Redaktionensterben jetzt auch im deutschen Internet. Das Surfen im Netz als Fahrt über Boulevards. Schützen Jägerzäune vor Shitstorms? Die perfide ARD in Fox News' Fußstapfen? Außerdem: der in Heidelberg geborene "Großmeister des nordic noir".
Die jüngste Zeitungssterben-Nachricht kam gestern zu spät, um heute bereits in gedruckten Zeitungen aufzutauchen, und mochte womöglich etwas verwirren: Das Wall Street Journal Deutschland aka wsj.de, das an dieser Stelle Anfang '12 ausdrücklich begrüßt worden ist und zum Jahresende '14 seinen Betrieb einstellen wird, trägt zwar den Namen einer weltbekannten gedruckten Zeitung. Es war in seiner deutschen Ausprägung aber niemals eine. "Die besten Nachrichten aus Wirtschaft, Politik und Technologie. Nur im Netz, nie am Kiosk" lautet noch immer der Anspruch in wsj.des Twitter-Profil. "Internetseiten-Sterben" und "Redaktionensterben" lauten Begriffe, die in der Subdiskussion unter dem oben verlinkten Tweet dann vorgeschlagen wurden.
Harte Zahlen, soweit die zum Imperium des als harten Rechners bekannten Rupert Murdoch gehörende Internetseite sie gestattet:
"Unabhängig von der Zahl der Abonnenten, über die nichts bekannt ist, zeigt auch die Entwicklung der Visits, dass das Wall Street Journal in Deutschland nie der erhoffte Erfolg war ..." (meedia.de). "50-60 Mitarbeiter sollen betroffen sein", meldet kress.de mit Link zum amerikanischen In-eigener-Sache-Bericht, der allerdings - das war das Geschäftsmodell - unmittelbar an der Bezahlschranke erbleicht. Es zeigt sich aber noch, dass die Zahl sich außer auf Deutschland auch auf die Türkei und spezielle US-amerikanische bezieht. Insofern mag die Einschätzung von newsroom.de, das die Sache auf deutsch wohl als erster meldete und "eine einstellige Zahl von Redakteuren betroffen" glaubt, zutreffen. Denn ein Büro in Frankfurt am Main soll bestehen bleiben, bloß keinen "Aktivitäten in Landessprache" mehr nachgegangen werden (dwdl.de).
Bei Twitter wird mit Recht sozusagen bedauert, dass nun "ein paar richtig gute Journalisten auf den Markt" kommen. Der hier nicht etwa eingebundene, bloß abgebildete Tweet - wir sind ja harten Puristen - stammt vom wsj.de-Chefredakteur Ralf Drescher.
[+++] Falls Sie neben dem Altpapier, das halt auch seine Minuten fordert, noch ein Viertelstündchen Lesezeit haben (oder nicht ganz 38.000 Zeichen für später ausdrucken wollen): Ein zeitlos lesenswerter, gedruckt und in PDF-Form Ende Oktober erschienener Grundsatzartikel zum Onlinejournalismus ist gerade auch im freien Internet erschienen. Nea Matzen und Olaf Rosenberg skizzieren für epd medien die "Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen im Onlinejournalismus".
Dazu nutzen sie das beliebte onlinejournalistische Stilmittel, Thesen von "1. 'Nachricht schlägt Recherche' - oder doch nicht?" bis zu "7. What’s next?" durchzunummerieren, tragen jedoch eine Menge aufschlussreiche Beobachtungen zusammen. Zum Beispiel:
"'Meist gelesen' heißt die Rubrik auf den meisten Onlineportalen. Ehrlicher wäre 'Meist geklickt' denn die Verweildauer der meisten User auf den Seiten ist so kurz, dass es für die schreibenden und redigierenden Onlinejournalisten frustrierend sein kann. Aber ist die Doppelfrage 'Was will der User und wofür will er bezahlen?' richtig oder eher 'Was wollen wir dem User bieten und wofür können wir Bezahlung erwarten?'"
