Sie glauben nicht, was passiert, wenn Sie diesen Zeitungskasten öffnen

Zeitungsverlags-Panikstimmung. Todesstrafen-Diskussionen im deutschen Radio und in Afghanistan. Das syrische Inferno in Propaganda-Videos und in der Medienrechtsprechung. Außerdem: eine breaking news von einem prominenten Krautreporter.

Auf Köln richteten sich gerade wegen der sog. HoGeSa-Demonstration (Altpapier gestern) viele Blicke.

In Köln stehen auch neuartige stumme Verkäufer für Zeitungen herum, die zurzeit stumme Verschenker sind. Seit letztem Donnerstag gibt's die neuartige Zeitung Xtra, die 50 Cent kosten soll, aber "für kurze Zeit" den Boxen gratis entnehmbar ist.

Zur Startausgabe gab es ein paar Medienmedien-Würdigungen. "Den Vorteil, auf Nachrichten vom Tage schnell zu reagieren, hat die Zeitung, die zumindest ein Stück weit wie ein Gratisblättchen daherkommt, jedenfalls erst mal nicht genutzt. Schwer vorstellbar, dass der Griff zu 'Xtra' den auf Smartphones ständig verfügbaren Infos wirklich etwas entgegensetzen kann", schrieben die immer freundlichen Kölner von dwdl.de. "Es ist schwer vorstellbar, dass die Jugend zu den bunten Zeitungskästen läuft, statt in der Hosentasche nach dem Smartphone zu greifen", fand meedia.de.

Wer zwei, drei Ausgaben entweder in die Hand gedrückt bekam, dem vollen Zeitungsspender entnommen hat oder hier als PDF runterlud, wer etwa die Titelstory der Ausgabe vom 24.10. ("Partyzone Büdchen/ Ultimativer Start in die Nacht: Am Kiosk geht mehr als nur Vorglühen") ähm ... las, könnte zur Einschätzung gelangen, dass hier ein beherzter Versuch läuft, junge Gelegenheits-Zeitungsleser daran zu gewöhnen, dass bedrucktes Zeitungspapier wirklich kein Geld wert ist.

Um fair zu bleiben: Die noch (Xtra erscheint immer nachmittags) aktuelle Ausgabe widmet ihre erste Doppelseite der Kölner HoGeSa-Demo. Mit härteren, aktuellen Themen aufzumachen scheint also nicht grundsätzlich verboten. Die letzte Doppelseite "Worldnews" - immer vor der letzten Seite mit "Gossip" und einer "Fressnapf"-Anzeige - als Schlag ins Gesicht aller Journalisten zu werten, die sich bemühen, Nachrichten aus einer komplexen Welt angemessen aufzubereiten, ist aber kaum übertrieben. Aktuell sind's die Artikel "IS lässt Geisel in einem Video als Reporter auftreten",  "Mexiko: Ermittler finden Massengrab" und "Youtube erwägt Abo ohne Werbung".

Tagesaktuell kommen von der dafür verantwortlichen M. DuMont Schauberg-Gruppe wieder neue Stellenstreichungsmeldungen. Die betroffenen 40 Stellen in Köln sind wohl zum Teil mit den 70 Stellen deutschlandweit (jeweils dumontschauberg.wordpress.com) identisch und im Rahmen des "Zukunftsprogramms Wachstum" bereits angekündigt worden (siehe auch turi2.de mit einer offiziellen Verlagsangabe auf "Bürokratendeutsch" und dwdl.de). Den Eindruck einer latenten Zeitungsverlags-Panikstimmung strahlt MDS aber nachhaltig aus.

[+++] Was bei Xtra unter der Überschrift "IS lässt Geisel in einem Video als Reporter auftreten" steht, ist die fürchterliche News um den im Jahr 2012 von den ISIS-Terroristen verschleppten britischen Fotografen John Cantlie, die etwa sueddeutsche.de hier kurz auf deutsch, die BBC hier ausführlicher auf englisch zusammenfasst. Aus dem Inferno des syrischen Bürgerkriegs "ragt Cantlie ... als auf eigene Art sehr tragische Figur" heraus, schreibt Tomas Avenarius auf der SZ-Medienseite:

"In Internetbotschaften rechtfertigt der verzweifelte Brite das Vorgehen der Kalifats-Militanten, erklärt deren angeblich hehre Motive, verbreitet in nachgestellter Reporter-Manier IS-Parolen: Noch perfider kann Propaganda kaum aufgezogen werden."

