Jugend wird dem Bereich Senioren zugeschlagen
Nächste Woche wird der neue ZDF-Staatsvertrag unterschrieben und über die Verteilung der Millionen bis Milliarden zusätzlicher Rundfunkbeitrags-Einnahmen entschieden. Der WDR peilt nun schon 55-jährige Zuschauer an. Der Bundestag wurde endlich für die Digitalisierung sensibilisiert. Außerdem: ein Geflügelsalatwerbungs-Star bekommt seine eigene Zeitschrift.

Vielfaltsicherung lautet ein gewiss bürokratisch klingender, in der Sache aber schöner Begriff aus Medientheorien. Wir hier, die bei evangelisch.de ja keine Werbefinanzierung anstreben und nicht knallhart am Markt orientiert sind, schauen daher heute nicht dorthin, wohin heute alle großen innenpolitischen Artikel schauen: in den noch viel exzessiver als befürchtet ausgespähten Bundestag. Oder nur ganz kurz, und dann gleich in die vielfältigen Biotope des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

Der offenbar noch immer nicht in den Griff bekommene Cyberangriff sei eine "notwendige Schocktherapie", schreibt Ines Pohl auf der (mit einem Bilderwitz im selben Kontext illustrierten) TAZ-Titelseite, damit unsere "VolksvertreterInnen [sich] endlich mit der Digitalisierung" beschäftigen.

Zumindest sensibilisiert werden sie:

"Die NSA-Affäre hatte viele bereits sensibilisiert, seit dem neuen Angriff sind sie noch vorsichtiger geworden: 'Wir vermeiden es zurzeit tunlichst, vertrauliche Dateien zu mailen oder im Netzwerk zu speichern', sagt einer, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will",

raunt die stets top-investigative Süddeutsche Zeitung auf ihrer Seite 2. Michael Hanfeld hat für die FAZ-Medienseite eine Abgeordnete gefunden, die ihr "ziemlich mulmiges Gefühl, weil man nicht weiß, welche Informationen jetzt wie abgegriffen werden", sogar unter Klarnamen äußert, die Grüne Tabea Rößner.

"Bedeutend aber ist auch die Klärung der Zuständigkeiten. Ein halbes Dutzend Institutionen kümmert sich um die deutsche Cyberabwehr, neben dem BSI unter anderem die Bundeswehr, der Verfassungsschutz, nun wohl bald auch der BND",

kommentiert der Tagesspiegel. Womöglich war es tatsächlich eine gute Idee, das eigentliche nationale Cyber-Abwehrzentrum in Mehlem anzusiedeln, einem ablegenen Stadtteil der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn, den internationale Angreifer vielleicht gar nicht auf dem Zettel haben. "Mit dem Schlachtruf 'IT Security made in Germany' sollten sich deutsche Firmen jedenfalls erstmal nicht mehr auf dem Weltmarkt blicken lassen!" (Nico Lumma, bild.de). Heute will derselbe Bundestag übrigens sein IT-Sicherheitsgesetz verabschieden; um 7.19 Uhr brachte netzpolitik. org auf den Stand.

"Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung. Das weiß jeder, der den gleichnamigen Film gesehen hat ...",

leitet schließlich die FAZ ihre Seite 2-Analyse ein, die zwar demselben Thema gilt, aber eher auf spezifische Probleme der FAZ (täglich müssen viele Zeilen irgendwie gefüllt werden, weil offenbar Anzeigen fehlen; manche Autoren scheinen schon arg aus der Gegenwart herausgefallen ...) als auf solche der digitalen Welt aufmerksam macht.

[+++] Jetzt in die die vielfältigen öffentlich-rechtlichen Biotope des deutschen Mediensystems, in dem die Uhren ohnehin ganz anders gehen. Nächste Woche stehen vergleichsweise wichtige Termine bevor. Daher widmen sich zwei große Artikel dem Thema.

"In der kommenden Woche entscheiden die Länder, was mit dem Milliardenplus bei ARD und ZDF geschieht". Das hat Claudia Tieschky von der Süddeutschen zum Anlass genommen, u.a. den KEF-Chef Heinz Fischer-Heidlberger aufzusuchen. Der vielleicht zentrale Satz ihres Artikels (derzeit nicht frei online) bezieht sich auf die Berliner Idee, mit freien Rundfunkbeitrags-Überschüssen Qualität im Fernsehen zu fördern:

"Im Prinzip klingt das nicht schlecht: Ein paar Cent mehr, die ohnehin in die Kassen kommen, und als Gegenwert hochwertige Fernsehspiele, intelligente Serien, besondere Recherche und - schöner Traum - mutiges TV. Allerdings wirft das die Frage auf, wofür die Öffentlich-Rechtlichen denn von der Allgemeinheit bisher bezahlt worden sind – wenn nicht für Qualität im Programm, Recherche, Mut."

