Geile Gene
Im Fall Julien Sewenig geht es auch um Unternehmensethik. Ein Gutachtertrio schlägt die „weitgehende“ Privatisierung von ARD und ZDF vor. Christoph Keese war wohl zu lange im „Valley“. Außerdem: Fühlt sich Herfried Münkler angesichts der Kritik des ihm gewidmeten Watchblogs „ernsthaft an die von nationalsozialistischen Studierenden errichteten Scheiterhaufen der Bücherverbrennungen erinnert“?

„Spinner oder Antisemit?“ fragt die taz, und gemeint ist damit ein „Mensch, von dem niemand weiß, wann er seine 1,2 Millionen Youtube-Fans wie die Kettenhunde loslässt“ (Christoph Kappes). Man müsste die taz-Frage also vielleicht abwandeln: Ist Julien Sewenig ein sehr gefährlicher oder weniger gefährlicher Spinner?

Für Leser, die in den vergangenen Tagen mit wichtigen Daseinsfragen beschäftigt waren und sich möglicherweise auf den „Zitter-Bibber-Ticker“ konzentrieren mussten: Sewenig ist jener Gentleman, der jenseits seiner 1,2 Millionen Kettenhunde in spe bekannt geworden ist, weil er dazu aufgerufen hat, Lokführer nach „Auschwitz zu transportieren“ und „zu vergasen“.

Christoph Kappes‘ Text zu diesem Thema ist einer Art offener Brief an Google:

„Dieser Fall (...) von Julien und seiner unsäglichen Vergasungs-Aufforderung, liegt in zweierlei Hinsicht anders als andere Fälle von Entgleisungen in Social Media: Erstens verdient er damit viel Geld, weil er mit solchen Stunts Aufmerksamkeit bündelt, die er bei Euch vermarktet bekommt. Zweitens: dass ihr selbst daran verdient, das finde ich in diesem Fall nicht in Ordnung. Ihr vermarktet antisemitischen Dreck (und dem Hörensagen nach noch Dreck mit anderen Attributen), unterstützt die Dreckschleuder mit einer Umsatzauskehrung und steckt euch eure Marge in die eigene Tasche.“ 

Es gehe hier also um „eine Frage der Unternehmensethik“, meint Kappes. Und angesichts dessen muss man natürlich fragen: Wie viel Geld ist hier konkret im Spiel?

„Mit seinem Blog habe (Sewenig), so sagt er es selbst, bislang mehr als 500.000 Euro verdient“, 

berichtet die taz. 

Jürgen Amendt vertritt im Neuen Deutschland die, vorsichtig formuliert: steile These, Sewering führe „konsequent“ fort, was „Ende der 1990er Jahre mit einem gewissen Stefan Raab begann“. Konkret ist von den Anfängen von „TV total“ die Rede. Aber gut, uns interessiert ja eher das Wirtschaftliche. Amendt schreibt:

„Wer den Spaß ernst nimmt und Sewerings Verbalinjurien ein politisches Statement unterstellt, hat die Funktionsweise dieses Geschäfts nicht verstanden. Was zählt, ist die Klickzahl - um jeden Preis! Bevor der Skandal um Sewerings GDL-Hassvideo begann, zählte der Clip knapp 200 000 Zugriffe, bis gestern Mittag war die Zahl bereits auf über 460 000 gestiegen. Sewering machte mit jedem Empörten, der sich selbst ein Bild machen wollte, Kasse.“

Andere Zahlen (aus der taz) sind ebenfalls aufschlussreich:

„(Sewerings) beliebteste Videos wurden mehr als vier Millionen mal angeguckt. Zum Vergleich: Die Sendungen von ‚Germany’s Next Topmodel‘ schauten rund 2,2 Millionen.“

[+++] Eben jene Sendung steht im Mittelpunkt eines anderen taz-Textes. Margarete Stokowski wettert hier auf sehr unterhaltsame Weise gegen

„die kapitalistische Krönung von Sexismus und Neoliberalismus in Form von Frauendressur mit Product Placement, und eine überraschungsarme Aneinanderreihung von Erniedrigungen, bei der junge Menschen dafür ausgezeichnet werden, dass sie geile Gene haben“.

