Brauchen wir einen öffentlich-rechtlich finanzierten Lokaljournalismus? Versteht Stefan Kornelius, der Außenpolitik-Ressortchef der SZ, nichts von Empirie? Ist Edward Snowden letztlich nur ein „Schönschwätzer“ bzw. eine „graue Maus“? Außerdem: Wie die Bild-Zeitung Zeugen „umkippen“ sah, die gar nicht umgekippt waren; wie eine Imagekampagne der Emma nach hinten losging.
Auf der Suche nach fundierten Vorschläge zur Zukunft des Journalismus, die jenseits von Change-Management-Esoterik angesiedelt sind und ohne Beratersprech auskommen? Sooo häufig findet man die ja gar nicht, und umso mehr ist es bemerkenswert, dass nun einer kommt von einem Politiker, der im Übrigen kein Medienpolitiker ist. Boris Palmer, der Oberbürgermeister von Tübingen, hat sich in einem Interview mit der Zeitschrift Drehscheibe Gedanken über den Lokaljournalismus gemacht:
„Man könnte darüber reden, dass es so etwas wie ein Grundbedürfnis auf Information auch im Lokalen gibt. In Bezug auf die Bundes- und Landespolitik ist es ja für den Gesetzgeber bereits so, deshalb gibt es die öffentlich-rechtliche Grundversorgung. Ich finde, dass wir darüber reden sollten, ob eine solche Grundversorgung auch im Kommunalen nötig ist. Wenn man das bejaht, könnte man auch den gleichen Finanzierungsweg einschlagen und über eine öffentlich-rechtliche Finanzierung des lokale Journalismus diskutieren, wenn der bisherige Weg über Zeitungsanzeigen nicht mehr funktioniert (...) Alternativ könnte man auch eine Steuerfinanzierung debattieren.“
Konkret kann sich Palmer in Sachen Kommunalberichterstattung zum Beispiel vorstellen, dass „für je 10.000 Einwohner vielleicht eine Stelle vom Staat finanziert wird, zum Beispiel für einen Zeitraum von fünf Jahren“. Gewiss, der gute Mann sorgt sich in erster Linie darum, dass er und seinesgleichen ihre eigene Politik immer schlechter an die Frau und an den Mann bringen können, weil angesichts von Streichungen, Schließungen und sog. Sanierungsfusionen im Lokaljournalismus immer weniger und nicht zuletzt weniger kompetent über lokale Politik berichtet wird:
„Dieser Qualitätsverlust in der demokratischen Willensbildung ist bereits jetzt spürbar.“
Er sagt aber auch:
„Wir stellen zum Beispiel (...) bei uns fest, dass der Anteil der Pressemitteilungen, die unverändert übernommen werden, innerhalb eines Jahrzehnts von zwei Dritteln auf über 90 Prozent angestiegen ist.“
####LINKS#### Wenn jemand, der selbst Pressemitteilungen verschickt - das heißt, in diesem Fall zwar nicht Palmer, aber die Pressestelle der Tübinger Stadtverwaltung -, es ungut findet, dass die einfach übernommen werden, ist die Lage schon sehr, sehr ernst.? Andersmeinenden müsste das Palmer-Interview eigentlich ein paar „Staatspresse! Staatspresse!“-Rufe wert sein. Sollte es kein Hanfeld Chainsaw Massacre auslösen, wären wir aber sehr enttäuscht. Boris Palmer dürfte wohl dem Schweizer Medienwissenschaftler Vinzenz Wyss zustimmen:
„Lokaljournalismus wird sowohl in Wissenschaft als auch in der Branche unterschätzt. Für einen Journalisten ist es viel leichter, Barack Obama zu kritisieren als einen Lokalpolitiker, dem man wieder begegnet. Hinzu kommt, dass sich ein Grossteil im Leben des Publikums nun einmal im Lokalen abspielt, auch wenn das einige anders sehen. In den Redaktionen heisst es bis heute: Du fängst im Lokalen an, und wenn du dich bewährst, kommst du ins Inlandressort. Das halte ich für völlig verkehrt. Die kompetenten Leute braucht es im Lokalen.“
Das sagt Wyss natürlich auch, weil das Interview in einer Lokalzeitung erscheint, nämlich dem Landboten aus Winterthur. Anlass des Gesprächs ist der heute in eben jener Schweizer Stadt stattfindende Medienkongress JournalismusTag14. Wir bitten um Beachtung des hübschen Wörtchens „Aufmerksamkeitsbewirtschaftung“.
