Verstehen ohne Denken

Medienberichte über den NSA-Untersuchungsausschuss versetzen Peter Altmaier in Drohstimmung. Eine Münchener Presserichterin pflegt eine bestenfalls naive Definition von Antisemitismus. Radio Bremen hofiert die AfD. „Wer wird Millionär“ wird heute 15. Und am Sonntag startet „das spannendste Unterfangen im gegenwärtigen Hörspiel“.

Also, heute um 13 Uhr gucken wir doch bestimmt alle Phoenix, gell? Heben die Ministerpräsidenten den Daumen für den Jugendkanal, oder senken sie ihn? Oder überraschen sie uns noch mit einem so charmanten wie unmissverständlichen Vielleicht? Der Ereigniskanal überträgt die Pressekonferenz der Länderchefs live. Zur Thematik muss an dieser Stelle nichts mehr gesagt werden (siehe zuletzt Altpapier von Dienstag oder Donnerstag), lediglich die Spannung sei hiermit noch mal ein bisschen geschürt.

[+++] Im heutigen Altpapier werden Jubiläen an verschiedenen Stellen eine Rolle spielen: Das Blog netzpolitik.org zum Beispiel wird zehn Jahre alt. Daniel Bouhs würdigt es in der taz, und indirekt würdigt es auch Kanzleramtsminister Peter Altmaier, der am Rad dreht, weil in vier Fällen Medien - u.a. netzpolitik.org - im Rahmen der Berichterstattung aus dem NSA-Untersuchungsausschuss aus geheimen Unterlagen zitiert haben. Die Vorlage können die Geburtstagskinder natürlich nicht ignorieren:

„Unsere Berichterstattung zur weltweiten Totalüberwachung und der Rolle des BND schadet dem Staatswohl. Das behauptet der Chef des Bundeskanzleramtes in einem Brief an den Geheimdienst-Untersuchungsausschuss und droht Leakern mit Strafanzeige. Wir teilen diese Einschätzung nicht – und veröffentlichen den Brief.“

Aus dem wir zumindest eine Passage zitieren wollen, nämlich jene, die konkret den mutmaßlichen Staatswohlschaden betrifft:

„Der vertrauliche Umgang mit eingestuften Unterlagen – insbesondere in Fällen, in denen auch das Verhältnis zu ausländischen Staaten betroffen ist – ist ein Kernbestandteil des Schutzes der Bundesrepublik Deutschland.“

Die anderen von Altmaier erwähnten Medien - bzw. deren Online-Ableger, also SZ.de und Spiegel Online - gehen auf den Drohbrief ebenfalls ein.

[+++] Mehr Rechtliches, aber von einer anderen Front: Dass maßgebliche Akteure des hiesigen Presserechtswesens Positionen vertreten, die nicht immer in Einklang zu bringen ist mit dem sog. gesunden Menschenverstand, ist eigentlich nicht sonderlich überraschend, aber eine Münchener Presserichterin sorgt diesbezüglich dennoch für Aufmerksamkeit. Sie hat darüber zu befinden, ob die linke Publizistin Jutta Ditfurth den am rechten Rand umtriebigen Jürgen Elsässer einen „glühenden Antisemiten“ nennen darf. Das Landgericht München verhandelt die Causa gerade in der Hauptsache, in diesem Altpapier war sie schon mal kurz ein Thema, als sie sich noch im Einstweiligen Verfügungsverfahren befand.
Nach Auffassung der Richterin ist ein glühender Antisemit jemand,  der „das Dritte Reich nicht verurteilt“. Deshalb darf sich Elsässer, „der kürzeste Schweif, mit dem der ideelle deutsche Gesamtschäferhund je gewedelt hat“ (Dietmar Dath in diesem Buch), nun einige Hoffnungen machen, in erster Instanz zu siegen. Die Jüdische Allgemeine kritisiert das Gericht:

„Wer in Unkenntnis historischer Tatsachen versucht, den irrationalen Hass gegen Juden auf zwölf Jahre Nazidiktatur zu reduzieren, (...) schränkt die Meinungsfreiheit von Presse und Literatur in verfassungsrechtlicher und historischer Hinsicht in bislang nicht gekanntem Umfang ein.“

