Zungenschläge im Internet

Scharfe Springer-Kritik, berechtigte Illner-Kritik. Und Kritik an Journalisten, die ISIS-Mörderpornos anschauen. Ganz woanders ist die Zivilgesellschaft erst recht gefragt. Außerdem: Das ZDF produziert Serien nun auch für die Mediathek (und plant Innovationen!)

Hach, ein übersichtliches Bild von der Welt zu haben, jeweils nicht im Springer-Sinne, wäre auch mal wieder schön. Wenigstens in abgrenzbaren Detailaspekten. Aber ach, auch heute wird das wieder nichts.

Was zu den nicht ungeheuer zahlreichen Vorwürfen gehört, die die Springer-Presse nicht oder sogar nie verdient: alles mit Antisemitismus. Kann umgekehrt ein Schuh draus werden?

"In den dunklen Seiten des Internets, rechter Blogs und Stürmers Springers Kampfpostillen ist gerade kein 'Argument' blöd genug, um die Schrecklichkeiten der Syriza-Minister anzuprangern",

leitet Robert Misik in seinem Blog einen ausführlichen Beitrag ein, der den vor sechs Tagen erschienenen Welt-Artikel "So judenfeindlich sind Tsipras und seine Leute" scharf kritisiert. Misik macht das mit Bezug auf yanisvaroufakis.eu, den englischsprachigen Blog des telegenen Finanzministers, und andere Quellen ("Es kommt da sehr stark auf die Zungenschläge an. Vorschnelles Freisprechen kann genauso doof sein wie vorschnelles Verurteilen"), die der Welt-Autor Thomas Weber bemüht und verlinkt. Nachdem untendrunter der eloquente Welt Vertreter Ulf Poschardt ausführlich geantwortet hat, schreibt Misik im Rahmen einer ausführlichen Antwort: "Wir wollen unsere Zeit jetzt auch nicht ewig mit Varoufakis-Exegese totschlagen".

Könnten wir aber, und hätten auch Grund dazu, wie etwa Misik schon am noch öffentlichkeitswirksameren Beispiel des noch aktellen Spiegel-Titels (Altpapier vom Dienstag, carta.info) gezeigt hat. Wir müssten uns aber entscheiden, ob wir uns auf Varoufakis-Äußerungen konzentrieren, die unmitelbar auf die deutsche Tages- bzw. Wochenaktualität widerspiegelnde Medien zugeschnitten sind, wie das große Die Zeit-Interview (das bereits Frank Lübberding bei wiesaussieht.de analysiert hat). Oder ob wir vielleicht, wie die Misik verbundene TAZ es heute doppelt tut, die Frage nach einer "rhetorischen Strategie" der neuen griechischen Regierung aufwerfen (Ulrike Herrmann auf der Meinungsseite), die außerdem unter Gender/ "Männer"-Aspekten dankbar sein könnte:

"Was für ein Bild: Bewaffnet mit Gummihandschuhen und Besen kehren (!) die Frauen zurück in die Amtsstuben. Moment mal: Wirklich nur Putzfrauen? Gibt's in Hellas keine Putzmänner? Umgekehrt sieht es mit den Nicht-Putzfrauen aus. Im Kabinett von Tsipras sitzt keine einzige Frau",

beklagt Klaus Walter in seiner "Männer"-Glosse unter der Überschrift "Die virile Regierung". Auch interessant wäre: Gibt's womöglich Ansätze von gesamteuropäischer Öffentlichkeit, an die Regierungen einzelner Staaten sich medienstrategisch wenden könnten, oder müsste doch jede komplexe nationale Öffentlichkeit einzeln angesprochen werden?