Verzweifelt ist er, weil er zu diesem Auftritt offenkundig "mit der Pistole am Kopf und dem vagen Versprechen auf ein paar Tage längeren Lebens" gezwungen wurde.

####LINKS#### [+++] Schockierend - Jugendradio Fritz diskutiert über die Todesstrafe": Diese Überschrift bei radiowatcher.de klingt ein bisschen heftig. Bei Twitter wurde der Beitrag auch bloß mit "bisschen geschockt" angekündigt. Der Macher des Radioblogs, Ekkehard Kern, ist im Hauptberuf Redakteur der Welt, also bei Springer, wo man ja auch mit sehr vielen (aber auch oft völlig seriösen!) Mitteln Nachrichten verkauft. Bisschen geschockt darf man aber durchaus sein:

Radio Fritz, der jugendlichste Radiosender des RBB, hat die aktuelle Stimmungsmeldung, derzufolge eine Wiedereinführung der Todesstrafe in Deutschland wachsende Zustimmung fände (Altpapier vom Montag) zum Anlass für eine Radiosendung mit Hörerbeteiligung genommen.

"Die Diskussion ist zeitweise völlig ausgeartet. Zwar bemühte sich Moderatorin Stephanie Deubel, allzu eifrige Verfechter der Todesstrafe zu bremsen, was ihr aber nicht immer gelang. Wird das sich gerne hip und liberal gebende Radioprogramm Fritz von einer Masse reaktionärer Jugendlicher gehört?",

schreibt Kern und hat entsprechende Ausschnitte aus der einstündigen Sendung als gut klickbare Audios in den schriftbasierten Beitrag eingebunden. Ganz große Vorwürfe lassen sich der RBB-Moderatorin offenbar machen, weil sie eben mit dem anrufenden Publikum live interagieren muss. Aber zur Verwirrung von Zeitgeist-Einschätzungen trägt die Sendung bei.

Weil wir hier im Altpapier ja Freunde nicht immer ganze nahe liegender Zusammenhänge sind: Dieses Radio Fritz ist eine der beliebten, ergo recht reichweitenstarken ARD-Jugendwellen (Wer einmal eine Stunde Fritz gehört hat, würde jede Petition, dass öffentlich-rechtlicher Rundfunk werbefrei sein sollte, sofort unterschreiben), die die Basis für den trimedialen Jugendkanal bilden sollten, mit dessen Einrichtung viele Hierarchen vor allem der ARD nun gerne begonnen hätten. Nun wird er ja bloß bimedial, muss also aufs Fernsehen verzichten. Dazu steht in der aktuellen epd medien-Ausgabe ein (derzeit nicht frei online verfügbarer)meinungsstarker Kommentar:

"Für ARD und ZDF bedeutet das zunächst einmal: Das Konzept, an dem sie in den vergangen zwei Jahren gearbeitet haben, ist Makulatur und mit ihm auch alle Synergieeffekte, die man sich durch die Verzahnung von Online, Fernsehen und Radio erhofft hatte. Es ist schon erstaunlich, dass die Medienpolitiker in den vergangenen Monaten immer behauptet hatten, es gebe da noch 'offene Fragen' zu dem Konzept und nun einfach ins Blaue hinein etwas ganz anderes beauftragen. Zyniker sagten sofort nach der Entscheidung der Ministerpräsidenten: Einen Jugendkanal im Internet gibt es doch schon, er heißt Youtube",

schreibt Diemut Roether zu dem "unausgegorenen Kompromiss".

[+++] Aber zurück zum Topthema Todesstrafe. Aus Afghanistan berichtet die TAZ heute von einer neuen Todesstrafen-Forderung für einen oder mehrere Journalisten. Es geht um einen Kommentar, der "die Existenz Allahs angesichts des Leids in der Welt und der in seinem Namen von den Taliban und dem Islamischen Staat (IS/ISIS) verübten Verbrechen" hinterfragt hat. Erschienen ist er im Afghanistan Express, der sich online ("Gedruckt erscheint das Blatt nicht mehr") mit der Unterzeile "The Voice of a more hopeful generation" vorstellt und nun eine "deepest apologize for our technical mistake" publiziert hat, der sich Angst deutlich anmerken lässt.

