Sag mir, wo die Blauen Blumen sind
Jean-Claude Junckers nicht autorisierte Nierensteine, "amerikanischer Medienimperialismus" und der Springer-Touch bei politico.eu. Der Print-Gipfel flacht weiter ab. Zartfühlige Helden der veröffentlichten Meinung dürfen sich nicht mürbe machen lassen. Ein Plädoyer gegen zu viel Rücksichtskultur. Außerdem: Spitz ist das neue Breit.

Was macht der Journalismus, hat Richard Gutjahr nach seinen viel beachteten Auftritten der letzten Woche (Altpapiere vom Montag, vom letzten Mittwoch) nun auf Journalismustagen in der Schweiz oder Vaduz seine neuen Thesen weiter differenziert?

Offenbar nicht, nur horizont.net würdigt noch mal seinen Wiener Auftritt  ("... Gutjahr hat seine Blaue Blume verloren und ist melancholisch geworden").

Bei der Horizont handelt es sich ja um eine Werber-Zeitung bzw. im Netz um eine "Plattform fu?r Marketing, Werbung und Medien". Und just veranstaltete sie ihre eigenen Journalismustage, in Frankfurt wiederum, deren bereits traditioneller Name "HORIZONT Print-Gipfel" ein bisschen arg zum Kalauern einlädt. "Auflagenrückgänge der deutschen Presse flachen ab", lautet schließlich die positive Wendung, die sich den jüngsten, ebenfalls gestern veröffentlichten Auflagenzahl-Meldungen der IVW abringen lässt. Falls Details interessieren: "Am besten hielten sich noch Der Tagesspiegel, die Rhein-Zeitung und der Donaukurier mit einem Minus von weniger als 1%", dröselt meedia.des Jens Schröder auf.

Erwartungsgemäße Aussagen hochrangiger Verlagsvertreter hagelte es natürlich dennoch vom Print-Gipfel. "Print ist gnadenlos. ... Zeitschriften haben keinen Second Screen" (sagte ein Bauer-Manager), "Print hängt nicht am Algorithmus" (sagte ein Springer-Manager) lauteten sie etwa. "Springer sieht sich dabei als einer der zentralen Player, wenn es darum geht große Bündnisse zu schmieden", informierte dazu horizont.net. Damit zur tagesaktuell meist beachteten Frage: Wie kommt Springers jüngstes partnerschaftliches Medienerzeugnis, das noch ungedruckte (am Donnerstag werden Zeitungen in Brüssel zu haben sein), aber gestern (Altpapier) online freigeschaltete politico.eu bei den Mitbewerbern um die Aufmerksamkeit an?

[+++] "Richtig knallig ging es am Dienstag nicht los", meint der Brüsseler Korrespondent der FAZ, heute auf deren Medienseite. Der Tagesspiegel sieht's ähnlich. Weder dass Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker "nicht zum ersten Mal ... den Verbleib Griechenlands in der Eurozone beschwört", noch "ein Papier zum digitalen Binnenmarkt", das politico.eu "exklusiv zu haben" schien, seien viel Aufsehen wert, findet Joachim Huber (wobei netzpolitik.org diesem Papier durchaus netzpolitisches Aufregungs-Potenzial abgewinnt und dann auch Politicos Publikationsform lobt).

FAZ-Korrespondent Werner Mussler hebt vor allem auf Jean-Claude Junckers Nierensteine ab, die der Politico-Artikel "Juncker’s crippling pain" exklusiv enthüllte. "Die Nierensteine waren nicht autorisiert", lautet seine Überschrift:

"Fraglos sollen solche Geschichten den journalistischen Stil in Brüssel verändern - im Notfall durch Tabubruch. Ob sich diese Art von 'Human Touch' auf Dauer durchhalten lässt, ist ebenso offen wie die Frage, wen das interessiert. Die Nierenstein-Geschichte war nicht mit Juncker abgesprochen, und in dessen Umgebung ist man wenig erbaut, dass die nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Plaudereien des Kommissionschefs in einem eigenen Artikel aufgearbeitet wurden. Für die 'Politico'-Macher ist das natürlich irrelevant. Sie werden den Brüsseler Politikern auch künftig einiges zumuten, was sich andere Journalisten vielleicht weniger leisten können oder wollen."

Selbstredend lässt Mussler durchblicken, dass Junckers gesundheitliches Problem ihm zuvor nicht unbekannt war. Gerade der Nierenstein-Artikel war eben eine "Duftmarke", würde die nun schon mehrfach zitierte Horizont sagen: "Eine große Geschichte über die gesundheitlichen Probleme von Kommissionspräsident Juncker würde man in dieser Form in der 'FAZ' oder der 'NZZ' wohl kaum finden". Um "frischen Wind in die zuweilen stark ritualisierten Berichterstattung aus dem Riesenapparat EU zu bringen", greife politico.eu auch zu "Personalisierung als Mittel, Politik greifbar zu machen".

