Unsterblich

Vieles zum wohl schwärzesten Tag für die Medien. Brutalisierung des öffentlichen Diskurses? DO NOT share the killings! Gemeinsame Wiederentdeckung von Meinungs- und Religionsfreiheit? Print wirkt jedenfalls. Klammheimliche Freude? Technisch anspruchsvoller Terror?

Der gestrige Mittwoch wurde zum wohl schwärzesten Tag für die Medien, zumindest in West- und Mitteleuropa in diesem Jahrhundert. Nun wird er auf allen Kanälen der Medien in sämtlichen Formaten beschrieben, analysiert und kommentiert.

"Je suis Charlie" steht vor schwarzem Hintergrund auf charliehebdo.fr. Zeitungs-Titelseiten überall auf der Welt sind ebenfalls sehr schwarz  oder wegen farbenfroher typischer Charlie Hebdo-Karikaturen eher bunt. Oder beides: Ausgerechnet der Berliner Kurier, keine der sympathischsten Zeitungen, macht mit der wohl mutigsten Karikatur auf.

Zu den zahlreichen Zeitungsartikeln sämtlicher Textgenres zählen natürlich auch bereits große, teils lange Chefredakteurs-Leitartikel. Der beste, würde ich sagen, steht vorn auf der TAZ:

"Ziel von Terroristen ist es immer auch, Angst und Schrecken zu verbreiten. Mit dem Anschlag vom Mittwoch ist nun Angst eingekehrt in die Redaktionen. Es wird schwer sein, mit den Ängsten umzugehen, die die Mörder in das Bewusstsein der Journalistinnen und Journalisten geschossen haben. ... Wer sich seines Lebens nicht mehr sicher fühlt, ist alles andere als frei. Freiheit von Angst ist eine entscheidende Voraussetzung für Freiheit -auch für Pressefreiheit. Welch hohes Gut diese ist, wird an traurigen Tagen, wie dieser Mittwoch gewiss einer war, ganz besonders deutlich",

schreibt Co-Chefredakteur Andreas Rüttenauer u.a.. Lesen Sie aber bitte den ganzen Text, er ist nicht lang. Länger ist, was Brigitte Fehrle in der Berliner Zeitung schreibt. Es enthält natürlich auch sehr viel Wahres - fast alle würden fast alles unterschreiben, was im Moment in Deutschland zu diesem Thema publiziert wird, das ist mit das Gute an der Pressefreiheits-Lage hierzulande. Fehrle schreibt aber auch:

"Die Toten von Paris sind Helden. Als solche müssen wir sie sehen. Wie jeder gewaltsame Tod ist auch ihr Tod vollkommen sinnlos. Wer immer jetzt versucht, sie für seine Zwecke zu vereinnahmen, begeht einen Frevel."

Ähm, gibt es den Begriff "Helden" ohne Vereinnahmung überhaupt? Und sie schreibt, vorher:

"Wer derzeit in Dresden die Anhänger von Pegida 'Lügenpresse' skandieren hört, dem wird schon mulmig. Wo bleibt der kraftvolle Widerspruch? Es scheint, als sei so etwas wie klammheimliche Freude salonfähig geworden, wenn Medien und Journalisten angegriffen oder beschimpft werden."

Von der speziellen Begriffsgeschichte der "klammheimlichen Freude" abgesehen: Um jede Art von Medien- und Journalisten-Kritik, und wenn sie noch aggressiv-unsachlich ist, in eine Reihe mit dem Massaker in Paris zu stellen, ist dieser Donnerstag nicht der richtige Tag, würde ich sagen bzw. hoffen.

Plastischer in die gleiche Richtung zielt Berthold Kohler im großen FAZ-Leitartikel. "In Paris haben Terroristen der 'Lügenpresse' das Maul gestopft" geht's gleich los. Später heißt es:

"Und auch hier, im Abendland, ist Hass anzutreffen, der in Gewaltphantasien mündet, auch in Bezug auf die 'Lügenmedien', gegen die auf den Demonstrationen der Pegida gehetzt wird. So hieß es in einer Zuschrift an diese Zeitung: 'Ich freue mich schon drauf, wenn in den Nachrichten zu sehen ist, wie ein wütender Mob ihre Redaktion in Brand steckt und sie gelyncht werden. So etwas kennen wir ja bereits aus der Geschichte (die sich meistens wiederholt).'"