####LINKS#### [+++] Selbes Thema, wie Griechenland gerade in deutschen Medien dargestellt wird, bzw., wie Misik sagen würde, das "Zitierkartell deutscher Neokons, die sich offenbar gerade zur üblen Nachrede gegenüber der Syriza-Regierung verschworen haben" (Misik), nun aber eine heikle Quelle. Was von deutschsprachigen und an die deutsche Öffentlichkeit gerichteten russischen Staatsmedien wie rtdeutsch.com zu halten ist, war schon öfter Thema hier im Altpapier. Doch außer bei rtdeutsch.com erfährt die halboffizielle Programmbeschwerde von Maren Müllers "ständiger Publikumskonferenz der öff.-rechtl. Medien" wenig Aufmerksamkeit. Und in der Sache hat diese Beschwerde über eine "Verfälschung der Redeabsicht des griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis", dem in der Maybrit-Illner-Talkshow von vor einer Woche der Satz "Was immer die Deutschen sagen, am Ende werden sie immer zahlen" zugeschrieben wurde, absolut Recht.



Illner hatte am vergangenen Donnerstag im ZDF ungeachtet der Gefahr, dass vorschnell oft doof ist, schon mal die neue griechische Regierung betalkt und wie immer zur Zusammenfassung des vermeintlich Bekannten Einspielfilmchen eingespielt. Günther Jauch, der am Sonntag in der ARD dasselbe auf noch etwas weniger aufschlussreiche Weise tat, hatte dieses verfälschte Zitat immerhin nicht mehr verwenden wollen (was vielleicht daran lag, dass er wegen des Stromausfalls erst mal keine Einspieler abspielen konnte ...). Inzwischen hat das ZDF in der Form der wohl geringsten öffentlichen Äußerung, per Tweet von @maybritillner, den Fehler zugegeben. Auf der in der semioffiziellen Programmbeschwerde vorbildlich verlinkten heute.de-Meldungsseite des ZDF ist er hingegen noch zu finden.

[+++] Wenn also viele etablierte Medien, vieles ohne Not aus Kontexten reißen und un- bis widersinnig zuspitzen, um in ihren für Außenstehende oft nicht nachvollziehbaren Wettbewerbssituationen Vorteile zu haben - ist das ein Grund, natürlich unter Vermeidung des schwer belasteten Kampfbegriffs und offiziellen Unworts, sie grundsätzlich zu kritisieren?

Weniger denn je womöglich, denn "Lügenpresse"-Vorwürfe werden mehr denn je aggressiv verwendet. "Dortmunder Neonazis wollen mich tot sehen - scheiß auf sie", ist der kämpferischste Artikel zu den Psychoangriffen von Neonazis auf Dortmunder Journalisten überschrieben, die gerade bekannt wurden (ruhrbarone.de, Altpapierkorb gestern). Verfasst hat ihn Felix Huesmann für vice.com. Er mündet in den schönen Satz: "Totgesagte Journalisten schreiben noch wütender Artikel!" (Und nur, weil's, nicht nur wörtlich, passt: "totgesagte" locken auch "noch neue follower an", twitterte das recht ehemalige Message-Magazin). Zum Thema der Naziattacken haben nun auch die FAZ und tagesschau.de mit besonderem "Lügenpresse"-Bezug Berichte.

Die eindrücklichste Einschätzung stammt von Ulrich Janßen, dem Vorsitzenden einer Journalistengewerkschaften (der dju, was nicht heißt, dass sich der DJV nicht auch geäußert hätte), und wird bei newsroom.de zitiert:

"Diese Hetzkampagnen erinnerten fatal an das Vorgehen der Nationalsozialisten in den 1930er Jahren, sagte Janßen. 'Hier sind nicht nur Polizei und Staatsanwaltschaft gefragt, die Verteidigung der Pressefreiheit muss das Anliegen aller Demokraten sein', appelliert der dju-Vorsitzende an die Zivilgesellschaft."

Wobei diese Zivilgesellschaft bekanntlich recht diffus ist und eben auch ausführlich, aus Gründen, über Fehler ihrer vielen Medien diskutiert. Warum gerade die attackierten freien Journalisten jede Unterstützung verdienen, erläutert Andrea Röpke als eine der von tagesschau.de angefragten ExpertInnen:

"Die Fachjournalistin sieht insbesondere Lokaljournalisten wie die nun bedrohten Kollegen aus NRW gefährdet, denn diese seien vor Ort bekannt - auch privat. Bei Attacken von Rechtsextremen auf Demonstrationen treffe es zudem eher freie Kollegen, sagt Röpke, und nicht die großen Fernsehteams."

