Rechercheseminar im Seniorenheim

Hugo Egon Balder ist heute in einer ungewohnten Rolle zu sehen. Ein von Hooligans bedrohter WDR-Reporter kann nur unter Polizeischutz berichten. Die Mitarbeiter KG des Spiegels wird zum Satireopfer. 128.000 Fußballfans gefällt eine Wäscheklammer. Und wie viele Journalisten wurden eigentlich 2014 weltweit ermordet?

Claude Lanzmanns mehr als neunstündige TV-Dokumentation „Shoah“, die 1986 in vier Teilen in den Dritten Programmen der ARD erstausgestrahlt wurde, ist der radikalste Film über den Holocaust. Dass die FAZ heute, am 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, der gleichzeitig der Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust ist, dem 89-jährigen Regisseur fast die gesamte erste Seite des Feuilletons zur Verfügung stellt, ist zu begrüßen. Zu lesen ist dort ein Vortrag, den Lanzmann am Sonntag in der Lichtburg in Essen anlässlich „der ersten öffentlichen Kinovorführung von ‚Shoah‘ gehalten hat“, wie die FAZ uns informiert. Die erste ist es, wenn man von der Berlinale 2013 absieht. 

Hervorgehoben sei aus Lanzmanns Text eine lehrbuchreife Passage, und das ist in diesem Fall keineswegs ironisch gemeint:?

„Wenn es in ‚Shoah‘ Emotionen gibt, dann allenfalls zusätzlich. Ich wende mich an den Verstand. Aufklärung gegen Obskurantismus (...) Zu Spielbergs Film möchte ich lediglich sagen: Die Shoah ist eine so fürchterliche Realität, dass keinerlei Fiktion ihr gerecht zu werden vermag. ‚Schindlers Liste‘ fabriziert letztlich nur falsche Archive, wie alle Filme dieser Art.“

Von Lanzmann zu Hugo Egon Balder ist es normalerweise ein weiter Weg, aber am heutigen Tag ist er nicht ganz so weit, denn theoretisch könnte die Kritik Lanzmanns auch einem Film gelten, in dem der Moderator und Schauspieler Balder mitwirkt: Das ZDF zeigt heute die szenische Dokumentation „Mit dem Mut der Verzweiflung. 70 Jahre nach Auschwitz“, durch die Balder führt. Das ZDF hat ihn für diese Rolle ausgewählt, weil seine jüdische Mutter das KZ Theresienstadt überlebte. Hans Hoff schreibt auf der SZ-Medienseite in einem Balder-Porträt anlässlich des Films:

„Für Balder ist sein Auftritt im ZDF kein Job wie jeder andere. Er hat beschlossen mitzumachen, weil die zuständige Redaktion ihm mit großer Ernsthaftigkeit begegnete. Und mit profundem Wissen. ‚Die hatten Sachen, die ich noch nicht wusste‘, sagt er.“

Ursula Scheer (FAZ-Medienseite) ist mit den nachgestellten Szenen nicht glücklich:

„Detailgetreu ausgestattet und zurückhaltend von deutschen und polnischen Schauspielern gespielt, brechen sie ab, wenn es ans Unvorstellbare geht. Dabei geraten sie allzu oft allzu idyllisch, sichtlich bemüht, die Opfer würdig zu zeichnen. Das ist verständlich, es macht das Zusehen leicht und vermittelt eine Ahnung davon, wie fünf normale Leben in eine Hölle verwandelt wurden. Vorstellbar wird so dennoch wenig.“

Eine Übersicht zu Erstausstrahlungen und Wiederholungen von Dokumentationen, die bei ARD und ZDF zu sehen sind, finden sich bei wolfsiehtfern.de, in der Berliner Zeitung und in der taz von Montag (von mir).  Die Welt nimmt den Gedenktag zum Anlass, an das pionierhafte dreistündige WDR-Radiofeature „Auschwitz. Topographie eines Vernichtungslagers" zu erinnern, das nun eine „späte Würdigung“ durch eine Hörbuchveröffentlichung erfährt. Ernst Piper (publikative.org) blickt zurück auf das Jahr 1996, als der damalige Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum Gedenktag erhob, und begründet, warum er diesen heute für nicht mehr zweckmäßig hält:

