Brausekopf mit Manieren
Der „flamboyanteste Feuilletonist der Nachkriegsjahrzehnte“ ist tot. Ein Schweizer Journalist will in die Politik. Außerdem: eine Empfehlung, die sog. Wallraff-Urteile zu lesen; Antifeministen, die sich benehmen wie ein „Kleinkind, das einen Wutanfall bekommt, weil es seine Süßigkeiten teilen soll“; ein nicht mal 30-Jähriger, der das „junge Internet“ nicht mehr versteht.

Welcher deutsche Alphajournalist hat gerade gesagt, er wolle nicht mehr „an der Seitenlinie stehen und die Politik nur beschreiben und kommunizieren“ bzw. nicht weiter „Däumchen drehen“, weil er festgestellt habe, dass er „in den Strudel und in das politische Getümmel rein muss und versuchen muss, dort Einfluss zu nehmen, wo die Politik bestimmt und umgesetzt wird“.

Keiner, gesagt hat es vielmehr Roger Köppel, aber es wäre doch eine hübsche Vorstellung, wenn nicht nur er, der mit dem Führen der Weltwoche nicht mehr ausgelastet ist und nun für den Schweizer Nationalrat kandidiert, sondern auch Julian Reichelt, Ulf Poschardt und andere deutsche Seitenlinien-Däumchendreher „in die Politik“ gingen, wie das oft heißt. Jedenfalls gäbe es dann weniger Gründe, sie im Altpapier zu erwähnen. 

In einer SZ-Medienseitenmeldung heißt es zu Köppels geplantem Karriere-Move

„(Er) begründete den Schritt mit der zunehmenden Einflussnahme fremder Mächte, gegen die man die Unabhängigkeit der Schweiz verteidigen müsse.“ 

Aber muss nicht auch Deutschland gerade vor „fremden Mächten“ verteidigt werden? 

[+++] Nicht sehr erquicklich ist ja die Debatte um die gestrige und die heutige Titelseite von Deutschlands größtem Abendland-Fanzine. Bernd Riexinger (Die Linke) fällt dazu „Bild lügt“ ein. Was im Prinzip stimmt, nur sind die Forderung „Nein - Keine weiteren Milliarden für die gierigen Griechen" und Selfie-Produktionsaufrufe alles Mögliche, aber keine Lügen. Schlimmer noch, dass Riexinger bei der Verkündung seiner Message vor Karl & Rosa posiert und dabei drein blickt wie ein Fahrschullehrer auf einem Lokalzeitungsfoto anlässlich des 40. Firmenjubiläums. Die heutige Bild-Titelseite kommentiert im Tagesspiegel-Checkpoint Lorenz Maroldt.

In Sachen Griechenland empfehlen wir da lieber Yanis Varoufakis pur. Besser gesagt: die zirka 39.000 Zeichen, die die Zürcher WoZ von ihm publiziert, damit wir besser einschätzen können, womit wir es bei diesem Polit-Popstar bzw. „Halbstarken“ (Volker Kauder) zu tun haben. Es handelt sich um einen Blogbeitrag von 2013 unter dem Titel „Rettet den Kapitalismus!“ 

„Der heutige griechische Finanzminister erklärt, warum man zunächst das System vor sich selber schützen muss“, 

erklärt uns dazu die WoZ.

[+++] Der Name des heute schon erwähnten Ulf Poschardt fällt auch in einem Interview, das konkret mit der feministischen Journalistin Laurie Penny anlässlich des Erscheinens ihres  Buchs „Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution“ geführt hat. Es geht zu Beginn des Gesprächs um Männer, die sich durch die Genderdebatte „diskriminiert fühlen“:

„Bei großen Zeitungen beschäftigte deutsche Journalisten wie Ulf Poschardt oder Harald Martenstein behaupten, ihnen würde nur noch der Katzentisch zugewiesen. Was würdest du ihnen antworten?“

Die Befragte kann Poschi und Harry nicht kennen, aber die Frage liegt nahe, denn man kann davon ausgehen, dass es Poschis und Harrys auch anderswo gibt. Penny meint:

„Es wird diese Typen immer geben, meist mächtige, respektierte weiße Männer, die daran gewöhnt sind, ihren Platz immer ganz vorne zu haben, und sehr wütend darüber sind, dass sie jetzt plötzlich teilen sollen. Das ist wie mit einem Kleinkind, das einen Wutanfall bekommt, weil es seine Süßigkeiten teilen soll. Diese Männer betrachten die allmähliche Erosion ihrer unverdienten Macht als eine Unterdrückung, weil sie nie wirklich welche erlebt haben.“ 