Und:
"Das Surfen im Netz gleicht tatsächlich einer Fahrt über Boulevards: Was erreicht das scannende Auge, womit wird die Aufmerksamkeit geweckt, wenn der digitale Zeitungsjunge seine Schlagzeilen anpreist? Die kluge Headline und der kluge Teaser machen den User neugierig, aber lassen ihn auch wohlinformiert klicken. Ein mit Fakten gespickter Teaser weist auf noch mehr Kenntnistiefe nach dem Klick hin. Qualität und Klickreiz müssen sich also nicht widersprechen. Wer weiß, wie die Suchmaschine funktioniert, erstellt gute Inhalte, die Backlinks wert sind, und beantwortet die W-Fragen; Orientierung geht vor Originalität - für den User und die Suchmaschine",
schreiben sie angenehm nicht-alarmistisch. Dass das Lesen des Textes einer Fahrt über Boulevards gleicht, lässt sich nicht behaupten. Aber das kann Nutzer, die bis hierher durchgehalten haben, ja kaum schrecken.
####LINKS#### [+++] Jetzt aber: bunte Fernseh-Themen! Was geht in der heißen Toleranzwochen-Debatte (Altpapier vorgestern, gestern)?
Der jüngste Shootingstar unter den Würdenträgern der ARD, Dr. Hans-Martin Schmidt (hier dritter von oben), seines Zeichens "Leiter der Koordination Ausland und Festivals", zu der unter anderem die "Gesamtkoordination der ARD-Themenwoche" zählt, führt seine schon gut bekannten Argumentations-Bausteine leicht variiert heute auch im Interview mit der SZ-Medienseite auf.
"Dass die Kampagne provoziert, war gewollt, wobei der Grad der Provokation sicherlich im Auge des Betrachters variiert. Wichtig ist bei dem Thema ja, dass wir unsere Komfortzone verlassen",
sagt er etwa. Ein auch in Berlin nachvollziehbarer, frischer Baustein lautet:
"Jemand in Berlin Mitte denkt wahrscheinlich: In welcher Vergangenheit leben die? Aber wenn man so ein Plakat deutschlandweit aufhängt, dann soll es genau die Leute ansprechen, die Homosexualität noch nicht als Normalität empfinden."
Und am Ende sagt er den Interviewerinnen Katharina Riehl und Claudia Tieschky noch, dass er Kritik "sportlich" nehme und sich "über die witzigen Persiflagen im Internet" freue.
Anderwo wurden und werden Schmidts Bausteine weiter interpretiert. Die Toleranzkampagne "geht mächtig nach hinten los", meint Springers Welt mit der KNA, "offenbar ist die ARD von der Heftigkeit der Reaktionen überrascht" Markus Ehrenberg im Tagesspiegel. Und Ex-Altpapier-Autor Klaus Raab glaubt bei zeit.de, dass die ARD sich an ihrer Talkshowflut orientiert habe, nämlich "ohne eigene Haltung an ihr Thema heran" gehe und "jeden Beitrag, solange er steil genug ist", toleriere. Dafür hat er hat die Metapher des Jägerzauns ersonnen - ein feinsinniges Bild, schließlich schützen Jägerzäune gegen Shitstorms allenfalls bedingt.
Am weitesten gehen die eigentlich stets senderfreundlichen Fernsehmacher-Versteher von dwdl.de. Dort vergleicht Thomas Lückerath die "'Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!'-Verteidigungen", die aus den angeschlossen Anstalten kommen, mit den amerikanischen Fox News des schon erwähnten Rupert Murdoch und schließt:
"Man kann ... sich am Ende nicht des Eindrucks verwehren, dass all diese Aufregung einkalkuliert war. Das wäre perfide, aber inzwischen auch der ARD zuzutrauen."
[+++] Immer wenn mit Entscheidungsträgern in entspannter Runde über zusammenwachsende Medien und Fernsehen geredet wird, lassen alle durchblicken, dass sie zwar die "Tagesschau", aber sonst lieber amerikanische Serien gucken. Olaf Scholz etwa hat nicht nur Freunde, die sich US-Serien staffelweise anschauen, sondern macht es gelegentlich sogar selber. Dann rufen Vertreter von ARD oder ZDF: "Dominik Graf!, 'Im Angesicht des Verbrechens'" und fragen, ob man denn wüsste, wieviel größer der amerikanische Markt sei und wieviele gefloppten US-Serien niemals in Deutschland zu sehen seien. Woraufhin oft jemand drittes "Dänemark, 'Borgen'!" in die Runde wirft. Tatsächlich kann die Frage, warum auf dem so viel kleineren dänischen Fernsehmarkt so gute Serien produziert werden, während ARD und ZDF sich verpflichtet fühlen, jedes Jahr mediokre abgeschlossene Krimifolgen aller möglichen Sendelängen in unglaublicher Anzahl auszustoßen, nie richtig geklärt werden.