"Allerdings ist es 'Politico Europe' kaum gelungen, journalistische Schwergewichte aus Kontinentaleuropa an Bord zu holen - weshalb die Gefahr besteht, dass die Publikation als amerikanisches Medium wahrgenommen wird",

wendet der andere Inbegriff von Seriosität, die Neue Zürcher Zeitung, ein. Tagesspiegel-Huber vermag das noch zuzuspitzen:

"Mit Springer als gleichberechtigtem Medienpartner soll auch der Eindruck vermieden werden, hier würde der US-Medienimperialismus einmarschieren."

Und ein bisschen lässt sich der sog. Human touch, der auch dem Medizinischen eigene Schlagzeilen widmet, ja auch als Springer-Touch im amerikanischen Politico-Umfeld sehen. Zumindest steckt mit Florian Eder einer der wenigen Deutschen im politico.eu-Team (in dem er den schönen Titel "Managing Editor, Expansion" trägt) als Co-Autor hinter dem "Crippling pain"-Artikel.

[+++]   Damit endlich zu tagesaktuellen Einschätzungen des Journalismuszustands.

"Tatsächlich hat guter Journalismus eine Nachfrage, die höher ist denn je. Je komplizierter die Welt wird, desto mehr braucht es verlässliche Filter", schreibt Christian Meier in der Welt (nicht in der komplizierten, in Springers) und reagiert damit vor allem auf einen bildblog.de-Grundsatzartikel.

"Warum werfen die Kritiker der Kritiker alle Widersprechenden in denselben Topf und beklagen sich selbstgerecht darüber, dass alle Journalisten in einen Topf geworfen werden? Der sekundenschnelle Dauerkampf um Fakten und Meinungen macht manchen mürbe",

dichtet Rainer Stadler schön rätselhaft im Medienblog der NZZ und teilt kräftige Denkanstöße an solche "Helden der veröffentlichten Meinung" aus, die auf so "zartfühlige Art" auf Kritik reagieren, wie sie ihren Artikeln kaum anzumerken ist, ohne damit ansatzweise Lob der "Untergeschosse der digitalen Informationsvermittler" zu verknüpfen. Wer im Dauerkampf ein paar Sekunden frei räumen kann, ist zum Entschlüsseln eingeladen.

Am instruktivsten ist, was Patrick Gensing, "Nachrichtenredakteur, Blogger und Buchautor", in ersterer Funktion bei tagesschau.de und in mittlerer vor allem Betreiber von publikative.org, bei vocer.org sagt.

Ob Interviewerin Carla Reveland gut beraten war, dem Interview außer einer kleinen Schilderung des Hamburger Schanzenviertels auch noch die Information voranzustellen, dass Gensing schon vorher ihr "journalistisches Vorbild" war, ist eine andere Frage. (Andererseits, zum Autorenfoto passt die Info irgendwie ...). Jedenfalls ist ihr Interview wirklich gut, und Gensing sagt kluge Dinge wie etwa:

"Wenn man jeden Unsinn, der geschrieben wird, entkräften muss, verrennt man sich und das ist auch nicht unsere Aufgabe."

Und dann auch, worin seiner Ansicht nach die Aufgabe liegt:

"Ich bin ein großer Freund von Journalismus mit Haltung, weil ich mich daran viel besser abarbeiten kann. Ich glaube, dass man die Leute eher gewinnen kann, wenn im Journalismus eine Haltung vertreten wird, als wenn da irgendwie einfach nur Fakten angehäuft werden. Das ist in meinen Augen auch überhaupt nicht Journalismus. Einfach nur Fakten zu liefern und sagen, wir können das nicht beurteilen und wissen das nicht. Das zu beurteilen ist doch genau unser Job."

Explizit wendet er sich gegen "dieses Einsammeln der Leute, diese Rücksichtskultur, die Ängste der Leute auffangen, ich glaube da sollte man nicht zu weit gehen."

Wobei andererseits, dritterseits zu den oben erwähnten aktuellen Auflagenzahlen rein rechnerisch auch diese Grafik gehört, die Dieter Stein, der Chefredakteur der Jungen Freiheit, auf Twitter zur Verfügung stellt. Die absolute Zahl ist etwas weniger eindrucksvoll als der blaue Balken im Vergleich mit den roten, aber zur Lage gehört auch das. Es bleibt kompliziert.
 


