Das Leistungsschutzrecht überrascht mit einer Anwendungsart, mit der seine Freunde wohl kaum gerechnet hatten. Die ARD überrascht mit nicht bloß gebloggter, sondern live im Fernsehen gesprochener Selbstkritik. Außerdem: Warum zeigt das öffentlich-rechtliche Fernsehen keine EU-Kommissare?
Die EU-Kommission ist ein merkwürdiges, aber in der Europäischen Union ziemlich mächtiges Gebilde. Womöglich ist sie in allerhand Dingen, zum Beispiel beim Aushandeln und In-Kraft-Tretenlassen internationaler Handelsabkommen, mächtiger als gewählte nationale Regierungen, obwohl die Kommission höchstens sehr mittelbar frei gewählt wird. Was die Ende Oktober abtretenden EU-Kommissare derzeit tun, ist immer noch interessant (siehe etwa TAZ heute). Was ihre wahrscheinlich ab November amtierenden Nachfolger tun, auch. Sie werden gerade "gegrillt" bzw. "singen vor", also vor den im Sommer gewählten Europaparlamentariern, die sie im Paket wählen sollen.
Manchmal taucht das sogar in den deutschen Nachrichtenmedien auf; vor allem der als Olli-Welke-Kompagnon aus dem Fernsehen sowie aus dem Leitmedium Spiegel Online bekannte Martin Sonneborn sorgte dafür, dass das Grillen des deutschen und lustigerweise ausgerechnet fürs Digitale vorgesehenen Kommissarskandidaten Günther Oettinger auf großen Portalen wahrgenommen wurde. Dass es so viele lustige Oettinger-Fotos gibt, hat sicher dazu beigetragen.
Insgesamt kommt hierzulande aber kaum etwas von dieser aufschlussreichen und zukunftsweisenden Prozedur vor. "Kollektives Medienversagen", wirft Falk Steiner in seinem Blog den deutschen Medien vor. Als Beleg hat er "Screenshots von faz.net, sueddeutsche.de, zeit.de, bild.de" bzw. von deren Politikressorts montiert. Allerdings sind die genannten ja privatwirtschaftliche Webseiten, die nach Maßgaben ihrer Manager eben um die Werbe-Cents konkurrieren, die Google übrig lässt, und sich meistens an Spiegel Online orientieren. Und die Kommissarskandidaten-Befragungen finden nicht nur - anders als etwa TTIP-Verhandlungen - öffentlich statt, sie werden sogar im Bewegtbild übertragen (als ec.europa.eu-Stream). Bloß im deutschen Fernsehen überhaupt nicht. Wenn wir nur zwei öffentlich-rechtliche Programme hätten, sieben Dritte sowie Arte und 3sat auch noch, wäre das vielleicht verständlich. Aber "Sender wie Phoenix, ZDFinfo oder Tagesschau24" stünden ja überdies zur Verfügung. Auch dort erscheint "das Format, das die Bundesrepublik nicht kennt, das es aber in sich hat und durchaus mediengerecht ist", nicht, beklagt Steiner mit Recht.
Er selbst bloggt übrigens über dieses Format - auf blogs.deutschlandfunk.de/berlinbruessel (und dass Mitarbeiter öffentlich-rechtlicher Anstalten öffentlich-rechtlichen Anstalten Versagen vorwerfen, geschieht ja auch nicht täglich).
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[+++] Aber die ARD ist in punkto Selbstkritik auf einem ganz neuen Dampfer. Gestern abend gegen Ende der "Tagesthemen", war es gar gesendete statt bloß gebloggte Selbstkritik. Thomas Roth erhob das Wort "in eigener Sache", wie es so wohl noch nicht zu hören war (Ausschnitt auf Youtube, ganze Sendung, daher unser Foto oben).
Vorangegangen waren die gebloggte Selbstkritik des "Tagesschau"-Chefredakteures Kai Gniffke am Montag (Altpapier vom Dienstag) und weitere gestern mit der Ankündigung des Vorgehens am Abend. Wie oft bei Gniffke, der niemals seinen "Dr." weglässt, wirken die Worte arg groß ("Umso wichtiger ist es mir, dass wir all den Menschen, die uns jeden Tag ihr Vertrauen schenken, deutlich machen können, dass wir unbewusst einen Fehler gemacht haben" - bewusst Fehler gemacht zu haben, wäre schwieriger zu verdeutlichen...). Aber dass die "Tagesschau"-Redaktion tatsächlich anders mit Kritik umgeht, seitdem der bislang wenig bekannte ARD-Programmbeirat Kritik an der Ukraine-Berichterstattung geäußert hatte oder diese öffentlich geworden ist (Telepolis, Altpapier dazu), ist überdeutlich. Und ja gut so.
