schriftlich hatte. Stand unser tauchverein Spalier und wir wurden mit tosendem Applaus erwartet. Unvergesslichen. ..“
keinerlei Arbeit. Doch als Lösung der Probleme taugt diese Taktik nicht, meint zumindest Sonja Álvarez heute im Tagesspiegel.
„Damit kapituliert die Zeitung aus der Verlagsgruppe Madsack vor den Trolls. Denn statt deren Kommentare zu löschen oder hetzende Nutzer zu sperren, schränkt die Redaktion auf Facebook lieber selbst ihre Berichterstattung ein. In Richtung der Trolls ist das ein fatales Signal: Je heftiger sie hetzen, um so größer ist offensichtlich die Wirkung. Statt sich künftig sachlicher zu verhalten, wie es die Redaktion offenbar erreichen will, dürften sie künftig nur noch mehr pöbeln - in der Hoffnung, dass auch über andere für sie unliebsame Themen nicht mehr berichtet wird. Das Nachsehen haben all die Leser, die sich über die Facebook-Seite über aktuelle Themen informieren und austauschen wollen.“
Halten wir fest: Leser die Arbeit machen zu lassen ist nicht die Lösung. Auf Journalisten zu verzichten ist nicht die Lösung. Sich die Kommentatoren vom Hals zu schaffen ist nicht die Lösung.
Was bleibt noch? Ausnutzen der technischen Möglichkeiten! Beim Guardian US eröffnet man dafür nun ein extra Innovations-Lab (was ein bisschen komisch ist, denn aus deutscher Sicht schien die Zeitung bereits so etwas zu haben: die Londoner Redaktion).
Beim Tagesspiegel rät man, sich Periscope zu bedienen.
Und beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen? Dazu wusste schon gestern DWDL zu berichten:
„SWR und Saarländischer Rundfunk machen die Strategie ,Online First’, die bei einzelnen Formaten schon bislang umgesetzt wird, zur Regelreinrichtung. Ab sofort sollen alle Sendungen, die im klassischen linearen TV nach 18:15 Uhr ausgestrahlt werden, bereits am Tag zuvor ab 16 Uhr in der SWR-Mediathek zum Abruf bereit stehen. Ausgenommen sind davon logischerweise Live-Sendungen, Sendungen, die aus Jugendschutzgründen nicht bereits nachmittags zu sehen sein dürfen, sowie andere Formate, die aus Produktionsgründen noch nicht bereit gestellt werden können.“
Schon heute ab 16 Uhr sehen, was erst morgen im Fernsehen läuft: Was für eine tolle Idee, bis man bemerkt, um was für Sendungen es dabei geht: heute bzw. morgen zum Beispiel um „Neues von den Knochen-Docs“ und einen „Tatort“ von 2011.
„Wer die Diskussion in der Schweiz verfolgt hat, der konnte erkennen, dass die Zustimmung zum gebührenfinanzierten Radio und Fernsehen dramatisch gesunken ist. Im Ja zur Haushaltsabgabe steckt auch ein mit 49,2 Prozent fixiertes Misstrauen an der Konstruktion, am Programm, an der Finanzierung der SRG. Die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft, gerne konstitutiv erachtet für die Eidgenossenschaft, wankt. Sie muss neues Vertrauen aufbauen, sonst wird es 2017, wenn die Anstalt eine neue Sendekonzession erhalten will.“
Das schreibt Joachim Huber heute im Tagesspiegel über das denkbar knappe Ergebnis der Volksabstimmung in der Schweiz über die Änderung der Rundfunkfinanzierung. Auch in der NZZ lässt sich heute nachlesen, dass eine Debatte über Auftrag und damit die Inhalte der Sender dringend nötig ist.
Womit wir zum Fazit von heute kommen: an den Inhalten schrauben. Das kann auch eine Antwort sein auf die „Was machen wir nun?“-Frage, für die man sich vielleicht auch bei stern.de hätte erwärmen sollen, bevor man über einen Relaunch nachdachte. Der ist nun vollzogen, wie man hier in den Wort der Macher nachlesen kann. Doch Beiträge wie „So öffnen Zimmerleute vier Bierflaschen auf einmal“ oder „Moderatorin kämpft mit Zikaden“ werden halt nicht besser, nur weil das Layout stimmt.