Der um knackige und plastische Formulierungen selten verlegene Henryk M. Broder (Die Welt) kommentiert:

„Das ist so logisch, als würde man nur einen Gangbang als Vergewaltigung gelten lassen.“

Der Form halber muss man sagen: Noch ist eine Entscheidung in diesem Sinne nicht ergangen - das Urteil ist für den 19. November angekündigt -, aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Sache ausgeht, wie von den Kollegen befürchtet, ist hoch. Zumindest am Rande ist noch aufschlussreich, dass, wie die Jungle World bemerkt, Karl-Heinz Hoffmann, „der ehemalige Anführer der neonazistischen ‚Wehrsportgruppe Hoffmann‘ (...) während der Verhandlung als Zuhörer zwei Meter von Elsässer entfernt (sitzt)“.


[+++] Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat schon viele Rechtfertigungsvirtuosen hervorgebracht, und in dieser Tradition steht nun auch ein überregional bisher nicht auffällig gewordener Redakteur von Radio Bremen. Kai Schlüter heißt der Mann, er ist beim von NDR und Radio Bremen betriebenen Nordwestradio der „Koordinator“ der Diskussionsreihe „Nordwestradio unterwegs“. Dort lief in dieser Woche eine Sendung mit dem eleganten Titel „Hat Bremen ein Problem mit Flüchtlingen?“, und eingeladen war auch ein Kamerad der AfD - „obwohl die rechtspopulistische Formation in Bremen bis heute kein landespolitisches Programm gezimmert hat“ (Lena Kaiser in der taz), geschweige denn in der Bürgerschaft vertreten ist. Auf Kritik an dieser Entscheidung reagiert Schlüter gegenüber der taz u.a. mit der Äußerung „Wir laden Leute ein, von denen wir glauben, dass sie zum Thema etwas zu sagen haben.“ Und den am leichtesten greifbaren Textbaustein, der in solchen Fällen zur Verfügung steht, hat er auch noch im Angebot:

„Der Protest (...) bestätigt uns, dass wir ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatte getroffen haben.“

Naja, vielleicht muss man einfach auch froh sein, dass Schlüter nicht Jürgen Elsässer eingeladen hat.

[+++] Eine der fulminantesten in letzter Zeit formulierten Kritiken an öffentlich-rechtlichen Inhalten kommt vom Historiker Peter Schöttler, geäußert hat er sie beim ansonsten laut Fritz Wolf (epd medien, Seite 9/10) enttäuschenden „Großen History Day“, bei dem jedenfalls „kaum analysiert oder gar problematisiert, was im Geschichtsfernsehen so geschieht“. Schöttler indes, so Wolf, tat es:

„Er vermisste insgesamt den differenzierten Blick. Es gebe da ein breites Spektrum im ‚bis hin zu Dokumentationen wie ‚Terra X’, wo die Gefahr der Verkitschung von Dokumenten evident ist und zwar nicht nur Verkitschung der Fakten, sondern auch die Verkitschung des Forschungsprozesses als Abenteuerstory‘. Den Filmemachern schrieb er ins Stammbuch: ‚Deutsche Filmemacher sind zu feige, dem Publikum ein paar kompliziertere Gedanken zuzumuten. Sie suggerieren, man könnte ohne Denken verstehen.‘ Und den Zuschauern empfahl er ein einfaches Orientierungsmittel: ‚Bombastische Musik ist ein Indikator für schlechtes Geschichtsfernsehen.‘“

####LINKS#### Zumindest die letzten beiden Zitate gelten ja durchaus auch für Fernsehen generell. Dass zumindest aus NRW künftig besseres Fernsehen kommt - dazu trägt der WDR ab 2015 weniger bei, jedenfalls will er Geld, das er „bisher freiwillig zusätzlich an die Film- und Medienstiftung NRW gezahlt hat, (...) einsparen. Dabei geht es um 3,1 Mio Euro pro Jahr.“ Das schreibt die Funkkorrespondenz, die außerdem berichtet, die Produzentenverbände sähen in der „von der Landesregierung eingeleiteten Kürzung ihres Filmförderzuschusses“ eine „massive perspektivische Bedrohung“ für in NRW ansässige Film- und Medienunternehmen“. Mehr zu diesem Protest zum Beispiel hier.