Jetzt müsste eines der zahlreichen Anstaltenbeaufsichtigungs-Gremien darauf hinweisen, dass Sender wie ZDFinfo oder Tagesschau24, wenn sie bloß dazu dienen, "Terra X"-Folgen und Regionalnachrichtensendungen anders linear zu wiederholen, anstatt wenigstens zu aktuellen Anlässen live nach Europa zu schalten, auch eingespart werden könnten.
[+++] Ebenfalls am Eskalieren: die Streitigkeit um das diffuse Leistungsschutzrecht, das seit über einem Jahr in Kraft ist, aber seiner Diffusheit wegen bisher nicht angewendet wurde. Gestern teilte Googles deutsche Dependance mit, dass die Suchmaschine "Snippets und Thumbnails einiger bekannter Webseiten wie bild.de, bunte.de oder hoerzu.de nicht mehr anzeigen" wird. Google Germanys Managing Director Philipp Justus leitete das im Unternehmensblog mit einem Schlenker ins 17. Jahrhundert ein, der Springer-Chef Mathias Döpfner und den grauen Herren, die gerade in Berlin Zeitungskongress abhielten, gefallen müsste (die Zeitung als deutsche Erfindung). Dass die aktuelle Maßnahmen, ihnen dagegen überhaupt nicht gefallen dürfte, deutete Justus anschließend auch an:
"Jeden Monat leiten wir über eine halbe Milliarde Klicks zu deutschen Nachrichtenseiten. Jeder dieser Klicks ist für Verlage Schätzungen des amerikanischen Zeitungsverbandes zufolge zwischen 12 und 16 Cent wert."
Und diese sich summierenden Cents werden diesen Medienunternehmen, die in der Verwertungsgesellschaft Media organisiert sind und daher eine Leistungsschutzrechts-basierte Klage gegen Google laufen haben, sowie Unternehmen wie Springer, die als Nicht-Gesellschafter im Boot sind, teilweise entgehen. Nicht vollständig, da Google die Inhalte der Unternehmen nicht völlständig auslistet.
"'Das Kartellamt hat in einem Nebensatz erwähnt, dass Google möglicherweise seine Marktmacht missbrauchen würde, wenn es bestimmte Inhalte gar nicht mehr anzeigt', sagt [Rechtsanwalt Till] Kreutzer. Das gelte insbesondere für die normale Google-Suche, die in Deutschland einen Marktanteil von 94 Prozent hat",
erläutert Patrick Beuth in einem instruktiven zeit.de-Artikel. Aber teilweise entgehen werden die Werbe-Cent/ Pennies den genannten Verlagen,
"denn reine Textlinks werden weniger häufig angeklickt als solche mit Bildern und Beiwerk."
Die Reaktion der VG Media zeugt denn auch von gelinder Panik ("+++ PRESSEMITTEILUNG +++ Google erpresst Rechteinhaber"/ PDF) bzw. lädt zum programmierten Spott (Stefan Niggemeier: "Verlage empört: Jetzt will Google nicht mal mehr ihr Recht verletzen!") ein.
Die Reaktion der betroffenen Onlinemedien besteht darin, erst mal nüchterne Agenturtexte zu bringen (Springers welt.de, Burdas focus.de). Was meinen die Medien, die nicht betroffen sind, weil ihre Verlage in Antizipation der Entwicklung nicht bei der VG Media mitmachten?