„Die Absicht war löblich und in den ersten Jahren funktionierte das Gedenken auch mehr oder weniger gut. Die großen Tageszeitungen druckten Reden, publizierten Essays und brachten Porträts von Holocaust-Überlebenden. Soll es nicht zum Ritual erstarren, lässt sich das kaum jedes Jahr wiederholen. Doch der pädagogische Ansatz des Bundespräsidenten ging schon bald verloren (...) Inzwischen ist der ursprüngliche Impuls (...) ganz in den Hintergrund getreten, denn 2005 haben die Vereinten Nationen den 27. Januar zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erklärt. Ziel sei es, alle Formen von religiöser Intoleranz oder Gewalt gegen Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft oder ihres religiösen Bekenntnisses zu verurteilen. ‚Auschwitz‘ wird so zu einer universalen Krisenmetapher, das Gedenken an den Holocaust zu einem Teil einer globalen Erinnerungskultur. Die Täter der Jahre 1933 bis 1945 geraten aus dem Blickfeld und mit ihnen die historischen Ereignisse, die für uns als die Nachfahren der Täter eine besondere Bedeutung haben.“

[+++] „Wir sehen uns wieder nach dem nächsten Gemetzel“, lautet heute die Headline des Medienseitenaufmachers in der FAZ. Der Journalist Roberto Saviano, der seit 2006, als er über die Mafia das Buch „Gomorrha“ veröffentlicht hat, in Angst und unter Polizeischutz lebt, führt hier aus, dass es im Kampf für die Meinungsfreiheit nicht ausreicht, sich mit Charlie Hebdo zu solidarisieren:

„Europa hat das Recht auf Meinungsfreiheit (...) vernachlässigt, es aus Trägheit nicht ausreichend verteidigt, bis schließlich jemand gekommen ist, der es unter einem Berg von Projektilen begraben hat. Jenseits des islamistischen Terrors begegnet uns dieselbe Problematik bei Verbrechen der Mafia (...) An dieser Stelle frage ich mich: Wisst ihr eigentlich, wie viele Journalisten im vergangenen Jahr gestorben sind? Es waren sechsundsechzig, die ermordet wurden, hundertachtundsiebzig wurden verhaftet.“

In letzterem Zusammenhang erinnert Saviano daran, dass

„in der Türkei (...) dreiundzwanzig Journalisten im Gefängnis (sitzen), deren einzige ‚Schuld‘ darin besteht, für eine regierungskritische Tageszeitung zu schreiben“.

####LINKS####„Wie deutsche Karikaturisten nach dem Charlie-Hebdo-Anschlag ihrer Arbeit nachgehen“, beschreiben derweil Tatjana Kerschbaumer und Kurt Sagatz im Tagesspiegel. Zu ihren Interviewpartnern gehört auch ein Künstler aus dem eigenen Hause: Klaus Stuttmann, der gerade beim Preis für politische Fotografie und Karikatur den ersten Platz in der Kategorie Karikatur belegt hat, was die Zeitung an anderer Stelle noch gesondert würdigt. Und Andreas Platthaus lobt Stuttmann aus diesem Anlass im FAZ-Feuilleton unter der Überschrift „So muss Karikatur sein“, dafür, dass er, obwohl er doch bereits 65 Jahre alt und „schon seit Jahrzehnten als Karikaturist tätig“ sei, „immer noch zu den frischesten und frechsten Vertretern seiner Zunft“ gehöre.

[+++] Dass einem Journalisten Schläge und Tritte drohen können, wenn man von Demonstrationen berichtet, war am Freitag an dieser Stelle Thema anlässlich der Angriffe von Legida-Hooligans auf Fotografen. Die Täter, die sich am Wochenende bei einer Demonstration in Hamburg einen Fotografen als Opfer ausguckten, waren allerdings keine Hooligans, sondern Polizisten (hh-mittendrin). Anderswo, bei einem Pegida-Aufmarsch in Duisburg, schützten gerade Polizisten einen WDR-Journalisten vor Hooligans. Seine erste Live-Schalte unter Polizeichutz sei das gewesen, berichtet er.