 

[+++] Die Lage und die Perspektiven des Musikjournalismus sind hin und wieder Thema im Altpapier. Im österreichischen Musikmagazin Skug konstatiert Gabriel Mayr nun einen „Stillstand zwischen Hype und Nostalgie“:

„An den Textformen des Musikjournalismus hat sich seit Jahrzehnten kaum etwas geändert (...) Was Rolf Hinz über die 1980er Jahre geschrieben hat, nämlich, dass der Popjournalismus damals nicht davor zurückschreckte, ‚dem Leserpublikum weitreichende ästhetische und politische Entscheidungen abzufordern‘, scheint heutzutage suspendiert.“

Mayr wünscht sich „radikale AkteurInnen“, die „dem Althergebrachten (sowohl inhaltlich als auch strukturell) einen Arschtritt verpassen“. Gewiss, es geht hier um ein Subgenre des Journalismus mit manch ganz eigenem Gesetz, aber der Text ist auch darüber hinaus anregend, weil er inhaltliche Forderungen stellt, weil er implizit fordert, dem Leser etwas „abzufordern“, wohingegen die üblichen Senfdazugeber des Zukunftsdebattengewerbes dem Leser ja immer irgendwie entgegenkommen wollen.

Erschienen ist der Text in der 100. Ausgabe des Magazins, das das runde Jubiläum im Übrigen auch heute feiert - dies nur als Hinweis für unsere treuen Leser in Wien.

[+++] Gefeiert wird auch anderswo: „Wer wird Millionär“ zum Beispiel wird heute 15, und die Antwort auf eine der Fragen, die die FAZ auf ihrer Medienseite an den Quizfragenschreiber Harald Valder stellt, wird vielleicht ein paar Zeitungsverleger für ein paar Minütchen in Feierlaune versetzen:

„Wie sollten sich Kandidaten vorbereiten, um Chancen auf die Million zu haben?“
„Meine Empfehlung ist klassisch: ganz aufmerksam die Tageszeitung lesen. Und zwar möglichst von vorne bis hinten. Dann ist man zumindest auf Fragen zu aktuellen Geschehnissen gut vorbereitet.“

Doch damit nicht genug an Jubiläen: Der Freitag verweist auf seiner aktuellen Titelseite auf einen Text in seiner Online-Ausgabe, der jenem Mann gewidmet ist, „der vor 20 Jahren das Bloggen erfand“. David Winer ist es. Wie der Gepriesene selbst diesen Text - bzw. den im Guardian erschienenen Originalartikel - findet, steht hier.

Noch älter als „Wer wird Millionär“ und das Bloggen wird dieser Tage die Hörfunk-Diskussionsrunde „SWR 2 Forum“, die seit 30 Jahren werktäglich am späten Nachmittag zu hören ist. Die Funkkorrespondenz lobt:

„Oftmals werden es rhetorischen Sternstunden. Dabei hat die sehr akribisch arbeitende Redaktion es in aller Regel vermeiden können, dass die Gesprächsrunde zu einer glamourösen akustischen „Talkshow“ verkommen wäre. Genau gegen diesen Verdacht personalisierter Eitelkeiten und für den Hörer peinigender Selbstdarstellungen hat die Redaktion fast immer erfolgreich vorbauen können."


Altpapierkorb

+++ Wer schreibt über Ebola so, wie man es von ihr erwartet? Die Bild-Zeitung. „In Zeiten von Ebola“ spiele „Afrika wieder eine größere Rolle“ für das Blatt, und zwar „als perfekter Katalysator für Vorurteile und Rassismus“, kommentiert Viktor Funk in der Frankfurter Rundschau. Ebola und die Medien - das ist auch eines der Thema in einem Kommentar Stefan Kuzmanys für Spiegel Online.