Fischer-Heidlberger erklärt dann, dass das ohnehin rechtlich nicht geht. Worauf Marc Jan Eumann, der Recke der SPD-Medienpolitik, den sie ebenfalls befragt hat, mal wieder sein Steckenpferd des "stufenweisen Komplettausstiegs von ARD und ZDF aus der Werbung" auf die Agenda setzt. Ein Problem dabei könnte sein, dass junge Unter-50-Jährige, die längst nicht mehr auf die Idee kämen, vor 20.00 Uhr ARD oder ZDF anzuschalten, davon gar nichts mitbekommen. Halt, doch, im Auto:

"Als konsensfähigste Variante gilt, wenig überraschend, die moderateste. Danach könnte der Einstieg in den Ausstieg bei der Radiowerbung beginnen."

Sollte diese seit vielen Jahren kursierende Vision beschlossen, würden Einnahmeverluste der Anstalten aus den Überschüssen ausgeglichen.

Ein grundsätzliches Problem der Rundfunkpolitik besteht darin, dass selbst über viele Jahre gereifte oder zumindest diskutierte Beschlüsse nichts besser machen. "Chance vertan", heißt die Überschrift zu Diemut Roethers epd medien-Artikel (ebenfalls zurzeit nicht frei online) über den neuen, durch ein Bundesverfassungsgerichtsurteil notwendig gewordenen ZDF-Staatsvertrag, den dieselben Ministerpräsidenten der Länder ebenfalls nächste Woche unterzeichnen werden. Der vielleicht zentrale Satz des Artikels bezieht sich auf die darin geregelte Neuverteilung der Sitze im ZDF-Fernsehrat:

"Der Bereich Jugend wurde kurzerhand dem Bereich 'Senioren, Familie und Frauen' zugeschlagen. Ein fatales Signal für einen Sender, dem seit Jahren vorgeworfen wird, sein Publikum sei überaltert."

Wobei der Auslöser dieses Zuschlagens durchaus zu begrüßen ist: Den frei werdenden Platz übernimmt die gesellschaftliche Gruppe der Schwulen, Lesben und Transsexuellen, für die ebenfalls das Land Berlin sich engagiert. Doch:

"Angesichts der Legitimationsdebatte, der der öffentlich-rechtliche Rundfunk derzeit ausgesetzt ist, angesichts ständig neuer Gutachten von interessierter Seite, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk an sich infrage stellen, ist das ein Bärendienst. Der Eindruck, dass dieser Rundfunk nicht etwa den Bürgern gehört, sondern ein 'Staatssender' ist, wird durch das Verfahren und das Ergebnis verstärkt."

[+++] Wer die Arbeit dieser Aufsichtsgremien öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten eigentlich ernst nimmt?

Vor allem die vielfältigen Mitglieder dieser Aufsichtsgremien sowie diejenigen, die sie "pudern". Diesen Begriff will Stefan Laurin, Autor eines kritischen kress.de-Artikels über den WDR und sein Aufsichtsgremium (das bekanntlich stolz oder zumindest froh ist, nichts von den WDR-Werbetochter-Verträgen mit Thommy Gottschalk gewusst zu haben), von einem anonymen Intendanten gehört haben. Laurin sprach mit Hektor Haarkötter ("Die Rundfunkräte sollten eigentlich den Sender kontrollieren, aber sie sind in der Regel viel zu eng mit dem Sender verbunden"), Betreiber des Blogs antimedien.de, und mit Fritz Wolf, u.a. Verfasser der Brennerstiftungs-Studie über Rundfunkräte. Und er zitiert aus der aktuellen Ausgabe der WDR-Selbstlob-Zeitung namens print, in der die Rundfunkrats-Vorsitzende Ruth Hieronymi interviewt wird ("Das Wichtigste ist das Programm", S. 36).

Falls jemand den WDR gerade mal nicht für einen kleinen Sumpf hält, hilft es, dieses print ungedruckt online durchzublättern.

