Ein Lied kann eine Krücke sein

Netflix macht auf dem Weg zur Weltherrschaft in Deutschland Station. RTL steht im Shitstorm, weil der Sender zwei mittelmäßige Sänger nicht das Lied ihrer Wahl schlecht singen ließ. In den USA darf ein Journalist seine Quellen nicht mehr schützen. Endlich wird auch das "Wort zum Sonntag" rezensiert.  

Stoppt die Druckerpressen; Netflix ist da! Ganz recht, PR-technisch hat der US-amerikanische Streaming-Dienst alles richtig gemacht: Erstmal die potentiellen Kunden in Deutschland zappeln lassen (in die Karibik und die Niederlange expandieren geht vor). Dann ein diffuses Start-Datum streuen („im Herbst“). Später Medienjournalisten für den 16. September zu einer Party einladen, ohne deren Anlass genauer zu nennen. Und währenddessen schonmal deutsche Inhalte ins amerikanische Netflix einspeisen, wo sie dann von Nutzern, die nicht bis zum Deutschlandstart auf „House of Cards“ „Orange Is The New Black“ warten wollten, entdeckt und als Screenshots im deutschsprachigen Netz verbreitet werden. Was wiederum deutsche Medien aufgreifen.

Von Apple lernen heißt Siegen lernen, könnte man meinen. Wenn dafür nicht nur die Öffentlichkeitsarbeit, sondern auch das Produkt unwiderstehlich sein müsste. Genau daran gibt es aber nun Zweifel, wie Thomas Lückerath bei DWDL meint.

„Die ersten Reaktionen in diversen Internet-Foren fallen angesichts des derzeit einsehbaren Angebots sehr zurückhaltend aus. Das Erwartungs-Management von Netflix hat diese potentiellen Kunden des Angebots nicht erreicht. Zugriff auf deutsche Produktionen wie ,Sendung mit der Maus’, ,Mord mit Aussicht’, ,Lerchenberg’ oder ,Stromberg’ sowie diverse Fernsehfilme und allerlei Comedy-Programme von Dieter Nuhr ist aus Netflix-Perspektive zwar eine nötige Ergänzung des Angebots, um sich lokal im deutschen Markt zu verankern. Doch - wie befürchtet - erhofften sich viele Nutzer etwas anderes: Im Grunde einfach Zugriff auf das US-Netflix inklusive des dortigen Serienangebots. Doch diesbezüglich sieht es derzeit noch mau aus (...).“

Dass es etwa bei „House of Cards“ die Rechte sind, die die Serie im deutschen Netflix nicht auftauchen lassen, ist ja schon länger bekannt. Dass deutsche Sender und Studios dem amerikanischen Anbieter zudem eher ungern ihre Werke überlassen, steht in der aktuellen Ausgabe des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Dem Netflix-Gründer Reed Hastings auch verraten hat, dass er sich durchaus vorstellen könne, in Deutschland zu produzieren; vorher müsse man aber die Sehgewohnheiten hier analysieren. Denn, so schreiben Isabell Hülsen und Thomas Schulz:

„Trotz aller Nähe zu Hollywood ist Netflix kein Unterhaltungskonzern, sondern ein Technologieunternehmen. Die Strategie ist, nicht einfach das größte Programmangebot zu haben (...), sondern für jeden Kunden die passende TV-Ware zur richtigen Zeit anzubieten. Dazu hat Netflix in den vergangenen Jahren eine riesige Datensammlung über die globalen Fernsehgewohnheiten angelegt, die andauernd aufwendig analysiert wird.“

Um in Deutschland wirklich erfolgreich zu sein, braucht Netflix also erstmal Kunden und deren Daten. Was gar nicht so einfach zu sein scheint (nochmal Der Spiegel):

„Doch selbst die besten Algorithmen können erst einmal nichts daran ändern, dass es Bezahlfernsehen jeder Art in Deutschland schon immer schwer hatte. In den USA ist Netflix eine beliebte Alternative, weil Haushalte im Schnitt um die hundert Dollar im Monat für TV-Inhalte ausgeben.“

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Auch im Wirtschaftsteil der FAS (S.15), wo sich Roland Lindner des Themas annimmt, stehen ein paar Gründe, die es Netflix hier schwer machen könnten.

„Die Deutschen dürfte dabei vor allem die Frage bewegen, ob die vorhandene Infrastruktur überhaupt ein massenhaftes Filmegucken im Internet ohne Störungen zulässt, zumal es hierzulande noch immer Lücken in der Breitbandversorgung gibt.“

Sowie:

„Anders als in Amerika, wo Netflix Streaming-Pionier war, wird das Unternehmen bei seinem Start in Deutschland auf einige Wettbewerber treffen. Hiesige Anbieter wie Watchever, Maxdome, Snap oder auch Amazon werden sich von Netflix nicht so leicht die Butter vom Brot nehmen lassen wollen.“

Wie Reed Hastings solchen Zweifeln normalerweise begegnet, lässt sich wiederum im Spiegel nachlesen.