[+++] Für allgemeinere Überlegungen zur Lage des Lokaljournalismus derzeit vermutlich weniger zu haben sind jene Redakteure, die in Kürze ihren Job bei der Münsterschen Zeitung verlieren bzw. künftig für eine so heißende Zeitung arbeiten werden, die außer dem Titel kaum noch etwas mit dem Blatt gemeinsam haben wird, das sie und die Leser kannten (siehe Altpapier von Dienstag). Damit befassen sich unter anderem Christian Jakubetz in seinem Blog, Spiegel Online (auf dpa-Basis) und der DJV (siehe Newsroom).
Jakubetz meint:
„Am Ende sind diese Sparmodelle leider nur die Vorstufe zum endgültigen Untergang. Weil diese Zeitungen damit auch die letzten Spurenelemente einer eigenen Identität verlieren.“
Und Newsroom zitiert den nordrhein-westfälischen DJV-Landesvorsitzenden Frank Stach direkt („Von der Münsterschen Zeitung muss mehr erhalten bleiben als ihr Name“) und indirekt („Der Leser lasse sich einen solchen einfallslosen Einheitsbrei nicht länger vorsetzen“).
[+++] Eine ausgeruhte Betrachtung der geplanten Entlassungen bei Gruner + Jahrs Brigitte (Altpapier) findet sich bei Media Tribune. Das zeitschriftengeschichtlich bewanderte Autorenduo Jens J. Meyer / Kurt Otto, Anfang des Jahres bereits aufwartend mit einem kenntnisreichen Artikel über den schwer totzukriegenden Mythos, Henri Nannen habe den Stern „erfunden“, sieht
„einen tiefen Einschnitt in die knapp 130 Jahre lange Tradition der Frauenzeitschrift. Denn die Wurzeln der Brigitte gehen weiter zurück als bis zur Gründung von G+J am 30. Juni 1965. Vor wenigen Monaten, im April, wurde stolz der 60. Jahrestag der Umbenennung des Titels Das Blatt der Hausfrau aus dem Ullstein-Verlag in Brigitte gefeiert. Elf Chefredakteurinnen und Chefredakteure standen seitdem an der Spitze. Die Ahnentafel des Magazins reicht allerdings sogar bis zum Start von Dieses Blatt gehört der Hausfrau anno 1886 zurück.“
Nun aber in die Gegenwart: Was Gruner + Jahr da ausgeheckt habe, sei
„angesichts der volatilen Printmärkte (...) ein hoch riskantes Konzept. Denn Fakt ist: Trotz sinkender Auflagen im Segment ist die Brigitte nach wie vor Deutschlands Frauenzeitschrift Nummer eins, ein großer Erfolg angesichts der fortschreitenden Segmentierung ihres Marktes und eines immer kürzeren Lebenszyklus der neu eingeführten Wettbewerbs-Titel.“
Angesichts dessen, dass der Verlag der Münsterschen Zeitung seine Kündigungen damit begründet, das Blatt mache 2,7 Millionen Euro Verlust pro Jahr, muss man vielleicht noch einmal daran erinnern, dass der Verlag Gruner + Jahr, der in Sachen Brigitte nun auf ein „hoch riskantes Konzept“ (Meyer/Otto) vertraut, sich 2013 über einen Jahresüberschuss von 81 Millionen Euro freuen durfte.
[+++] Immer noch im Gespräch, obwohl bereits seit Februar 2013 auf dem Buchmarkt: „Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten - eine kritische Netzwerkanalyse", die Dissertation des Leipziger Medienwissenschaftlers Uwe Krüger. Dass sie noch im Gespräch ist, dafür sorgen unter anderem die Kollegen von Telepolis, die Krüger immer wieder zu Wort kommen lassen. Was aufgrund einer juristischen Auseinandersetzung, die es ohne Krügers Studie vielleicht nie gegeben hätte (siehe, nur zum Beispiel, dieses Altpapier), auch nachvollziehbar ist. Telepolis hat nun anhand von Mail-Auszügen einen Battle inszeniert zwischen dem SZ-Außenpolitikchef Stefan Kornelius - er kommt in Krügers Forschungsarbeit vor und kritisiert jetzt dessen Methoden - und gleich zwei Medienwissenschaftlern: eben jenem Krüger, der sich gegen die Kritik des SZ-Mannes verteidigt, und Michael Haller, der „Erstgutachter von Krügers Doktorarbeit“, der die Kritik von Kornelius ebenfalls kritisiert:
„Ich habe den Eindruck, dass Herr Kornelius von wissenschaftlicher Forschung und Empirie nichts versteht (...) Auch im Journalismus gehört zum ‚kleinen Einmaleins‘ der Rechercheverfahren, bei kontroversen Themen ‚von außen nach innen‘ vorzugehen, das heißt, die Hauptbeteiligten erst am Schluss zu befragen (also erst dann, wenn man weiß, was man fragen/herausfinden muss und auch genügend Fakten kennt, um die Antworten der Akteure einschätzen zu können). Mich überrascht es, dass Herr Kornelius dies alles nicht weiß.“
Hallers bildgewaltiges Fazit:
„Tatsächlich benimmt sich Kornelius wie ein Kickboxer, der einen Schachspieler mattsetzen möchte, indem er das Schachbrett umkippt. Würde der Kickboxer die Schachregeln anwenden, würde er haushoch verlieren.“
Der zweite Teil des Telepolis-Textes - über die Handhabung von Leserkommentaren bei der SZ - wirkt übrigens wie einfach mal so rangehängt, insofern hinterlässt der Artikel insgesamt eher einen Kraut-und-Rüben-Eindruck, obwohl die erwähnten Zitate ergiebig sind.