Wobei dieser WDR, was sein Fernsehprogramm betrifft, derzeit an der "größten Reform seit 1996" arbeitet. Das hat Dieter Anschlag (medienkorrespondenz.de) einem "dreiseitigen Papier der WDR-Fernsehdirektion" entnommen:

"Zentrale Herausforderung ist dabei die Verjüngung mit dem Anspruch, Inhalte und Formate stärker auf ein jüngeres Publikums auszurichten. Dabei sollen nicht nur junge Erwachsene in den Blick genommen werden, sondern als zentrale Eroberungsgruppe die 'nachrückende' Generation der 35- bis 55-Jährigen",

die ja teilweise in einem halben Jahrzehnt auch bereits die 60 erreicht haben wird. Der Bezugspunkt 1996 gibt nicht unbedingt Anlass zu Hoffnungen: Verena Kulenkampff, die vor allem für die Verquizzung und Durchformatierung der Dritten Programme steht und deren Nachfolger als Fernsehdirektor, Jörg Schönenborn, nun reformieren möchte, war 1996 noch gar nicht beim WDR gewesen.

Aber sie hat ja Recht gehabt, seufzt mal wieder Joachim Huber (Tagesspiegel), der immer am schönsten aus aktuellem Anlass resignieren kann:

"Wer immer auf die Quotenfixiertheit von ARD und ZDF schimpft, dem wurde am 10. Juni schrecklich vor Augen geführt, dass Quoten Ausdruck richtigen Handelns sind. Ein Großteil des Publikums, wahrscheinlich die Mehrheit, will, dass die ARD Fußball überträgt und das ZDF Pilcher-Lindström zeigt. Umgekehrt würde das auch funktionieren. Alles andere ist Augenwischerei."

Der 10. war der vergangene Mittwoch, an dem die ARD ein schlechtes und langweiliges Fußball-Freundschaftsspiel sendete und währenddessen sowie hinterher ausführlich schönquatschen ließ, während das ZDF (Huber: "Information? Vergiss es! 'heute-journal'? Vergiss es! 'Auslandsjournal'? Vergiss es!") zwei Schmonzetten nacheinander sendete, sodass am ganzen Abend keine der beiden Nachrichtenmagazin-Sendungen lief, deren grundsätzliche Existenz ja eines der Argumente für das reichste Fernsehsystem der Welt sein könnte. Aber ach, so was möchte niemand mehr direkt kritisieren.
 


Altpapierkorb

+++ Frischer Wind auf dem Zeitschriftenmarkt: Der innovative Verlag Gruner + Jahr, gerade erst mit Stern Crime hervorgeprescht, bereitet für den Herbst "ein 'Frauenmagazin mit Barbara Schöneberger'" (kress.de) vor. Es soll Barbara heißen, Chefredakteurin wird aber nicht "Schöneberger, bekannt aus Funk, Fernsehen und Geflügelsalatwerbung" (FAZ-Medienseite), sondern die Brigitte-Chefredakteurin Brigitte Huber sein. Den besten Witz dazu machte Altpapier-Autor René Martens bei Twitter ("Kommt nun bald der Kopp-Verlag mit der Zeitschrift 'Eva'?"). Die FAZ scherzt weiter, auch nicht übel: "Potential gäbe es: 'Günther' – die Zeitschrift für den ambitionierten Heimwerker (Beton); 'Elke' – das Magazin für die lesende Katzenfreundin; 'Alice' – sorry, die hat schon ein Magazin; 'Giovanni' – Mist, der hat auch sein eigenes Blatt; 'Boris' – der etwas andere Restaurantführer, Hotel- und Homestories, die man gar nicht wissen will; 'Veronica' – Selbstfindung zum Selbermachen vor Publikum ... ..." +++ TAZ dazu: "Damit folgt man Anna, Brigitte, Constanze, Laura, Iris, Mathilde, Petra und Sibylle. Und natürlich: der emanzipativen Emma." +++

+++ Dietrich Leder stellt in der Medienkorrespondenz Günther Jauch in eine Reihe mit Sepp Blatter, Anshu Jain und Jürgen Fitschen sowie Gregor Gysi, und zeigt sich seltsam optimistisch: "Man muss den Wechsel als objektives Eingeständnis eines ARD-Irrtums begreifen." Dabei hatte doch die ARD mit Jauch verlängern wollen. +++ "Wills re-entry auf den alten Sendeplatz markiert auch das Scheitern der Programmreform von 2011, die unter dem Motto 'Talk ist geil' (Herres) fünf Plauderrunden in der Woche vorsah. Das Ganze wurde damals als politische Informationsoffensive verkauft. Nun wäre Zeit, diese Offensive wirklich zu starten", würde Michael Ridder im epd medien-Tagebuch sagen und zückt die schwerste Waffe gegen Jauch, indem er Jauch selbst von 2009 zitiert. +++