Passend dazu: Antje Schrupps Beitrag für die März-Ausgabe der Blätter, in dem sie darlegt, dass  Antifeministen gemessen an ihrem tatsächlichen Anteil in der Gesellschaft medial überrepräsentiert sind. Laurie Penny ist i.Ü. auch der Feuilleton-Aufmacher der Zeit gewidmet. Für ihr neues Buch habe sie „Nummer 17 ihrer journalistischen Regeln brechen“ müssen („Wenn du eine Frau bist oder dunkle Hautfarbe hast, lass dich nicht dazu nötigen, jede deiner Geschichten zu ‚personalisieren‘“), sagt sie dort unter anderem. Zeit-Autorin Marie Schmidt zitiert von den gerade veröffentlichten „30 Ratschlägen für werdende Journalisten“, wie sie, Schmidt, sie nennt, des weiteren den ersten („Sorge dafür, dass du bezahlst wirst. Selbst wenn du es dir leisten kannst, umsonst zu arbeiten, wirst du den anderen die Preise verderben“) und Nummer 24 („Lies keine Kommentare. Lies sie NICHT. ICH SEHE, WIE DU SIE LIEST. Stopp“).

Die beiden letzteren Ratschläge sind ja das Gegenteil von dem, was die meisten Männer - denn Männer sind es ja in der Regel - behaupten, die hier zu Lande die Rolle des Experten spielen dürfen. Mein Lieblingsratschlag ist ja Nummer 7 (im Original):

„Read. Read everything. Read fiction, non-fiction, essays, academic papers. It will ALL be useful someday.“

Ach, beherzigten dies doch nicht nur die „jungen“ Journalisten, an die sich Penny damit richtet, sondern auch die nicht mehr ganz so jungen, aber das ist natürlich ein frommer bzw. naiver Wunsch. 

[+++] Wolfgang Michal hat die beiden entscheidenden Urteile gelesen, die viele, die in Sachen Sebastian Heiser Meinungsstarkes performt haben, offenbar nicht gelesen haben. Man könnte an dieser Stelle Laurie Penny variieren: Lest auch Gerichtsurteile! Vor allem, wenn sie was mit Medien zu tun haben. Michal jedenfalls wertet die Urteile des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Springer vs. Wallraff aus:

„Die Lektüre der beiden Urteile von 1981 und 1984 ist jedem zu empfehlen, der sich über #tazgate und #sz-leaks eine eigene Meinung bilden will. Denn der Bundesgerichtshof – und später das Bundesverfassungsgericht – haben das Interesse der Öffentlichkeit, über gesellschaftliche Missstände (auch in Redaktionen) informiert zu werden, höher bewertet als es im angeblichen ‚Spionage-Fall taz‘ jetzt von ‚Experten‘ und Journalisten diskutiert wird (‚Kollegen ausspionieren geht ja gar nicht‘). Artikel 5 Grundgesetz macht Presse-Redaktionen nämlich nicht automatisch zu einer recherche-freien Zone. Das wird von beiden Gerichtsurteilen übereinstimmend hervorgehoben.“

Dies nur zur rechtlichen Einordnung. Die Frage, wie viele Tassen Heiser im Schrank hat, ist eine andere. Noch mehr in dieser Angelegenheit: Dass der Welt-Mann Robin Alexander nicht würde darauf verzichten können, auf Silke Burmesters am Mittwoch hier erwähnte Kriegsreportage zu replizieren - darauf hätte man wetten können.

[+++] Anlässlich des Todes des Literaturkritikers und Fritz J. Raddatz republiziert stern.de ein Interview mit dem „Großkotz“, das im März 2014 erschienenen ist - in jenem Monat, als auch das SZ-Magazin eines führte, das nun ebenfalls noch einmal unters Volk gebracht wird. Aber es fehlt natürlich auch nicht an Nachrufen auf den „einschlägig vorgewarnten Sprachvergewaltiger“ (Hans Mentz, Titanic, 2010 allerdings) bzw. „flamboyantesten Feuilletonisten der Nachkriegsjahrzehnte (...), der eine öffentlich zelebrierte Existenz zwischen Marxismus und Lebenskünstlertum führte“ (SZ heute) oder, kürzer, „einen der originellsten deutschen Großkritiker“ (taz-Titelseite). 