"Der Ausgang dieses Streits dürfte zeigen, ob [der neue Präsident Ashraf] Ghani wirklich die Pressefreiheit verteidigt", meint die TAZ.

[+++] In einer frühen Phase des Infernos des syrischen Bürgerkriegs, als die Fronten noch anders waren und/ oder erschienen, ging es im Inland um "Grundstoffe", die sowohl zur Herstellung von Zahnpasta als auch von massenhaft tödlichen Chemiewaffen sind und aus Deutschland nach Syrien geliefert worden waren.

Zur damaligen Berichterstattung hat das Bundesverfassungsgericht nun ein Urteil gesprochen, das Anfragen an Behörden, wenn "ein starker Gegenwartsbezug" vorliegt, grundsätzlich eine Eilbedürftigkeit bescheinigt, also den Auskunftsanspruch der Presse stärkt (EPD). Auf die komplexen Umstände (eigentlich wurde die Verfassungsbeschwerde abgewiesen) genauer ein geht Christian Rath ebenfalls in der TAZ. Und der Antragsteller selbst, Tagesspiegel-Redakteur Jost Müller-Neuhof, äußert sich natürlich ebenfalls zu seiner Sache gegen den BND.

Dafür, dass Zeitungen an sich Geld wert sind oder sein können, ist das kein spektakuläres, aber ein ganz gutes Beispiel.
 


Altpapierkorb

+++ "Mir erscheint es ein wenig eitel, meine Rubrik 'Medienmenü' für die Krautreporter mit einer Folge zu beginnen, in der es um meine eigenen Lesegewohnheiten geht. In den zwei Jahren, in denen dieses Format in ähnlicher Form auf meinem Blog zuhause war, habe ich mich immer darum gedrückt. Aber ..." Uneitelkeit könnten den Markenkern der Krautreporter ja doch empfindlich beschädigen. Christoph Koch nimmt dann kein Blatt vor den Mund ("Am Klassiker Bildblog habe ich mich bis auf Ronnie Grobs 6-vor-9-Sammlung leider ein wenig sattgelesen ..."). +++ Außerdem ebd.: Tilo Jung hat nun also auch einen israelischen Siedler im Westjordanland interviewt ("Wir sind hier in Palästina, oder?"). +++ Außerdem ebd. und breaking: Richard Gutjahr ist kein Apple-Fanboy mehr!! +++

+++ "Wie viele der aktuellen Kommentare und Leitartikel in deutschen Zeitungen stammen von Frauen? Wie oft wird die renommierte Seite 3, wie viele der großen Essays und Debattenbeiträge im Feuilleton werden von Frauen geschrieben? ... Bei Artikeln zur Kunst tauchen Frauennamen etwas öfter auf, auf Ausstellungen kann man Frauen anscheinend schicken. Gerne dürfen sie auch Bücher lesen und rezensieren. In vielen Haushalten liegen die Literaturbeilagen der letzten Buchmesse ja noch 'zum Späterlesen' auf dem Gästeklo, da kann man nachzählen ..." (Hilal Sezgin, "Die emanzipierte Redaktion", auf der TAZ-Meinungsseite). Um Frauenanteile an Talkshowredezeit geht's auch. +++

+++ "Mit 'Mörderhus' und 'Nord bei Nordwest' bringen ARD und NDR gleich zwei neue Ostsee-Krimireihen ins Programm", sammelbespricht die SZ die Donnerstags-Filme dieser und der nächsten Woche. Während sich in "Mörderhus - Der Usedom-Krimi" um die Kommissarin "eine Dorfgemeinde, in der wie in einem Stephen-King-Roman jeder Bewohner sozusagen eine Leiche im Keller hat", sammele, neigten bei den "Polizei-Tierärzten aus 'Nord bei Nordwest' ... alle zum Overacting", macht Nicolas Freund gespannt. +++ Aber wird die Nordsee nicht benachteiligt? Immerhin dreht das ZDF ja weiterhin Sylt-Krimis ... +++