####LINKS#### Der eskalierende Verbalradikalismus vor allem in sog. sozialen Medien, die "Brutalisierung des öffentlichen Diskurses" (Rainer Stadler, NZZ), ist auch fürchterlich, keine Frage. Der Umgang damit wurde ja auch gerade erst diskutiert (siehe Altpapier vom Dienstag) und würde es wohl noch, wenn nichts dazwischen gekommen wäre. Aber ein definitiv noch fürchterlicheres Ereignis derart auf sich selbst zu beziehen, hilft den Zeitungen auch nicht. Kohler entspannt anschließend wieder ein großes Einerseits ("Das Gefühl, Politik und Medien verharmlosten die Gefahr der 'Islamisierung' und verteufelten statt ihrer jene, die sie erkennten und fürchteten, reicht bis weit ins politisch gemäßigte Lager hinein"), Andererseits ("Doch auch die Reaktion darauf kennt jetzt oft kein Maß mehr. Alles wird in einen Topf geworfen und zu einer großen Verschwörung von Politik und Medien verkocht"), über das sich zweifellos diskutieren lässt, womöglich mit den gleichen Formulierungen. Aber wie wäre es, ein sehr erschütterndes, unvorhergesehenes Ereignis erst mal sacken zu lassen und auf die tatsächlichen Opfer zu schauen, anstatt es augenblicklich ins weiterhin feste Weltbild zu integrieren?
 

Zur Not könnte man auch einfach - bzw. keineswegs einfach - über Frankreich schreiben, das im Normalfall schließlich nicht gerade im Fokus deutscher Medien steht, wie es Rudolph Chimelli auf der SZ-Meinungsseite tut ("Der Anschlag von Paris und seine Folgen enthalten Stoff für eine gewaltige gesellschaftliche Krise. Man muss lange zurückgehen in Frankreichs Geschichte, vielleicht bis zur Affäre Dreyfus, um eine ähnliche Situation zu finden").

"Frustrierend an dem Anschlag ist, dass diese Tat sowohl muslimischen Extremisten als auch nicht-muslimischen Rechtspopulisten in die Hände spielt", schreibt evangelisch.de-Redaktionsleiter Hanno Terbuyken. Eine sinnvolle Forderung, die sich aus dem selbstverständlich naheliegenden Inlands-Blick ableiten lässt, formuliert Malte Lehming (Tagesspiegel):

"Was ... nottäte, wäre eine gemeinsame Wiederentdeckung der Meinungsfreiheit und der Religionsfreiheit. Für beide wurde in Kriegen und Revolutionen erbittert gekämpft. Sie sind kostbare Errungenschaften und als solche konstitutiv für den Westen oder, pathetisch gesprochen, das Abendland. Umso beschämender, dass oft die eine gegen die andere in Stellung gebracht wird."

Wie Rechtspopoulisten das Ereignis (mutmaßlich!) für ihre Zwecke ausnutzen werden, wird leider noch genug Zeit bleiben. Die aus so vielen "-gida"-Akronymen bekannte "Islamisierung" dürfte als Feindbild länger bestehen bleiben, als viele Kommentatoren noch vorgestern, als sie ihre Artikel für gestern schrieben, meinten.

[+++] Neben Berichten von Paris-Korrespondenten (z.B. BLZ, FAZ) enthalten viele Zeitungen medienjournalistische Hintergrundartikel, was Charlie Hebdo war und und hoffentlich bleibt.