Für die FAZ ist Volker Weidermann, einer der nicht so originellen Nicht-Großkritiker, am Start:

„Frank Schirrmacher, der frühere Feuilleton-Herausgeber dieser Zeitung, hat immer wieder betont, dass er niemals Journalist geworden wäre ohne das Erlebnis Fritz J. Raddatz. Ohne diesen Brausekopf, diesen Themenfinder, Menschenentdecker. Der sicher oft seine Texte zu schnell, zu flüchtig schrieb, sich von seinem eigenen Furor mitunter zu sehr mitreißen ließ (...) Marcel Reich-Ranicki hat in dieser Zeitung einmal ein Zeit-Dossier, das Raddatz über deutsche Exil-Literatur geschrieben hatte, brutal zerpflückt. Fehler um Fehler wies er dem Konkurrenten aus Hamburg nach. Es blieb nicht viel übrig. Es war ein Desaster. Ja, aber (...) wie viele Langweiler gibt es, die keine Fehler machen?“

Für Zeit Online in die Tasten gehauen hat Theo Sommer, der bei der Wochenzeitung, als Raddatz dort Feuilletonchef war (1975-1986) ebd. auf dem Chefredakteurssessel saß. Dass Sommers Texte ins Parodistische abdriften, ist nicht neu. Dass dies auch für einen von ihm verfassten Nachruf zutrifft, beweist, dass der Mann seine Corporate Identity in eigener Sache zu pflegen weiß:

„Er war Genie, Geck und Galan, Paradiesvogel, Polemiker und Provokateur, ein Mann der Manieren und der Manieriertheiten.“

In der Welt geht ein „Er war ...“-Satz über Raddatz so weiter: 

„ ... einer der wenigen umfassend Gebildeten und Interessierten unter den deutschen Literaturmenschen.“ 

Tilmann Krause schreibt das. Vielleicht kann man ja sagen, dass Raddatz Laurie Pennys Regel Nummer 7 bereits beherzigt hat, bevor diese niedergeschrieben wurde. Woran sich „umfassendes“ Gebildetsein heute festmacht, ist eine andere Frage. Den Namen Laurie Penny zum Beispiel wird Raddatz nie gehört haben, so viel darf man sagen, ohne ihm zu nahe zu treten. Und man darf ja noch ganz andere Sachen sagen:

„Zu seinem Unglück gehörte, dass er zuletzt ein Gnadenbrot bei der Welt am Sonntag verzehren durfte, in einem Altersheim für abgedankte Feuilletonkräfte“,

schreibt zum Beispiel Willi Winkler in dem bereits zitierten SZ-Artikel.

Und ausnahmsweise, so nun wieder Krause,

„verrät man kein Geheimnis, verletzt auch kein Dekorum, wenn man an dieser Stelle sagt: Fritz J. Raddatz hat seinem Leben selbst ein Ende gesetzt“.

Schließlich habe er „mehrfach angekündigt“, dieses zu tun. Weiter mit Sommer:

„Morgen wird, einen Tag nach seinem Freitod und nur drei Wochen nach einem fröhlichen Empfang, den Alexander Fest für ihn gab, sein letztes Buch erscheinen: Jahre mit Ledig – eine Erinnerung.“

Mit „morgen“ ist der heutige Tag gemeint. Wer vor einem schnellen, todesnachrichtlich beeinflussten Kauf zurückschreckt, aber trotzdem wissen will, was drin steht in dem Buch, setze sich in ein Café und lese die Zeit, die auf Seite 45 was vorabgedruckt hat.


Altpapierkorb

+++ „Ich habe den Anschluss verloren. Es ist nicht ganz einfach, sich das einzugestehen. Ich bin noch keine 30 Jahre alt und arbeite in einer Branche, in der Medienkompetenz nicht bloß eine gern genutzte Floskel, sondern auch gleich obligatorische Berufsanforderung ist. Aber die Wahrheit ist eine andere. Die Wahrheit ist: Ich verstehe das Internet nicht mehr. Zumindest das neue Internet nicht. Oder sagen wir: Das junge Internet“, schreibt in der Welt Dennis Sand. Zu denen, die er nicht versteht, gehört zum Beispiel „Sami Slimani, der Schopenhauer der YouTube-Generation“.

+++ Warum YouTube-Straßenexperimente Boulevardfernsehen sind, erklärt Daniel Bröckerhoff (Vice).

+++ Acht foto- und fünf Textseiten spendiert sich das Zeit Magazin, um „die erstaunliche Erfolgsgeschichte der einzigartigen New York Review of Books“ zu feiern. „(Sie) bietet der unaufhaltsamen, blitzschnellen Internetkultur immer wieder schöne Landeplätze in der Ideengeschichte an“ und lobt insbesondere das Video-Format Talking Heads, eine Kooperation mit Vice.