Altpapierkorb

+++ "... Als Nächstes erwarte ich 'Stern Hot Wheel' und 'Stern Bachelor'. Ich verstehe das als Folge eines Generationenwechsels bei Gruner. Wurden Jahre der nötigen Weiterentwicklung des Verlags durch den gepflegten Dämmerzustand der Generation Valium verschlafen, haben die frechen, jungen Leute, die jetzt den Laden leiten, den Sexualtrieb als Antriebsfeder entdeckt. 'Spitz ist das neue Breit', ruft der Verlag als Losung aus. Was vielleicht heißt, dass bald auch andere Line-Extensionen kommen. 'Brigitte Vagina' zum Beispiel":  Da würdigt die TAZ-Kriegsreporterin Gruner + Jahrs neueste Zeitschriften-Weiterentwicklung. +++

+++ Außedem informiert die TAZ über einen in England wegen seiner "hate speech" umstrittenen The Sun-Kommentar und über den Reiz, den Top-Level-Domains aus Kasachstan, Saudi-Arabien und dem Süd-Sudan für deutsche Nazis haben.  +++

+++ Die SZ-Medienseite hat mit Kai Wiesinger telefoniert, wegen einer myvideo.de-Webserie von und mit ihm, und mit Eva Weissenberger, der neuen Chefredakteurin des österreichischen, mehrheitlich von G+J besessenen Magazins News, von Angesicht zu Angesicht gesprochen: "Ein bisschen üben müsse sie auch noch, sagt sie und grinst. Für das aktuelle Heft hat sie ein Porträt der Fernsehmoderatorin Barbara Schöneberger geschrieben, weil sie sich als Politik-Süchtige auch ins People- und Promigenre einarbeiten will. Eine halbe Stunde, aber ohne Shooting, habe die Agentur ihr zugesagt. Also kam die News-Chefin gleich ganz ohne Fotografen. Was die Agentur eigentlich gemeint hatte, dass die Zeit für das Shooting noch dazukommt, erfuhr sie dann. Das Foto wurde später zugekauft." +++

+++ "Er wuchs als Reporter in eine Zeit, als die Abgründe des Sports noch nicht so ausgeleuchtet wurden wie heute. Man berichtete über Legenden und wurde darüber selbst auch ein bisschen legendär", steht im Print-SZ-Nachruf auf Werner Zimmer. Das bezieht sich auf die Tour de France und Zimmers Rolle im Radsport-Fernsehen, klingt aber ein wenig so, als würden die Mr. Sportschaus der Gegenwart Abgründe ausleuchten anstatt Phrasen zu dreschen, solange Sendezeit gefüllt werden muss... Wie noch mal Zimmer in seinen aktiven Zeiten aussah, zeigt seine Heimatanstalt, der Saarländische Rundfunk. +++

+++ Auf der FAZ-Medienseite würdigt Patrick Bahners so analytisch ("Digitales Tempo ist nicht entscheidend, sondern Erkenntnisgewinn") wie verspielt ("Tony Messenger (was für ein Name für einen Journalisten!)") die jüngsten Pulitzerpreis-Vergabe. Auf "postume Genugtuung für [David] Carr, den schmerzlich vermissten Drastiker, der Medienkritik immer als Selbstkritik betrieb, aber auf Selbstachtung nicht verzichten mochte", geht er ein, nicht aber auf die in den Medienmedien rundgehende Story um "das Blatt für den täglichen frischen Wind in Torrance". +++ Also die Daily Breeze, um die diese Geschichte rundgeht: "Wegen mieser Bezahlung im Job/ Pulitzer-Preisträger wirft Journalismus hin" (n-tv.de, turi2.de). Bzw.: "... Then there was Mr. Kuznia. The former education reporter left The Daily Breeze last August, he said, to become a publicist for the U.S.C. Shoah Foundation at the University of Southern California. The reasons were economic, he said" (New York Times). +++

+++ "Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur meldete die Einrichtung eines Digitalradio-Boardes, um die Beteiligten an einen Tisch zu bringen und den Abschaltungsprozess in die Gänge zu leiten", und zwar den Abschaltungsprozess für UKW-Rundfunk (digitalfernsehen.de). +++

+++ "Es gibt viele kluge Ansätze in den Ausführungen, aber die Autorin schwingt vor allem wieder eine Keule gegen ARD und ZDF. Schon in der Einleitung wimmelt es nur so von Schlagwörtern wie Hydra, Krake oder Größenwahn. Manchmal erinnern die Ausführungen an Schriften von Verschwörungstheoretikern, so oft ist von 'seltsamen Geheimhaltungsklauseln' und 'dubiosen Quersubventionen' die Rede. Joens hat zwar dank vieler Gespräche und leidvoller Erlebnisse tiefe Einblicke ins öffentlich-rechtliche System, lässt ihren Anklagen aber oft keine Belege folgen - und wenn doch, dann sind sie nicht richtig": Da hat Tilmann P. Gangloff für epd medien das Buch "Korrupte Medienmacht" der ehemaligen Drehbuchautorin Nicole Joens gelesen. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.