"Google zieht ... nun die Konsequenz, die Anzeige dieser Verlagsinhalte so kurz wie möglich zu halten", schreibt faz.net und zitiert drei Politikerinnen von Grünen und Piraten, die finden, das Leistungsschutzrecht gehöre wieder abgeschafft. "Damit dürfte Google in der verqueren Logik des Gesetzes tatsächlich Leistungsschutz-konform sein. Die VG Media Verlage erhalten weiter kein Geld, ihre Inhalte werden aber möglicherweise schlechter von Nutzern gefunden", findet meedia.de aus der Verlagsgruppe Handelsblatt. SPON bleibt knapp. "Gleichzeitig prägt Google aber auch für jeden Nutzer sichtbar das Bild von verrückten Verlagen, wegen derer künftig manche Links, die von Google zu Nachrichtenseiten führen, ohne Vorschautext (und -bild) auskommen müssen. Das erinnert an die Strategie, die Google einst auf seinem Videoportal Youtube verfolgte", als es die GEMA für alle Sperrungen verantwortlich machte, bis das Google gerichtlich untersagt wurde, schreibt Johannes Boie in der SZ. "Eskalation im Streit um das Leistungsschutzrecht", heißt's kurz bei sueddeutsche.de.
Dass die letzte, inhaltlich sogar noch viel schärfere "Eskalation" dieser Art aus diesem Grunde (t3n.de: "Web.de, GMX und T-Online haben die Internet-Angebote mehrerer großer deutscher Publikationen aus ihren Suchergebnissen verbannt") Mitte September an der Öffentlichkeit komplett vorbeiging, ist auch aufschlussreich.
"Andere große deutsche Anbieter ...", scherzt der Deutschland-Chef des sympathischen Datenkraken tatsächlich in seinem Blogeintrag. Wie gesagt, Google hat einen deutschen Suchmaschinenmarktanteil von 94 Prozent.
+++ Max Schrems' europe-v-facebook.org-Klage gegen die europäische Facebook-Hauptniederlassung in Irland haben sich bisher 75.000 Menschen angeschlossen. "Das Zivilgericht in Wien hat die Klage" des Österreichers "zugelassen, Facebook hat sie Ende vergangener Woche aber erst einmal nicht entgegengenommen, weil sie auf Deutsch war", hält Anne Fromm in der TAZ auf dem Stand. Schrems bleibe aber "siegessicher", jetzt wird die Klage übersetzt. +++
+++ "... Dr. Nicolaus Fest, 52, seit 2013 stellvertretender Chefredakteur, verlässt das Unternehmen auf eigenen Wunsch, um in Zukunft als freier Journalist zu arbeiten" (Axel Springer-PM). +++ "Fests Abgang ruft Erinnerungen an seinen gründlich missratenen Anti-Islam-Kommentar von Ende Juli wach. Die Deutung, dass sein Abgang etwas damit zu tun hat, lässt sich nicht von der Hand weisen. ... ... Wie in solchen Fällen üblich, wurde offenbar darauf geachtet, dass eine gewisse zeitliche Distanz zum Vorfall eingehalten wird" (meedia.de). Siehe das "Nicolaus Fest gehört zu Springer"-Altpapier aus dem Juli. +++
+++ Die Vice-Reportage "The Islamic State" (Altpapier) "is a journalistic score that would make any ambitious reporter or news organization envious, and a feat now almost impossible for Western journalists after the executions of James Foley and Steven Sotloff. It could also be construed as a federal crime if the U.S. government wanted to prosecute Vice or [Medyan] Dairieh." (The Atlantic). +++ "... Twitter ist für den IS ein Überlebenskriterium geworden. Als das Netzwerk nach dem Mord an Journalisten mehrere Propagandaaccounts sperrte, wurde das Unternehmen und sogar einzelne seiner Mitarbeiter von Islamisten offen bedroht. Trotz der Sperrungen konnte IS seine Videos weiterverbreiten. Auch die Aufnahmen von der Enthauptung der französischen Geisel gingen über Twitter. Die Nachricht ist klar: Ihr könnt uns nicht aufhalten – Nicht auf dem Schlachtfeld, nicht im Internet" (Kritsanarat Khunkham im welt.de-Blog). +++