Hinter Huesmann und Sebastian Weiermann stehen nicht die steigenden Rundfunkgebühren/ Haushaltsabgeben-Milliarden der Öffentlich-Rechtlichen. Und wie es mit den Presseverlagen im Ruhrgebiet, dem Kerngebiet der Ex-WAZ aussieht, wissen halbwegs regelmäßige Altpapierleser natürlich.

[+++] Damit zum Schlimmsten, beziehungsweise: Solche Superlative sollte man sich vielleicht einfach sparen.

"Bei einem Ranking der Brutalität von Mordmethoden, zu dem der IS uns ja im Grunde auffordert, will ich nicht mitmachen", schreibt Yassin Musharbash im zeit.de-Blog Radikale Ansichten und zitiert dann aus deutschen und internationalen Quellen, die über das aktuelle Mordsvideo der ISIS-Terroristen berichten, indem sie beschreiben und bewerten, was darin zu sehen ist.

Diese Diskussion beschäftigt in Deutschland nur am Rande. "Horrorfilme enthalten solche Szenen, aber auch normale Kino-Thriller, freigegeben ab 12 oder 16 Jahren. Von der Couch oder dem Kinosessel aus können viele solchen Schrecken ganz gut verarbeiten", leitet Stefan Ulrich seinen allgemeinen SZ-Leitartikel ein. "Die Internetpropaganda der Dschihadisten berichtet in jugendgerechter Sprache live aus dem Krieg, sie macht aus den Kämpfern Helden, ästhetisiert die Gewalt", heißt es im Artikel "Erlebniswelt Dschihad" im FAZ-Politikressort (S. 8). Äh, jugendgerecht?

Auf englisch geht diese Diskussion erheblich weiter und tiefer. "If you watch Isis’s videos you are complicit in its terrorism", kommentiert Nesrine Malik im Guardian-Internetauftritt. Und Suzanne Moore kritisiert ebd. sogar die Journalisten scharf, die in "heroischer" Pose "Isis's high-definition murder porn" anschauen, um ihn dann ihren Lesern beschreiben zu können ... was hierzulande ja alle Nachrichtenmedien tun. (Nachtrag um 11.00: Widerschein eher amerikanischer Debatten gibt's inzwischen bei tagesspiegel.de und faz.net).

Übersichtlich ist es zurzeit nicht.
 


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+++ Hingegen übersichtlich: die Innovationen im ZDF. Claudia Tieschky von der SZ ist mit Buslinie 68 auf den Mainzer Lerchenberg gefahren, um ein großes Interview mit Norbert Himmler zu führen. "Am Mittwoch vor Ostern zeigen wir die Wissensshow 'Das große Schlüpfen' mit Johannes B. Kerner, neu ist auch 'Das Spiel beginnt - Die große Show von 3 bis 99', in der bekannte Familienspiele auf die große Bühne gebracht werden. Und es wird - unsere dritte Innovation in diesem Frühjahr - die Show '1000 - Wer ist die Nummer 1'? geben, eine gemeinsame Entwicklung mit der BBC", erläutert der Programmdirektor gerne. Interessantes sagt er aber auch, z.B.: "Bald kommen bei ZDF Neo auch deutsche Eigenproduktionen dazu. Moderne, hochwertige Serien spielen auch für unsere Mediathek eine immer größere Rolle. Die neue Schirach-Verfilmung Schuld wie auch 'Das Team', eine europäische Koproduktion unter deutscher Federführung, stellen wir alle vorab in die Mediathek. Dort findet also die Premiere statt. Damit wird die Mediathek zum ersten Mal auch als eigener Ausspielweg genutzt. Es wird auch Trailer und eine große Kampagne dazu geben, so als ob es um einen der großen linearen Kanäle ginge." +++