Es "gibt es in Frankreich mittwochs am Kiosk, ganz ohne Werbung, niemals ohne Aufreger" (Süddeutsche), es "ging 1992 aus dem Satiremagagzin Hara-kiri hervor. Die Wochenzeitung hat eine Auflage von etwa 75.000 Stück. Religiöse Satire ist ein fester Bestandteil ..." (TAZ). "Die Redaktion ist seit ihrer Gründung 1970 daran gewöhnt, Angriffe abzuwehren. Das Heft wurde mehrmals vom französischen Innenministerium verboten, wurde von Linken und Rechten kritisiert und auch manchmal von den Falschen (der extremen Rechten nämlich) gelobt. Der Verlag ging pleite, rappelte sich wieder auf, die Auflage ging hoch und runter, ebenso die Zahl der Mitarbeiter. 45.000 Hefte werden heute verkauft, zwanzig Mitarbeiter waren noch am Morgen des 7. Januar beim Magazin beschäftigt" (Berliner).

75.000? 45.000? Auch das, die Krise der gedruckten Medien, manchmal (zumal in Frankreich) existenzbedrohend in einem übertragenen Sinn, spielt natürlich mit ins Thema rein. Print wirkt jedenfalls.

[+++] Mit einer Übersicht über v.a. französische Reaktionen in die sog. sozialen Medien, die oft auch tatsächlich sozial sind, manchmal aber auch nicht. Die TAZ zitiert darin vereinzelten "Jubel für die Attentäter", aber auch den vielleicht sinnvollsten Tweet:

"Ihr wolltet Charlie Hebdo töten? Ihr habt es unsterblich gemacht"

Hier geht's zu @Charlie_Hebdo_ selbst.

Der hoffentlich nicht letzte, bloß zurzeit jüngste Tweet, "time stamped Wednesday morning, Paris time. It's not clear whether it was sent before or just after the attack began, but it was posted before news of the shootings broke", mag auch Rätsel aufgeben (bbc.com). Sie hängen womöglich zusammen mit dem islamkritikerkritischen Titel des am gestrigen Mittwoch erschienenen Hebdo-Hefts. Die deutsche Feuilleton-Diskussion über Michel Houellebecq und seinen neuen Roman, den DuMont in Kürze hierzulande herausbringen wird, ging gestern allmählich los und wird sicher (unter ganz anderen Vorzeichen) weitergehen.

Den vielleicht übersichtlichsten der vielen Liveticker bietet der österreichische Standard.

Ein weiterer sehr sinnvoller Tweet kam vom österreichischen Grünen-Europaparlamentarier Michel Reimon und lautete:

"Terrorism is a propaganda war. DO NOT share the killings. You do the work of the killers and inspire the next ones."

Leider wurde und wird diese inhaltlich nicht gerade neue Mahnung oft nicht beherzigt, oder es wird klassischer Ulf-Poschardt-Coolness drüber hinweg gegangen.

Ferner wurde über Twitter ein beschämender Artikel der (englischen) Financial Times geteilt, der den ermordeten Journalisten "editorial foolishness" vorwirft. Ferner hat in diesem Internet u.v.a. Le monde eine Google Maps-Weltkarte der Trauer-Versammlungen erstellt und buzzfeed.com "20 Heartbreaking Cartoons From Artists Responding To The Charlie Hebdo Shooting" aggregiert. Noch bessere Karikaturen kommen aus Ägypten und vom britischen Independant (sowie vom schon oben verlinkten Marian Kamensky).

Lässt sich über den Titanic-Liveticker hinweggehen oder jetzt erst gerade nicht? Muss man die Nachtkritiken (welt.de, faz.net) zur spontan ins Programm gehobenen "hart aber fair"-Talkshow ebenfalls zum Thema lesen? Dass der offenbar extra zur Show aus London eingeflogene "Terrorismusforscher" Peter Neumann den bestenfalls extrem überflüssigen Satz "Technisch war das anspruchsvoller als das, was wir in den letzten sechs Monaten an Terror gesehen haben" sowohl bei Plasberg in der ARD als auch zuvor im ZDF-"heute journal" (das ihn auf der Anreise zur Talkshow vom Köln-Bonner Flughafen zuschaltete) sagte, könnte einen auch ärgern ...

Überdies hat Andreas Platthaus, sicher eher Comic- als Talkshow-Experte, für die FAZ den ermordeten Zeichnern Georges Wolinski und Charb einen Nachruf gewidmet: " Sie stachen heraus, weil ihre Federn so spitz waren".