+++ Stellenstreichung auf dem Niveau deutscher Verlage: Die New York Times "plans to eliminate about 100 newsroom jobs, as well as a smaller number of positions from its editorial and business operations" (dieselbe). +++
+++ Die FAZ heute mit doppelseitiger Anzeige auf den Seiten 6 und 7. Es wirbt: die FAZ, natürlich mit ihrem "Dahinter steckt immer ein kluger Kopf"-Slogan, um den sie "zu beneiden" ist (Günther Rager kürzlich bei newsroom.de). Heute steckt, auf dem bekannten Prager Balkon, Hans-Dietrich Genscher dahinter. +++
+++ Letzten Donnerstag um 22.45 Uhr in der ARD: Reinhold Beckmann mit siner letzten Talkshow. Heute um 22.45 Uhr in der ARD: Reinhold Beckmann. "Macht.Mensch.Schröder - Beckmann trifft den Altkanzler", "ist quasi das Debüt Beckmanns nach seiner Zeit als Talkmaster. Was er früher mit seinen Gesprächspartnern unternommen hat, den Versuch, die Person mit direkten, manchmal sehr gefühligen Fragen zu öffnen, das macht Beckmann jetzt mit der Kamera", meint Nico Fried auf der SZ-Medienseite zur - soll man's Reportage nennen? +++ "Eine Stunde dauert der Porträtfilm, nach 45 Minuten wird es interessant" (Michael Hanfeld, FAZ). Dann kommen "Rocksänger Klaus Meine und der Maler Markus Lüpertz" zu Wort und lassen "die kernigsten Sätze" hören. Wobei Hanfeld dann zusehends kernig seine eigene Meinung über Schröder kundtut. +++
+++ Hamburg/Heppenheim (Hamburger Abendblatt): Gestern nach dem Odenwaldschulen-Spielfilm die Anne Will-Diskussion. Siehe auch hier nebenan, Frank Lübberding bei faz.net. +++
+++ Auf der SZ-Medienseite: Gerhard Matzig hat seine Urban Priol-Show-Onlinekritik zu einem gedruckten Kabarettstückchen umgearbeitet ("... hat somit den Blondinenwitz in die Politsatire gebracht. Das ist bedingt angriffsfähig im Sinne der Satire. Eigentlich ist es eher holzhammerpeinlich"). +++ Außerdem: ein Porträt Taylor Schillings, die als Star der Netflix-Gefängnisserie "Orange Is the New Black" "in nur zwei Staffeln zur Lesben- und New-Hollywood-Ikone mit Revoluzzeraugenaufschlag" wurde. +++
+++ Auf der FAZ-Medienseite: ein Drehbericht aus dem tschechischen Lenešice (Leneschitz), das für die ARD-Degeto-Produktion "Die Himmelsleiter - Sehnsucht nach morgen" das Nachkriegs-Köln darstellt. +++
+++ Aus "privaten Gründen" gegangen: Thomas Pyczak bei Chip (Hubert Burda Media), meldet new-business.de. +++
+++ Der Evangelische Pressedienst EPD erfreut sich "aller Veränderungen und Unkenrufe zum Trotz bester Gesundheit". Die konfessionelle Publizistik bleibe ein "beständiger Faktor in der Medienbranche": Das sagte der Medienbischof der Evangelischen Kirche in Deutschland, Ulrich Fischer (evangelisch.de). +++
+++ Und weiterer Nachhall zur Jauch-Talkshow (AP vom Mo.): Wir bräuchten "Formate wie 'Vorsicht! Friedman' und Formaterfüller wie Michel Friedman. Eisenhart bis zur Arroganz in der 1:1-Konfrontation bis auf die Knochen. Der Gast kann nicht ausweichen, der Moderator kann nicht ausweichen. Abarbeiten am Skelett von Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Michel Friedman war nie populär, sondern wurde nur bekannt. Günther Jauch ist populär, die Deutschen lieben ihn. Aber bei aller Liebe: Ein Nazi, ein Salafist braucht andere Talkmaster und andere Talkshowzuschauer", schreibt Tagesspiegels Joachim Huber unter der Überschrift "Günther Jauch hat versagt". +++ "Nun spricht er selbst!", meldet bild.de; das heißt der Imam, dem vor allem vorgeworfen wurde, bei Jauch viel zu viel geredet zu haben, spricht. Er sprach aber wiederum mit dem Tagesspiegel bzw. dessen ihm persönlich bekannten Berlin-Redakteur Thomas Lackmann. Und forderte für sich quasi auch einen Friedman ("Hier hätte man bei mir nachhaken müssen") ...+++
Neues Altpapier gibt's nach dem Feiertag erst wieder am Montag.