Stokowskis Fazit: 

„Diese Sendung braucht keine elfte Staffel, sie braucht einen Vierzigtonner voll mit Erbrochenem von bulimiekranken Mädchen, der beim nächsten Finale vorfährt. Und ablädt.“

Bleibt nur die Frage: Fährt bald jemand mit einem ähnlich beladenen Kraftfahrzeug bei Herrn Sewenig vor? Dann könnte er mal testen, ob seine Kettenhunde was taugen.

[+++] In der FAZ freut sich Michael Hanfeld heute wie Bolle über einen „Denkanstoß, den die deutsche Rundfunkpolitik nötig hat“. Es geht um einen Plan, den drei Gutachter im Auftrag eines, so Hanfeld, „jungen Berliner Thinktank“ vorgelegt haben, der sich selbst als „Freiheitsinstitut“ bezeichnet:

„Der Vorschlag der Gutachter lautet: ARD und ZDF werden weitgehend privatisiert, mit den Erlösen der Privatisierung wird ein Stiftungsfonds gegründet, der ‚gesellschaftlich bedeutsame Programminhalte‘ finanziert. Für deren Auswahl ist eine unabhängige Kommission zuständig, „die aus Repräsentanten der Zivilgesellschaft bestehen soll und nicht von aktiven Politikern dominiert werden darf“. Deren Anteil sei auf 25 Prozent zu begrenzen, die Programmförderung sei in einem Wettbewerbsverfahren mit Ausschreibung zu gestalten.“

[+++] Weiter, immer weiter geht die Berichterstattung in Sachen Münkler-Watch (siehe zum Beispiel dieses Altpapier). Luise Hommerich hat für den Tagesspiegel einen aus der Bloggertruppe in einem Imbiss getroffen. Die Headline („Auf ein Falafel mit Herfried Münklers Feigling“) ist sehr hübsch, und eine Zwischenüberschrift („Der Blogger lächelt oft und wirkt sehr jung“) ist sehr bekloppt.

Was erfahren wir in dem Text? 

„Den angriffslustigen Ton, mit dem sie Münklers Vorlesung auf ihrem Blog kritisieren, hätten sie (...) bewusst gewählt: ‚Wenn man Kritik konstruktiv formuliert, wird man allzu oft nicht gehört.‘“

Ein anderer Artikel zum Thema - für den Freitag, ebenfalls von Hommerich - basiert auf dem Besuch einer Vorlesung vom 12. Mai, bei der viele Medienvertreter zugegen waren:

„(Münkler) gibt vor der Vorlesung noch eine Bemerkung zu Münkler-Watch ab: ‚Das, was die Studenten da machen, ist asymmetrische Kampfführung‘, sagt er ins Mikrofon. ‚Sie haben kaum eigene Ressourcen, aber sie nutzen meine Bekanntheit für ihre Sache.‘ Er vergleicht die Situation mit dem 11. September 2001. Die Attentäter hätten auch großes Leid anrichten können, ohne dass ihnen das World Trade Center gehörte.“

Hallo, Herr Professor, ist gerade Unordnung im Oberstübchen? Der Watchblog gibt Münkler an dieser Stelle so wieder:

„Vom Prinzip her funktioniere die Auseinandersetzung ähnlich wie Al-Quaida. Kernstück einer solchen Strategie sei das Verwenden der Ressourcen des Gegners.“

1933 statt 9/11 lautet dagegen die Marschroute des Analogie-Tausendsassas im aktuellen Zeit-Interview (Seite 42, Teaser hier): 

„Der Ressentimentdiskurs, den sie pflegen, erinnert mich an (...) hochschulpolitische Vorgänge des Jahres 1933." 