Für solche Diskussionen hat die FAZ-Medienseite heute interessanten Stoff. Sie stellt den "Großmeister des 'nordic noir'" vor. Ingolf Gabold, war bis 2012 "Head of Media" beim Dänischen Rundfunk und für all die gelobten Serien zuständig. Dass er "Sohn eines Deutschen und einer Dänin, in Heidelberg geboren" ist, also womöglich auch für das reichste Fernsehen der Welt zu haben gewesen wäre, sollte künftig in jeder Debatte über deutsche Serien erwähnt werden.
Inzwischen ist Gabold 72 Jahre alt, hat gerade für "23 Millionen Euro das teuerste und aufwendigste Fernsehprojekt des Landes", die Historienserie "1864" (IMDB: "When Germany and Prussia declare war on Denmark, two brothers are called to serve in the bloodiest battle in Denmark's history", Heikko Deutschmann ist "Moltke"), verantwortet und will fortan für das europaweit aktive, inzwischen amerikanisch besessene Unternehmen Eyeworks "europäische Serien produzieren, multilingual".
Der Artikel der FAZ-Autorin Sabine Sasse, der ruhig noch etwas länger hätte sein können, steht derzeit noch nicht frei online.
+++ Kommt das nächste Germany's Gold aus Österreich? Jedenfalls sei der ORF "vom Erfolg der eignen 'TVthek', in der neuerdings auch Hollywood-Blockbuster im Livestream abrufbar sind, so begeistert", dass er "im nächsten Frühjahr die Videoplattform 'Flimmit' starten möchte", über die bereits auch "mit deutschen öffentlich-rechtlichen Sendern und Produzenten" verhandelt werde. Das berichtet Wilfried Urbe in der TAZ. +++
+++ Im Freitag, schon ein paar Tage älter, aber auch zeitlos: ein großer Text der neulich hier erwähnten Katja Kullmann aus der Welt der Verlage, die Geschäftsmodelle mit Gedrucktem verfolgen (und zwar künftig ganz ohne schreibende Redakteure): ".... Das Gehalt eines Controllers beträgt durchschnittlich 60.000 Euro im Jahr und kann, laut controllingportal.de, auf 100.000 und mehr klettern. Das Durchschnittseinkommen eines freien Schreibers liegt, laut Künstlersozialkasse, bei 18.000 Euro jährlich." +++
+++ Die New York Times taucht hierzulande meistens als nachahmenswertes Vorbild auf. Heute mal nicht. Hat sie ein Interview mit Imre Kertesz nicht veröffentlicht, weil der ungarische Literatur-Nobelpreisträger sich "darin nicht kritisch über die Regierung des rechtsnationalen ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán habe äußern wollen"? (Tagesspiegel, TAZ jeweils mit DPA). +++
+++ Die SZ-Medienseite berichtet ansonsten aus England ("On the Pull", ein "nach Verzweiflung riechender Versuch" des Fernsehsenders ITV 2, "sich an den Erfolg eines Social-Media-Phänomens zu hängen", hat viel Ärger erregt und ist eingestellt worden) und aus Frankreich (über den "dokumentarischen Kinofilm 'Les gens du Monde'", in dem es also um Le Monde geht). +++
+++ Von der russischen Medienoffensive namens "Sputnik" berichtet in der TAZ nun Klaus-Helge Donath. Der Sender versammele "weltweit eloquente Verschwörungstheoretiker aus allen erdenklichen marginalen Gegenöffentlichkeiten". +++
+++ Außerdem ebd. schon mal Neues aus der Funkkorrespondenz: Im April 2015 will der Bundesgerichtshof sich mit der Verlage-Klage gegen die "Tagesschau"-App der ARD befassen. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.