+++ Die Entscheidung der US-Aufsichtsbehörde FCC für „strenge Regeln zur Wahrung der Netzneutralität“ habe „Signalcharakter für Europa“, meint Zeit Online. Und SZ.de: „Der Kampf hat gerade erst begonnen“ bzw. „Die Debatte ist (...) nicht vorbei“, denn „Breitband-Unternehmen und Republikaner kündigen Widerstand an“.

+++ Aus der Kategorie nicht so furchtbar bekannte Journalistenpreise: der Medienpreis Politik des Deutschen Bundestages. Was für ihn spricht (wenn man ihn gewinnt): Es gibt 5.000 Ocken. Die bekommt in diesem Jahr die Hörfunkjournalistin Martina Meißner für ihren Beitrag „Die Einführung der Zwischenfrage im Deutschen Bundestag“, den WDR 5 in seiner Reihe „Zeitzeichen“ sendete (journalisten-bloggen.de).

+++ Einen weitaus bekannteren Preis hat Giovanni Trollo gewonnen, nämlich beim World Press Photo Award (siehe Altpapier) einen in der „Contemporary Issues category“. Der Bürgermeister der Stadt Charleroi, die in der prämierten Serie nicht so gut wegkommt, wirft dem Spitzenknipser nun vor, er habe zum einen Fotos inszeniert und zum anderen welche verwendet, die etwas ganz anders zeigen, als der Bildtext suggeriert. Petapixel berichtet.

+++ Der „Ein-Wort-Satz“ bzw. die „Binnenpointophilie“ habe „Konjunktur“, weiß Georg Seeßlen (konkret). Heribert Prantl war mit „Alt. Amen. Anfang“ möglicherweise ein Trendsetter. 

+++ Bei Wiederholungen von Serienfolgen erhöhen Privatsender leicht die Geschwindigkeit, um mehr Werbung reinquetschen zu können. Die Welt hat‘s gemerkt - und erwähnt eine „Seinfeld“-Folge, die „um rund sieben Prozent beschleunigt“ wurde.

+++ Der Tagesspiegel und die FAZ gehen auf die aktuelle Gebührendiskussion in Großbritannien ein, letztere unter der Headline „Soll die BBC werden wie ARD und ZDF?“. Hintergrund: Der „Parlamentsausschuss empfiehlt Finanzierung nach deutschem Vorbild“, also das Gebührenmodell abzuschaffen und eine Haushaltsabgabe einzuführen.

+++ Wie ist/wird die dritte Staffel von „House of Cards“? Die New York Times hat sie schon gesehen. Und Claudia Fromme (SZ, Seite 43) weiß, was Kevin Spacey gesagt hat, „in einer Telefonkonferenz vor ein paar Tagen“, nämlich: „‚Ich imitiere keinen besonderen Politiker – eher Typen.‘ Vielleicht sei genau das die Stärke der Serie: dass sie es im Ungefähren lasse, was wahr ist oder erfunden.“

+++ Am 13. März schon was vor? Dann tagt der ZDF-Fernsehrat erstmals öffentlich. Darüber informiert uns die Medienkorrespondenz („Ab dem 2. März können sich Interessierte über das Internet-Angebot des ZDF-Fernsehrats als Besucher der kommenden Sitzung anmelden“). 

+++ Mehr in Sachen ZDF-Politik: Maren Müller (Publikumskonferenz), deren Fans bei Telepolis meedia.de gerade nahelegt, die Kirche im Eigendorf zu lassen, bittet um Anmerkungen zu ihren Änderungs- und Ergänzungsempfehlungen für die ZDF-Staatsvertrags-Anhörung.

+++ Fernsehen heute: „Olli Dittrich mimt den Spießer - eigentlich fabelhaft“, aber „in dem engen Korsett aus Drehbuch und Regieanweisung (geht) Dittrichs Witz leider verloren.“ Das schreibt Anne Fromm (taz) über den arte-Spielfilm „König von Deutschland“.

+++ Am Wochenende im Fernsehen: „Mujib - ohne Eltern auf der Flucht“ (in der ARD-Reihe „Gott und die Welt“). Die Reportage erzählt die Geschichte eines jungen Flüchtlings aus Afghanistan, den die Entscheidungen Hamburger Behörden derart in die Verzweiflung treiben, dass er kurzzeitig seinen Lebensmut verliert. Eine Besprechung von mir ist in der taz Nord erschienen.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.