Altpapierkorb

+++ Alles übrige ist natürlich vergleichsweise gleichgültig. "Springerlobbyist Christopher Lauer?" Die bestätigte Meldung leitet presseschauer.de aus vielen Tweets her. "Lauer, Berliner Abgeordneter und früherer Piraten-Landeschef, berät die Axel Springer SE in Fragen des Datenschutzes" (Tsp.).  +++

+++ Über zwei deutsch-französisch koproduzierte Fernseh-Spielfilme auf Arte informiert die TAZ. +++

+++ "Die beiden Schauspieler äußerten sich nur zurückhaltend über ihren Ausstieg. Die Gründe seien intern und sollten nicht in der Öffentlichkeit diskutiert werden" (FAZ): Da geht's um die Kommissars-Darsteller Friedrich Mücke und Alina Levshin, die den Erfurter "Tatort" (SZ: "war zum Davonlaufen") geschmissen haben. Levshins Äußerung ausführlich ("... Es war eine spannende Erfahrung, insbesondere die herzliche Aufnahme in Erfurt, die mir in bester Erinnerung bleiben wird.  ...") gibt's bei der Neuen Osnabrücker Zeitung, der sie vor ihrem letzten "Tatort" ein sehr ausführliches Interview in ähnlicher Tonalität gegeben hatte, in dem davon noch keine Rede war. +++

+++ "Die Kamera fokussiert dynamisch halb von der Seite die hohen Absätze und dazugehörigen Beine der Fraktionsvorsitzenden in der Hamburgischen Bürgerschaft. Dann setzt sie sich langsam in Fahrt nach oben, um die dazugehörige Dame zu zeigen. Fast schaut der Zuschauer ins Leere, sitzt Katja Suding selbst doch am Bildrand, und nur ein Schwenk nach rechts im letzten Moment fängt auch noch ihr Gesicht ein": Diesen "kleinen Kameraschwenk", der "zu sehr wie aus einem alten 'Die Nackte Kanone'-Film aussah, in dem man Leslie Nielsens Perspektive einnimmt, während er sich mit offenem Mund an den Frauenbeinen einer femme fatale ergötzt" beschreibt faz.net ausführlich und offenkundig gerne. Auf der FAZ-Medienseite erschien dann das, was der Tagesspiegel "'Beinegate' in der 'Tagesschau'" nennt und der tagesschau.de-Blog selbst publik machte, nur noch ganz klein. +++

+++ Die gestern hier erwähnte, heute in der ARD ausgestrahlte "Panorama"-Sonderausgabe "Schöne neue Welt: Der Preis des Teilens" über Uber, Airbnb & Co finden SZ ("Die Autorinnen Tina Soliman und Jasmin Klofta legen ... glaubhaft dar, dass dieser Preis zu hoch ist. Denn was in Gestalt cooler Sharing-Portale erscheint, hat sich zum Brutalokapitalismus des Netzzeitalters entwickelt ...") und Jonas Jansen in der FAZ ("...filmt ... immer wieder junge Leute vor Bildschirmen, Brücken in San Francisco oder Unternehmenslogos ab. Trotzdem schafft es 'Panorama', einen guten Überblick über die Risiken der neuen Wirtschaftswelt zu geben ...") ganz gut. +++

+++ "Anders als in Amerika, wo es eine große Tradition der berufspraktischen und wissenschaftlichen Journalistenausbildung an Universitäten gibt, war in Deutschland lange die Vorstellung verbreitet, Journalismus sei eine Frage einer letztlich doch unerforschlichen Berufung. Entsprechend begegneten leitende Redakteure in deutschen Verlagen und Funkhäusern der Journalistik-Idee zunächst bestenfalls mit Skepsis. Dass sich die Journalistik als wichtiger Baustein für die Sicherung des Qualitätsjournalismus nicht nur in Dortmund etablieren konnte, ist ein weiterer der vielen Verdienste" Kurt Koszyks, dem Reiner Burger in der FAZ einen Nachruf widmet. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.