+++ Während der "Schwarze Kanal" des DDR-Fernsehens vor 25 Jahren endete (Willi Winkler/ SZ: "eine Rumpelkiste voller Medienkritik, die sich gewaschen hatte, wenn auch in etwas trüber Brühe. (Frage also: Warum nennt Jan Fleischhauer seine Spiegel-Online-Kolumne deshalb nach Schnitzlers Sendung?)", kommt die vor 25 JAhren entstandene Jürgen von der Lippe-Show "Geld oder Liebe" vorübergehend zurück. "Wenn es nicht gelingt, mit unseren Sendungen weiterhin Gesprächswert zu schaffen, verteilen sich die Zuschauer, und die Fragmentierung wird zum Bedeutungsverlust des Mediums insgesamt führen", warnt WDR-Unterhaltungschef Siegmund Grewenig in Hans Hoffs Aufmacher der SZ-Medienseite. Frei online steht der Tagesspiegel-Bericht. +++

+++ "Nur der Tod kann sie aus Washington abberufen", Patrick Bahners' Aufmachertext der FAZ-Medienseite, ist sowohl aktuelle (deutsche) Buchbesprechung zu Mark Leibovichs "Politzirkus Washington" ("Nikolaus Brender, der frühere Chefredakteur des ZDF, weist in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe auf die Nachahmung amerikanischer Sitten im Berliner Regierungsviertel hin: Altpolitiker haben den lukrativsten Abschnitt ihrer Berufstätigkeit noch vor sich. Brender vergleicht den Autor ... mit Balzac") als auch gesprächsbasiertes Porträt Leibovichs als auch tagesaktuell ("Wird zu [Ben] Bradlees Trauerfeier heute auch Jeff Bezos erscheinen ...? Wahrscheinlich ist das nicht"). +++ Außerdem ebd.: Lob für Arte: "... diese Vielschichtigkeit ins Bild zu setzen, ist ein filmisches Wagnis. Es ist hier ausgesprochen gut ausgegangen. Weil man nicht nur bei diesem, sondern auch bei den schon gesendeten Beiträgen über Deutschland und die Türkei den Aufwand spürt, mit dem hier produziert wurde - so angenehm spürt, dass im Fall der insgesamt fünfteiligen Reihe 'Europa und seine Schriftsteller' nicht einzelne Dokumentarfilmer zu loben sind. Sondern auch der verantwortliche Sender", meint Lena Bopp. +++

+++ Eine Umorientierung in der sächsischen Medienpolitik, deren bisheriger Macher Johannes Beermann demnächst bei der Bundesbank einen vermutlich lukrativeren Lebensabschnitt beginnt, hat Steffen Grimberg (Zapp-Blog) beobachtet. +++

+++ Dass der Begriff "Katastrophe" "durch die allzu häufige Verwendung" "verschlissen" ist, findet Floskelwolken-Macher Udo Stiehl in seinem Blog. +++

+++ Zum "ganz dicken Brett", das der frisch gebackene Digitalwirtschafts-Kommissar Günther Oettinger "bohren" will, hat sich FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld noch keine abschließende Meinung gebildet. Er äußert aber Bewunderung für den Ehrgeiz. +++ Zentraler Satz des Brettes: "Ich muss jetzt eine Balance finden zwischen den Interessen der Nutzer und der Eigentümer der intellektuellen und künstlerischen Werte im Internet" (handelsblatt.com, Agentur-Zusammenfassung des Print-Handelsblatt-Artikels). +++ Gelassen (Dass eine "EU-Urheberrechtsreform ... kommt, ist nicht überraschend, denn sie wurde für diese Legislaturperiode angekündigt"), und humorvoll ("Ungeklärt ist bisher, ob Oettinger auf schwäbisch von 'Werken' oder tatsächlich von 'Werten' redete, oder ob hier ein Übersetzungsfehler beim Handelsblatt vorliegt"), ohne lustige Oettinger-Fotos zu strapazieren: netzpolitik.org. +++ Schon mal voll kritisch ("doppelte Themenverfehlung ... Untaugliche Instrumente zur durchaus bedenkenswerten Regulierung großer Plattformanbieter wie Google paaren sich mit Vorschlägen zu Verwertungsgesellschaften, die auf EU-Ebene zumindest in naher Zukunft kein Thema sein werden"): Leonhard Dobusch bei zeit.de. +++

+++ Und Gemeinsamkeiten zwischen Miley Cyrus und Achim Mentzel entdeckt der Tagesspiegel beim Gespannt-Machen auf die neue "Make Love"-Staffel des MDR-Fernsehens. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.