+++ Muss man sich Sorgen um die dpa machen? Ein internes Strategiepapier des Chefredakteurs Sven Gösmann soll laut Christian Meier (meedia.de), der es durchgeackert hat, unter anderem die Forderung enthalten, die Redakteure der Agentur müssten „mehr in ‚Informations-Atomen‘ denken“. Falls es unsere Leser beruhigt: Wir hier vom Altpapier denken hin und wieder, aber nicht in Atomen.

+++ Seit 2013 haben Volker Lilienthal und Stephan Weichert, zwei unserer Medienprofessorendarlings, gemeinsam mit einem „Team aus jungen Wissenschaftlern“ (Weichert) geschuftet, und nun liegt die im Auftrag der nordrhein-westfälischen Landesanstalt für Medien entstandene Studie „Digitaler Journalismus.  Dynamik – Teilhabe – Technik“ vor. Eine Zusammenfassung als PDF gibt es direkt beim Auftraggeber. Wer den Wolf Schneider in sich zu zähmen vermag und Irgendwas-mit-Wörgfloh-Texte schätzt, klicke zu Vocer, wo Weichert himself die Studie vorstellt. Kostprobe: „Audience Engagement wird als berufliches Konzept erst verzögert in den Redaktionen umgesetzt. Aber der Wille, in diesem Social Journalism einen stetigen Lernprozess für den redaktionellen Workflow zu begreifen, ist erkennbar.“

+++ „Ich mache erst mal eine Fernsehdokumentation über den gestorbenen Journalisten Michael Althen, mit dem ich befreundet war (...) 2015 kommt dann ein LKA-Thriller über deutsche Zielfahnder, die geflohene Straftäter im Ausland verfolgen“ - Dominik Graf im Tagesspiegel-Interview über seine Zukunftspläne. Anlass des Gesprächs: sein morgiger BR-Film „Die reichen Leichen.“

+++ Über die von Manuel Möglich präsentierte vierteilige ZDFneo-Reportagereihe „Deutschland von außen“, deren zweite Folge am gestrigen Abend zu sehen war, schreibt Harald Keller in der Funkkorrespondenz: „Möglich als Reporter und Presenter der Reihe (agiert) nicht so unverbindlich, selbstbezogen oder aufgesetzt ironisch (...) wie andere TV-Präsentatoren seiner Generation. Ein generelles Gesamturteil wäre vermessen, es gibt gelungene und weniger gelungene Sendungen.“

+++ Des weiteren in der Funkkorrespondenz: ein Text von mir über das insgesamt gesehen nicht gelungene „11 Freunde TV“.

+++ Radio am Wochenende:  Auf der SZ-Medienseite, auf der rechts oben heute erstaunlich viel Weißraum zu entdecken ist (sofern ich als Layout-Hooligan das beurteilen kann), preist Stefan Fischer ein am Sonntag mit einem Beitrag Brigitte Kronauers bei hr2-kultur startendes „Radioprojekt, das einmalig ist in seinem Umfang und in seinen Ambitionen. Es ist das spannendste Unterfangen im gegenwärtigen Hörspiel: Bis 2016 werden 21 Stücke von 21 Schriftstellern gesendet, die auf Erzählungen oder Versen aus Altem oder Neuem Testament fußen“. epd medien würdigt dieses „sogenannte Bibelprojekt“ auf drei Seiten.

+++ Und last but not least: Sowohl Uwe Kammann (epd medien) als auch Karl-Otto Saur (Funkkorrespondenz) würdigen das Wirken des am vergangenen Freitag verstorbenen MDR-Gründungsintendanten Udo Reiter. Er „musste manchen Spott einstecken, aber als ein paar Jahre später das Dritte Programm des MDR zum erfolgreichsten Dritten Programm der gesamten ARD aufgestiegen war, wusste er, dass er richtig entschieden hatte, auch wenn das Programm vielen im Westen als zu nostalgisch erschien“ meint Saur. Kammann, dessen Text derzeit nicht frei online steht, formuliert es nicht unähnlich.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.