[+++] Der viel, aber nicht allzu oft kompetent kritisierten Mitarbeiter KG des Spiegels ist nun die Ehre zuteil geworden, dass unter dem schlichten Namen mitarbeiter-kg.de eine Satire-Website ins Leben gerufen wurde. Wohl hauptsächlich, um dies zu verbreiten:

„Als erste Medien in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland werden DER SPIEGEL und SPIEGEL ONLINE geschlechtsneutrale Dienstkleidung für alle journalistischen Mitarbeiter einführen. Dies gaben heute die Gesellschafter bekannt. Hintergrund ist der weiterhin eklatante Frauenmangel in den Führungspositionen beider Redaktionen. Durch die einheitliche Kleidung, Projektname SPURKA, werden alle Mitarbeiter gleich gestellt. Der Entschluss zur Unisex-Kultur ist ein Meilenstein in der Entwicklung der Nachrichtenmedien. Mit ihm setzt sich der SPIEGEL-Verlag, sowohl online als auch in Print, an die Spitze der Gleichstellungsbemühungen in der gesamten Branche.“

Da Pro Quote diesen Gag, der darauf anspielt, dass die Chefredakteursposten an der Ericusspitze gerade mit Nicht-Frauen besetzt wurden, noch ein paar Schrauben weitergedreht hat, vermutet meedia.de eben jene Organisation als Urheber der Aktion.

„Bei Pro Quote bekennt man sich (...) bisher nicht zu der falschen Pressemitteilung“,

hat allerdings die taz in Erfahrung gebracht.

Mindestens so hübsch wie der Spurka-Idee ist jene Rubrik auf mitarbeiter-kg.de, in der deren „nächste Termine für interne Seminare und Fortbildungen“ aufgeführt sind, zum Beispiel:

„‚Investigative Recherche für Einsteiger‘ am 30. März im Seniorenheim Lokstedt, Anmeldung über Frau Müller unter -3212.“

Da im Hamburger Stadtteil Lokstedt auch das NDR-Fernsehen seinen Sitz hat, könnte man hier also auch noch einen Seitenhieb auf Lutz Marmors Laden reininterpretieren. Was die Scherzkeksinnen, die die Seite mitarbeiter-kg.de gebaut haben, auf jeden Fall freuen wird: Das Magazin The Economist, das renommeemäßig ja in der Region des Spiegels anzusiedeln ist, bekommt erstmals in seiner Geschichte einen weiblichen Chefredakteur. Die NZZ berichtet.


Altpapierkorb

+++ Dass Google E-Mails und weitere Daten aus den Gmail-Accounts von der gerade mal wieder im deutschen Fernsehen zu sehenden Sarah Harrison („Jagd auf Snowden, siehe hier) sowie zwei weiteren Wikileaks-Mitarbeitern 2012 an die US-Regierung weiterleitete und dies den Betroffenen erst äußerst spät, nämlich vor rund einem Monat, mitteilte - damit befassen sich heute Jonas Jansen (FAZ) und Meike Laaff (taz).

+++ Ebenfalls in der taz: ein Text über die Überwachungslust hiesiger Medien, die ihre Leser mithilfe von Trackern ausforschen: „Bei Zeit Online kommen pro Seitenaufruf 26 dieser Verbindungen zustande, bei Spiegel Online über 30“ - und hier „sogar 45“.

+++ Eine Kiosk-Erfolgsgeschichte gefällig? „Für eine im Pressemarkt vertriebene Publikation ist das 50-jährige Jubiläum der ‚Tollsten Geschichten von Donald Duck‘, das 2015 gefeiert wird, mehr als ungewöhnlich. Das fängt bereits beim ersten Reinblättern an, denn Seite 3 ist erst einmal ein Schutztitel, verziert mit einer Illustration der Hauptgeschichte des jeweiligen Heftes, und auf Seite 4 folgt dann ein Inhaltsverzeichnis mit ausführlichen Angaben zu allen abgedruckten Comics. Wo findet man sonst noch solch einen bibliophilen Hefteinstieg in eine Kiosk-Serie?“ So lobt der Tagesspiegel.

+++ Viel auszusetzen an den Entscheidungen der drei Grimme-Nominierungskommissionen (siehe Altpapier) hat Dietrich Leder (Medienkorrespondenz). Dass jemand die Arbeit der vorauswählenden Kommissare teilweise allerakribischst prüft („Warum etwa der Drehbuchautor der Dortmund-‚Tatorte‘ – es handelt sich um Jürgen Werner – in der Summe in der Unterkategorie ‚Spezial‘ nominiert wird, dafür aber die von ihm verfasste vierte Folge ‚Auf ewig Dein‘ als Einzelstück ignoriert wurde, bleibt ein Rätsel), kann man auch als Beleg für die ungebrochene Relevanz des Grimme-Preises werten. Disclosure: Ich war ein Siebtel der Kommission Information & Kultur.