+++ Der schon erwähnte René Martens hat wiederum für die MK den Ex-Talker Reinhold Beckmann in seinem neuen Namensformat angeschaut: "'Griechenland zwischen Urlaubsparadies und Albtraum' war der bisher beste Film der Reihe "#Beckmann" - was allerdings kein allzu großes Kunststück war angesichts der Qualität der vorherigen Reportagen". Fazit: Womöglich "versteht sich Reinhold Beckmann ... als eine Art Joachim Gauck der ARD." +++ Und die ARD sollte Frank Plasberg auf Wills Mittwochabend-Sendeplatz versetzen, und der sollte da "von Anne Will lernen" (dwdl.de). +++

+++ Eingekleidet in ein "möglicherweise" oder so was von der "radikalsten Attacke auf die Medienwelt, wie wir sie kennen", sprach Mathias Müller von Blumencron auf dem Kölner Medienforum NRW. Es ging um Facebooks neue News-Praktiken (horizont.net). +++

+++ Auch 'ne Attacke: Apples Entschluss, in der neuen Version des Mobilgeräte-Betriebssystems iOS Werbeblocker zuzulassen. Johannes Boie in der SZ: "Menschen, die auf Handys starren sind die Hoffnung ganzer Berufsgruppen: Werber, Marketingmenschen, Journalisten, allesamt wollen ihre Arbeit auf die kleinen Geräte beamen und von dort in die Köpfe der Menschen. Gut möglich, dass der Traum von zielgenauer Werbung auf den Handys bald ausgeträumt ist ... " +++ "Apples neuer Adblocker könnte die Branche deshalb antreiben, den Bereich der Bezahlangebote noch schneller auszubauen" (Tagesspiegel). Der Multimedia-Referent des Zeitungsverlegerverbands, Holger Kansky, glaubt ebd., dass Werbebotschaften umso eher "wie redaktionelle Inhalte daherkommen" werden. +++

+++ Daniel Bouhs hat für die TAZ den Krautreporter-Herausgeber Sebastian Esser befragt. "Besonders hart dürfte die Krautreporter treffen, dass ihnen nun ein anderes Projekt die Show stiehlt. In der Kampagne tönten sie noch: 'Was Mangelware ist, ist gute Recherche.' Die will schon seit ein paar Monaten das ebenfalls in Berlin ansässige Projekt Correctiv bieten, das mit einer gestern angelaufenen Kampagne 5.000 Unterstützer sucht, etwa für eine 'mobile Lokal-Redaktion'. Und genau hier klafft bei den Krautreportern auch nach einem Jahr eine Lücke: Sie berichten zwar gerne opulent aus dem Ausland, aber viel zu selten aus der deutschen Provinz." +++

+++ Bei der hier schon mal via MK annoncierten Anhörung des Hessischen Landtags zur Lage der Printmedien erblickte das Konzept der "Deutsche Zeitungstreuhand", die "das Überleben kleinerer und mittlerer Zeitungsverlage gewährleisten" möchte, das Licht der Welt (kress.de). +++

+++ "Köln kann sich darüber freuen, Deutschlands Medienhauptstadt zu sein – macht aber noch zu wenig draus" (Frank Olbert im Kölner Stadtanzeiger, der, wenn das so ist, aber eher wenig dazu beträgt). +++

+++ Wer einen griffifigen, nicht-digitalen Vergleich dafür braucht, was Netzneutralität ist: Die Deutsche Post hilft, Springers Welt zufolge. "Angeblich werden Pakete des Onlinehändlers derzeit von der Post bevorzugt behandelt. Um den Großkunden Amazon nicht zu verärgern ..." +++

+++ Gut in Form zeigt sich die FAZ-Medienseite: "Hat er inhaliert? Bei Gabor Steingart brennt wieder mal was durch", kommentiert sie diesen Newsletter, in dem der Handelsblatt-Haudegen vor einer Woche ausgerechnet dem Berliner CDU-Mann Frank Steffel "früheres Eintreten für den freien Cannabis-Konsum" vorwarf. +++ "Platte macchiato" lautet die Überschrift zur Besprechung der heutigen ARD-Semi-Schmonzette "Anderst schön" mit Charly Hübner (siehe auch nebenan).  +++ Und "Alt wirkte Rupert Murdoch schon immer. Und das war er ja auch ..." leitet Michael Hanfeld seinen Text zu Rückzugsplänen des Moguls ein. +++ Außerdem ebd. die Personalien, dass Ernst Waldemar Bauer, der "frühere Fernsehmoderator und Dokumentarfilmer", gestorben und Simone Jost-Westendorf nun Chefin der neuen NRW-"Stiftung Vielfalt und Partizipation" ist. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.