[+++] Zu jenem Journalistenfilm, der viele Journalisten vielleicht am meisten interessiert - Laura Poitras‘ „Citizenfour“, Start am morgigen Donnerstag - vertritt Dietmar Dath (FAZ) eine abweichende Haltung. Beziehungsweise: Er sieht den Protagonisten Edward Snowden ganz anders als ungefähr alle Kollegen, die sonst so zitiert werden im Altpapier. In dem am Wochenende in der FAS erschienenen und nun frei online gestellten Text mit der Headline „Diesen braven Petzer hat Obama voll verdient“ nennt Dath Snowden einen „Schönschwätzer“, der „genau wie Obama selbst nichts zu sagen hat als seelenlose Demokraten-Hippiephrasen“:
„Wer also dachte, es ginge bei der ganzen Schnüffelentlarvung um einen epischen Kampf zwischen Individualität und anonymen Gruselmaschinen, muss lernen, dass das Leben kein Thriller ist und dieser Edward Snowden kein faszinierender, in die Freiheit verliebter, verschrobener Charakter (...), sondern eine nette graue Maus (...) Der Mann sieht aus wie ein Schwiegersohn, denkt wie ein Zeit-Leitartikel über Verwaltungsethik und war zur falschen Zeit am richtigen Ort.
[+++] Aus ganz anderen Gründen lesenswert ist Swantje Karichs Feuilleton-Aufmacher in der gedruckten FAZ von heute, es geht um ein fragwürdiges Quasi-Zusammenspiel von YouTube und militanten Islamisten, die sich über den Umweg des Vorwurfs der Urheberrechtsverletzung Daten von Kritikern beschafften, die nun um ihr Leben fürchten müssen:
„Ein Mitarbeiter des islamkritischen Senders Al Hayat TV, der auf der Internetvideoplattform Youtube sendet, musste nach Morddrohungen von Islamisten untertauchen. Sein Name war auf schwarzen Listen von Al Qaida aufgetaucht – und zwar durch die Mithilfe von Youtube-Mitarbeitern, also Angestellten einer hundertprozentigen Google-Tochter.“
Eine zentrale Rolle in dem Text - der mittlerweile online ist - spielt die ebenfalls betroffene Al-Hayat-Moderatorin Sabatina James, mit der der Deutschlandfunk gesprochen hat:
„Sabatina James (...) ist nicht ihr richtiger Name. Das Pseudonym hat sie sich nach ihrer Konvertierung vom Islam zum Katholizismus zugelegt. Als sie in Österreich Christin wurde, begannen die Drohungen vonseiten der Familie und der Verwandtschaft. Sabatina James musste fliehen. Seitdem wird sie in einem polizeilichen Opferschutzprogramm betreut. Dennoch tritt sie öffentlich auf.“
+++ Neues zum im Werden befindlichen Gesetzesentwurf zur Abschaffung des Leistungsschutzrechts (siehe Altpapier) ist im Blog der Linken-Politikerin Halina Wawzyniak nachzulesen. [Nachtrag, 13.30 Uhr:] Zum, sagen wir mal: Umdenken bei Springer in Sachen „Gratiseinwilligung“ für Google-Snippets hier erst einmal Links zu Reuters/FAZ, meedia.de und @niggi. Morgen dann mehr.
+++ Zeit Online wird sich „ab Ende dieses Jahres komplett wandeln, (...) mehrere Formate werden schrittweise eingeführt“ - das steht in einer Vorabmeldung des Medium Magazins.