+++ Der gestern hier ausführlich erwähnte Artikel der Sunday Times über Edward Snowden „is journalism at its worst – and filled with falsehoods“, meint Glenn Greenwald bei The Intercept. Diese Reaktion dieses Autors an dieser Stelle war zu erwarten; Greenwald hat jedoch auch ein paar Argumente mitgebracht, die in deutscher Sprache Spiegel Online aufbereitet. +++
+++ Die FAZ hat jetzt auch einen morgendlichen Newsletter. +++
+++ Apple sucht jetzt auch Journalisten. +++
+++ Die NZZ meint, die deutschen Medien berichteten zu freundlich und parteiisch über Flüchtlinge und verschwiegen damit durchaus bestehende Probleme: „Dabei gibt es seit langem Anzeichen, dass in bestimmten Regionen und Milieus in Deutschland jener soziale Zusammenhalt unter dem Druck der Einwanderung prekär wird. Die Medienpraxis des Wegsehens und der camouflierenden Berichterstattung, welche die Akteure verschleiert, ist keine Lösung. Einwanderung verlangt einen Lernprozess, den auch Medien zu einem guten Teil noch vor sich haben.“ +++
+++ „Bezahlfernsehen kann nur erfolgreich sein, wenn es sich andauernd an die neue Umgebung anpasst. Aber die Grundlagen sind gelegt“, sagt Brian Sullivan, der alte Sky-Chef, im Interview mit Carsten Schmidt, dem neuen Sky-Chef, und Caspar Busse von der SZ. Nachzulesen heute im dortigen Wirtschaftsteil, Seite 20.
+++ „Er ist ein Denker, Aktivist, Blogger, Gründer diverser Internet- und Technologie-Firmen. Die MIT holte ihn vor vier Jahren aus der freien Wirtschaft. Jetzt ist er so etwas wie ein Internet-Generalist, der den Bogen spannt zwischen Forschung, Lehre und Praxis. Sein Metier ist das Nachdenken darüber, wie man innovativ ist – und daraus geschäftlichen Nutzen zieht.“ Mehr über Joi Ito, den Direktor des MIT-Media Lab, steht heute auf der Medienseite der SZ. Wo zudem die zweiteilige MDR-Doku „Jammer-Ossi und Besser-Wessi“ von Corneluius Pollmer für nicht so gut befunden wird. „Darin kommt irgendwie alles vor, was einem nach drei Sekunden Nachdenken zum Thema Ost-West so einfällt. Kaum etwas davon ist klug arrangiert, es fehlen Struktur und ein Leitgedanke, es fehlen Neugier und vor allem der Respekt vor dem gesamtdeutschen Publikum.“ +++
+++ Meanwhile, back at the FAZ-Medienseite: „Allein aufgrund ihrer Standardeinstellung bringen Smart-Fernseher viel mehr über ihre Nutzer in Erfahrung, als die meisten ahnen – und leiten ihr Wissen nicht nur an die Hersteller, sondern auch an die Programmanbieter und App-Store-Betreiber weiter. Als das Landesamt ein älteres Smart-Gerät untersuchte, zeigte sich, dass unmittelbar nach der Inbetriebnahme die IP-Adresse, also die Signatur des jeweiligen Internetanschlusses, an 60 verschiedene Stellen versendet wurde.“ +++
+++ Wer sich zudem gerne angucken möchte, wie sich die frisch gerelaunchte FAS nun vermarktet, hat bei Horizont dazu Gelegenheit. Bei der taz gibt es dazu die Meinung von Jan Feddersen über die Lage im Verlag: „Viel Wind um wenig, mithin. Was bei der FAZ vor allem ins Auge sticht, ist die Einbuße an journalistischer Qualität.“ +++
Neues Altpapier gibt es morgen wieder.