Die Blogger verwendeten ein Muster, das „auch antisemitisch eingesetzt worden“ sei, sagt er dort des weiteren. Möglicherweise kommt Münkler auch bald mit der Synthese um die Ecke, Münkler-Watch werde von faschistischen Djihadisten betrieben. Auf das Zeit-Interview hat der Blog bereits reagiert:

„Sehen Sie sich angesichts unserer kritischen Kommentare zu Ihrer Vorlesung ernsthaft an die von nationalsozialistischen Studierenden errichteten Scheiterhaufen der Bücherverbrennungen erinnert? Wir können uns das nicht so richtig vorstellen, dass Sie als historisch sensibilisierter Mensch hier keinen Trennstrich ziehen.“

[+++] Die Wochenzeitungen führen in ihren aktuellen Ausgaben auch diverse andere große Debatten weiter, der Freitag zum Beispiel jene über Instant Articles: 

„Natürlich sind Instant Articles ein weiterer Schritt hin zu einem proprietären, geschlossenen Netz, an dem Facebook mit einer Konsequenz arbeitet, die fatal an AOL-Zeiten erinnert . Ein weiterer Walled Garden also, in dem man es sich zwar wahnsinnig gemütlich machen kann, jedoch weder weiß, was man verpasst, noch was der Gärtner in Zukunft mit einem vorhat. Aber das war für Abonnenten einer beliebigen Kreiszeitung vor 30 Jahren vermutlich auch nicht viel anders.“

Und die Zeit hat zwei Autoren plus zwei Zuarbeiter mit einer Aufarbeitung von Seymour Hershs Obama-lügt-in-Sachen-Bin-Laden-Geschichte beauftragt. Gegenüber den Zeit-Leuten hat sich Hersh offenbar ähnlich griesgrämig geäußert wie in einem neulich dem im Altpapier zitierten Slate-Interview:

„‚Beweise!‘ Hersh ist hörbar genervt von solchen Fragen. ‚Nein, ich habe kein Dokument, das das alles belegt‘, sagt er der Zeit. ‚Wenn Journalisten nur dann berichten könnten, wenn sie Dokumente haben, dann könnten sie verdammt wenig schreiben!‘“

Abgesehen davon, dass ich natürlich nicht einschätzen kann, ob der 78-Jährige mit seiner Geschichte richtig liegt: Der letzte Satz ist super.


Altpapierkorb

+++ Die SZ interviewt auf der Feuilleton-Aufmacherseite die französisch-marokkanische Charlie-Hebdo-Redakteurin Zineb El-Rhazoui. Es geht um die ungute aktuelle Entwicklung („Die wichtigsten Entscheidungen werden inzwischen von Anwälten getroffen. Wir Journalisten werden überhaupt nicht mehr informiert“) - und ihre eigene Gefährdung: „Warum werden speziell Sie bedroht? Weil Sie in den Augen der Extremisten Muslimin sind - genauer gesagt, eine vom Glauben abgefallene Muslimin - und eine Frau? (...) - „Da ist vermutlich etwas dran: Eine Frau aus einem arabischen Land, die bei Charlie Hebdo arbeitet, besser Arabisch spricht und den Islam besser kennt als die beiden Attentäter (...) - die aber dennoch Atheistin ist.“ Die Kündigung El-Rhazouis (siehe Altpapier und auch hier) scheint aber vom Tisch zu sein („Die Vorladung, die ich letzte Woche erhielt - und die eine Vorstufe zu einer Kündigung ist -, wurde zurückgezogen“).

+++ Auf ihrer Medienseite stellt die SZ den am Donnerstag gestarteten Online-Kiosk Pocketstory vor, der „wie eine Art iTunes für Magazinartikel“ funktioniere. Die Texte, die im Angebot sind, sollen mindestens 5000 Zeichen lang sein. Aber: „Viele Artikel erscheinen bei Pocketstory erst eine Woche nach der Printausgabe.“ Bringt‘s das denn? Abgesehen davon, muss man immer mal wieder darauf hinweisen, dass man Songs, die man in Apples Kulturkaufhaus oder bei vergleichbaren Anbietern kauft, öfter hört als man 5.000+x-Zeichen-Artikel liest.