+++ Bei der Feier zum 20-jährigen Jubiläum von Spiegel Online (siehe Altpapier von Dienstag) waren auch Anne Fromm (taz) und Tatjana Kerschbaumer (Tagesspiegel) zugegen. Die SZ schickte gleich zwei Partyberichterstatter (Claudia Fromme, Ralf Wiegand), die in ihrem Artikel mit Boxsportmetaphern nicht geizen („letzte Runde“, „Lucky Punch“, „Deckung“, „Nehmerfähigkeiten“ etc.). Außerdem hat das Autorenduo beobachtet: „Der schon als Nachfolger gehandelte Vize Klaus Brinkbäumer strahlte so verbindlich in die Runde wie die Vorstandschefin von Gruner + Jahr, Julia Jäkel. Katastrophentouristen bekamen kein Bild.“ Und bei Twitter macht sich @nobilor Sorgen um die Fantastischen Vier, die bei der Sause am Montagabend auftraten.
+++ Ein Kolumnist von Spiegel Online findet eine SZ-Kolumnistin doof, die acht Jahre seine Kollegin beim Spiegel war.
+++ Zwei Personalien aus dieser ja noch relativ jungen Woche, die möglicherweise symptomatisch sind für die Perspektiven im Journalismus: René Gribnitz, der Nachrichtenchef der Berliner Morgenpost, und Jörg Michael Seewald, dessen Texte für die FAZ-Medienseite hin und wieder im Altpapier vorkamen, wechseln ins Pressesprechergewerbe, und zwar zu Zalando bzw. 1860 München.
+++ Andererseits, Grund für Optimismus gibt es auch, denn die frühere New-York-Times-Chefredakteurin plant eine Plattform, die Autoren 100.000 Dollar pro Text zahlen will (Guardian). Kleiner Haken: Es erscheint nur ein Beitrag pro Monat. Abramson sucht „one perfect whale of a story" bzw. „Artikel mit der Länge eines Wals“ (FAZ). Präziser: Die Texte sollen „länger (sein) als der längste Magazin-Artikel, allerdings kürzer als ein Buch“ (nochmals FAZ).
+++ publikative.org hat mit zwei Menschen gesprochen, die die Bild-Zeitung in einem Artikel über einen vermeintlichen Angriff auf einer Hamburger Polizeiwache als kürzlich „umgekippte“ Zeugen bezeichnet hat. Resultat der Nachfrage: Sie konnten schon allein deshalb nicht „umkippen“, weil es gar keine neuerliche Befragung gegeben hatte.
+++ Sehr frisch und daher noch unausgewertet: ein Telepolis-Interview mit Stefan Aust unter dem Titel „Die Menschen sind Teil eines Systems, das von Denkmaschinen gesteuert wird."
+++ Nach hinten losgegangen ist eine Image-Kampagne der Emma, die unter dem Hashtag #EMMAistfürmich um persönliche Statements bat, die bei Twitter überwiegend wenig schmeichelhaft ausfielen. Dazu Medienelite: „Nun sollte es nicht wirklich verwundern, dass an diesem Heft kein gutes Haar gelassen wird und der überwiegende Teil der Emma-Fans offenbar Twitter selten bis gar nicht benutzt. Allerdings ist ja nicht erst seit gestern bekannt, dass die Emma so ziemlich alles ist, nur nicht feministisch." Andererseits: „Sich von der Emma und Alice Schwarzer zu distanzieren ist leicht, dienten beide doch schon immer als perfekte Projektionsfläche für antifeministische Diskurse (...)“
+++ Den 11-Freunde-Live-Ticker-Poeten Dirk Gieselmann stellt der Tagesspiegel vor.
+++ „Bornholmer Straße“, die Mauerfallerinnerungs-Komödie bzw. „Tragikomödie“ (Hamburger Abendblatt), die die ARD heute zeigt, gefällt zum Beispiel Lena Bopp (FAZ): „Das Ensemble rechtfertigt jedenfalls jede einzelne der vielen Großaufnahmen, die sich dieser Film leistet. Und es erweist sich als absolut auf der Höhe eines Drehbuchs, das viel wagt und fast alles gewinnt.“ Auch zufrieden: SZ-Redakteur Cornelius Pollmer („Bei allem erkennbaren Bemühen um situativen Witz [...] mehr [...] als Klamauk. Auch davon aber hat ‚Bornholmer Straße‘ genug“). Dagegen hat Jens Müller (taz) eine „Klamotte mit einer merkwürdigen Heroisierungsgeschichte“ gesehen. Und das schon erwähnte Abendblatt interviewt den Regisseur und Nico-Hofmann-Gutfinder Christian Schwochow.
Neues Altpapier gibt es am Donnerstag.