+++ Nebenan bei evangelisch.de fragt sich Canan Topcu, warum in Talkshows immer „immer die gleichen“ Islam-Experten „zu Wort kommen“: „Die mediale Präsenz von (Aiman) Mazyek, (Lamya) Kaddor und einiger anderer muslimischer Talk-Gäste sorgt aber unter Muslimen für Missmut. Dass Kaddor als ‚die‘ Stimme der liberalen Muslime präsentiert wird; dass Mazyek als ‚der‘ Sprecher der Muslime in Deutschland präsentiert wird, obwohl er den kleinsten Islam-Verband repräsentiert; dass Hübsch als Mitglied der Ahmadija-Gemeinde als ‚Vorzeigemuslima mit Kopftuch‘ instrumentalisiert wird: das nervt so manchen. Für Verstimmung sorgen auch Gäste mit biografischen Bezügen zum Islam, die aber keine Kenntnisse über diese Religion haben, aber die Chuzpe besitzen, sich zu theologischen Fragen zu äußern."

+++ „‚Trotzwahl in Griechenland – wer soll das bezahlen?‘, fragt Frank Plasberg ganz neutral, vermutet aber schon, das Geld komme am Ende wieder von ‚uns‘" - Sebastian Pfeffer (Die Welt) über die gestrige Sendung des Mannes, der den Polittalk butterfahrtisierte.

+++ Hans Hütt befasst sich in seinem Blog anlasslos kurz mit dem Magazin Cicero („das sich dazu entschlossen hat, provokativ seicht im Trüben zu fischen, in wahlverwandtschaftlicher Nähe zu Titeln, die man nicht mal mehr nennen mag. Nur noch krawallgebürstet, in der Syntax verludert, im Denken einer Lagerlogik zugetan, die abstößt“) - und länger wohlwollend mit dem Merkur. Hier das Inhaltsverzeichnis von dessen Februar-Ausgabe (feat. Ex-Altpapier-Autor Matthias Dell).

+++ Zwei Auseinandersetzungen aus der Kategorie Fotografie und Recht: eine zwischen dem Fotograf des Jogginghosenvollpissers aus Lichtenhagen und Jan Böhmermann (dirkvongehlen.de) und eine weitere zwischen einer Berliner Passantin und einem Fotografen der renommierten Agentur Ostkreuz („Der Rechtsstreit könnte bundesweit das Ende der Straßenfotografie bedeuten“, meint die Berliner Zeitung)

+++ Neues aus den Anstalten bzw. für Feinschmecker, die sich an den Absurditäten erfreuen können, die der Kosmos der Landesmedienanstalten zuverlässig produziert: Gute Stimmung herrscht gerade bei jenen Kontrollbehörden in Rheinland-Pfalz (LMK) sowie in Hessen und schlechte bei der nördlichsten der Republik. Warum, weiß die Medienkorrespondenz: „Die Lizenz, die für Sat 1 mit Wirkung zum 1. Juni 2013 von der Medienanstalt Hamburg/Schleswig-Holstein (MA-HSH) im Juli 2012 ausgestellt worden war, wird weiterhin nicht gültig. Ob dieser Lizenzwechsel rechtmäßig ist und somit vollzogen werden kann, muss in zweiter Instanz vor dem Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgericht (OVG) geklärt werden, das nun ein Berufungserfahren zugelassen hat. Gegen die Neulizenzierung von Sat 1 durch die MA-HSH (...) war die LMK im August 2012 juristisch vorgegangen. Das Gleiche taten auch die Hessische Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien (LPR Hessen) und der Medienunternehmer Josef Buchheit.“ Wie‘s ausgeht? Die Spannung wird uns noch lange erhalten bleiben: „Da die gesamte Angelegenheit sehr komplex ist, spricht einiges dafür, dass es in diesem Jahr kein Urteil mehr geben wird.“

+++ Superlativistische Meldungen aus der Welt der sozialen Netzwerke kommen hier ja selten vor, aber gut, machen wir mal eine Ausnahme: Rund 128.000 Menschen (Stand: 9.45 Uhr) gefällt ein vom brasilianischen Fußballer David Luiz bei Instagram gepostetes Foto. Bemerkenswert ist die Zahl angesichts dessen, was zu sehen ist: nichts weiter als eine Wäscheklammer.

Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.