+++ „Sind Apps wie Pulse oder Flipboard – also Aggregatoren, die News nach den Wünschen der User zusammenstellen – auch eine Möglichkeit für lokale Verlage? Glauben Sie, dass deutsche User im Lokalen irgendwann Geld für solche Angebote zahlen werden? Glauben Sie, dass deutsche User im Lokalen irgendwann Geld für solche Angebote zahlen werden?“ will der Kölner Stadt-Anzeiger von Springers Executive Vice President Christoph Keese wissen. Vermutlich fragt Interviewer Michael Greuel das, weil es seine eigene Zeitung betrifft, aber Keese gibt eine wolkige bis gagaeske Antwort, die nicht untypisch ist für Leute, ein bisschen zu lange im „Valley“ gewesen sind: „Das kann ich so pauschal nicht beantworten. Wodurch unterscheiden sich lokale Verlage im Internet eigentlich von nationalen und globalen Verlagen? Sich selbst als lokaler Anbieter zu begreifen, ist ein Relikt aus der Print-Zeit.“

+++ Anfang Juni startet InPerspective, das „in einem globalen Onlinemagazin lokale Stimmen von Journalisten vor Ort zu einem Thema“ versammeln möchte (European Journalism Observatory).

+++ Man muss schon sehr speziell drauf sein bzw. - abgesehen vom Titel seines neuen Buchs - nie eine Zeile von Georg Seeßlen gelesen haben, um in ihm einen Tippgeber in Sachen Online-Dating zu sehen und ihm Fragen zu stellen wie: „Was sollte ein Single auf Online-Partnersuche also beachten?“ oder „Wie lässt sich unter den unzähligen Profilen Mr. oder Miss Right ausmachen?“ Lesen Sie das epochale Interview der Basler Zeitung!  

+++ Elisa Makowski porträtiert für epd medien (Seite 9, derzeit nicht online) den libyschen Investigativjournalisten Salah Zater, der derzeit im Rahmen eines Stipendiums der Stiftung für politische Verfolgte in Hamburg lebt: „Libyen führte 2014 die Länderstatistik zu geflohenen Journalisten von Reportern ohne Grenzen an. 43 wurden der Organisation gemeldet.“

+++ Her mit der Behördenknete, lautet gerade das Motto von „zehn kommerziellen lokalen und regionalen Fernsehunternehmen“ in Sachsen. Sie haben „Fördergelder bei der Medienanstalt des Bundeslandes beantragt“, berichtet die Medienkorrespondenz. „Die Sächsische Landesanstalt für neue Medien und privaten Rundfunk (SLM) hat in diesem Jahr einen Betrag von insgesamt 600.000 Euro zur Verfügung. Dass die SLM nun derartige Fördergelder verteilen kann, geht auf eine Änderung des sächsischen Privatrundfunkgesetzes im vergangenen Jahr zurück. Die finanzielle Lage der insgesamt rund 55 lokalen Fernsehsender in dem Bundesland ist seit längerer Zeit prekär.“ 

+++ „Katrin Oertel (...) hätte man vor sich selber schützen müssen, anstatt sie der TV-Kamera auszusetzen, in die sie erwartungsgemäß verwirrende und verwirrte Sätze ausstieß“, meint Daland Segler (Berliner Zeitung) zum Auftritt der „ehemaligen Sprecherin der Dresdener Zusammenrottungen“ in der gestrigen Maybrit-Illner-Sendung.

+++ Und Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt amüsiert sich in seinem Checkpoint-Newsletter über ein Richtungsstellungsbegehren der Berliner Grünen.

Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag nach Pfingsten.