+++ Ein Anlass des Interviews: eine Programminnovation, die fast so groß sein könnte wie eine neue Kerner-Show. Am Freitag kommt Jan Böhmermann ins große ZDF (Berliner Zeitung). +++ Dazu ein Tagesspiegel-Interview mit dem beliebten Entertainer. "Ist Ihre Gage denn jetzt gestiegen?" - "Öh, weiß ich nicht genau! Mit Zahlen … ich guck immer nur … ab und zu ruft jemand vom Knax-Klub an und sagt Bescheid, dass ich mir ein Sparschwein abholen kann und ein Radiergummi und ’nen Stift, bei der Sparkasse. Alles andere, ähm, macht mein Management. Ich bin letztlich eine Marionette, auch finanziell, meines Managements." Wie lustig das nun wieder ist, hängt zweifellos auch vom Zungenschlag ab, den man sich beim Lesen denkt. Zungenschläge vermitteln sich halt online nicht so sehr, vielleicht noch weniger als auf geduldigerem Papier (außer natürlich, man macht Youtubevideos, über die Böhmermann auch redet). +++

+++ Der Süddeutschen liegt ein "Berichtsentwurf" des "Lösch-Beirats" vor, mit dem Google auf das EuGH-Urteil reagierte, das einen Anspruch aufs Vergessenwerden bzw. Löschung von Links gewährt. "Bei Google sind seit dem Urteil des EU-Gerichtshofs 205.000 Anträge auf Löschung eingegangen, vierzig Prozent davon wurde stattgegeben. Aus Deutschland kamen 35.000 Löschanträge, die Hälfte davon war erfolgreich. Das sind - bei 500 Millionen EU-Bürgern - weniger Löschanträge als erwartet." +++

+++ Der Rauswurf des Chefredakteurs David Berger beim Schwulenmagazin namens Männer (Altpapier vom Dienstag und im Dezember) ist nun auch Thema der SZ-Medienseite. "Der Grund: Berger hat auf dem Männer-Blog der Huffington Post den Autor Daniel Krause engagiert, der der katholischen Kirche, der linken Szene, neuerdings auch dem Islam Homophobie vorwirft." Außerdem habe "der Veganer Krause ... vergangene Woche im WDR Massentierhaltung mit Auschwitz verglichen. Von dieser Relativierung seines Kollegen hat sich Berger in einem Telefonat mit der SZ distanziert und sein Bedauern geäußert." +++

+++ Die allerneueste ARD-Kommissarin heute abend in "Begierde - Mord im Zeichen des Zen" spielt Melika Foroutan. "Die neue Kommissarin säuft und raucht – wie toll! ... Aber der Fall selbst ist gar nicht so wichtig, und er ist auch nicht spannend" (Christine Dössel, SZ). +++ "Als Alki-Cop in 'Begierde' ist Melika Foroutan eine kleine Sensation" (Christian Buß, SPON). +++ "Schon lange haben wir uns eine Ermittlerin gewünscht, die als so verkrachte Existenz auftreten darf, wie sonst nur ihre männlichen Kollegen. Und tatsächlich ist Louise Boni ... keine dieser glatten Überfrauen, denen eine Entourage von Trotteln zur Seite gestellt ist, sondern eine Figur am Abgrund. Ein dramaturgisches Wagnis ist sie trotzdem nicht ..." (Ursula Scheer, FAZ). +++ "Die ARD kocht streng nach Erfolgsrezept " (immer verlässlich: Jens Müller in der TAZ)­. +++ "Blickfang des Films ist trotzdem Foroutan, die ihre ruhelose Kommissarin dank der 'Smokey Eyes' wie ein Geschöpf der Nacht wirken lässt" (stets poetisch: Tilmann P. Gangloff hier nebenan). +++

+++ Außerdem befasst sich die TAZ mit dem "Medienprojekt" namens "Der Sender" (siehe auch AP-Korb neulich). +++

+++ Und KEF-Chef Horst Wegner ging einen Schritt weiter: "Das könnte die Zahl sein", sagte er der DPA im Hinblick auf die 1,5 Milliarden Euro Gesamtmehreinnahmen durch die neue Haushaltsabgabe (FAZ, TAZ, Altpapier gestern). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.