„Und als Jeff Bewkes, Chef des Medienriesen Time Warner, Netflix mit der albanischen Armee verglich, die versuche, die Weltherrschaft zu erobern, trug Hastings ein Jahr lang eine Erkennungsmarke des albanischen Armee um den Hals.“

Ob es sich nun das Watchever-Motiv tätowieren lässt oder eine Karte mit deutschen Gemeinden ohne DSL-Anschluss im Büro aufhängt, werden wir sicherlich bald erfahren. Denn an Medienaufmerksamkeit mangelt es ja nicht. Mehr über die Kundenzahlen wissen wir ab Mitte September.

[+++] Micky und Gustavo haben ganz schön Glück gehabt. Normalerweise wäre das Duo aus Remscheid am Samstagabend den Weg aller Teilnehmer einer ersten Castingsshow-Runde gegangen: von der Bühne in die Versenkung. Doch Micky und Gustavo (die Namen werden jetzt hier so oft wiederholt, bis sie Ihnen so selbstverständlich über die Lippen gehen wie sagen wir Daniel Küblböck, Annemarie Eilfeld oder Joey Heindle) haben nicht nur schlecht gesungen. Sie haben es auch geschafft, die Schuld für ihren wackeligen Gesang dem Song „Celebration“ zu geben, den sie bei RTLs „Rising Star“ performten. Sie selbst hätten den nicht ausgesucht, sagten sie, womit sie sowohl die Jury als auch das Publikum im Studio sichtlich irritierten. Was man als wahlweise armselig oder naiv abstempeln oder zum Anlass für einen Shitstorm auf die Macher der Sendung nehmen konnte.

Deutschlands Zuschauer haben sich für Letzteres entschieden.

Beispiel gefällig? Zitiert wird aus diesem Facebook-Strang.

„Lügner der selbe scheiß wie DSDS wer nicht ins Konzept passt bekommt nen scheiß Song und fliegt raus......Schade dass mann wieder mal nach Konzept und nicht nach Talent geht.....typisch RTL......einmal Lügen immer Lügen.....einmal Betrügen immer Betrügen“

„Hört auf uns für dumm zu verkaufen. Wir kennen unsere Jungs zu gut In Remscheid und Umgebung die sind Weltklasse so eine Scheisse wie celebration gehört definitiv nicht in ihr Programm. Die haben ein ganz anderes Musik Konzept also erzählt nicht so ein quatsch.. . ich hoffe das die Sendung richtig Flopt. Tut mir nur leid für die anderen Kandidaten die voller Hoffnung sind. Und sicherlich auch bald ein Song der nicht zu Ihnen passt singen müssen. Mal Sehn ob einer von den der Jury ein Song singen würde der ihnen nicht passt Sascha ein Techno oder Anastasia hip I RTL das war ein no go.... . . .“

„Eure Vocal Coaches sind 22 - 24 jährige, pubertierende Weibsbilder, die keine Ahnung von Musik haben und nur ,Profile’ suchen. Von denen hat keiner ein abgeschlossenes Musikstudium. Das sind alles nur Helfer von Norddeich TV, die von so was nix Ahnung haben. Absolute Schweinerei !!! (...) Ich wollte mit RTL zusammen arbeiten, aber was ich da in den letzten drei Jahren erlebt hab, reicht mir. Ich geh jetzt zur ARD. RTL liegt für mich jetzt betont rechtsrheinisch !!!!“

Um es positiv zu formulieren: Der neuen RTL-Castingshow „Rising Star“ mag es zwar an Zuschauern mangeln. Denjenigen, die zuschauten, fehlt es hingegen nicht an Meinungsfreude und Internetzugang.

Für den Sonntagsdienst in deutschen Medienredaktionen war das natürlich das gefundene Fressen: Meedia macht, was Meedia machen muss, nämlich ein paar Tweets von Samstagabend zusammenkopieren und eine erste Analyse andeuten:

„Doch RTL hat nun ein Problem. Nun ist es zwar wenig verwunderlich, dass Kandidaten einer Casting-Show keine freie Hand haben und Einschränkungen besonders in einer Live-Sendung groß sein können. In den vergangenen Monaten hatte sich das Genre der Castings allerdings um Authentizität bemüht und versucht sich als kandidatenfreundlich zu präsentieren.“

Beim Tagesspiegel hält man sich mit einer eigener Meinung zurück, macht sich aber mit dem Auffinden eines zeithistorischen Dokuments verdient, das belegt, dass Teilnehmer von Castingshows manchmal nicht nur des Singens, sondern auch des Schreibens nicht mächtig sind:

„Und Dominik Heikaus, einer der Teilnehmer der ersten Ausgabe von ,Rising Star’ schrieb auf Facebook: ,War selber in der 1. Show .. und es ist fackt die Songs werden dir gegeben und man hat eben kein mit Sprache recht ... es ist tv .. rtl entscheidet alles ... micki und Gustavo ihr wart geil feiert euch.’“

Nur bei DWDL haben Timo Niemeier und Thomas Lückerath eigene Worte sowie eine eindeutige Meinung zu den Ereignissen:

„Am Ende ist der Eklat im Studio in erster Linie peinlich. Peinlich, weil die Jury-Experten von ,Rising Star’ offenbar bis gestern Abend gar nicht wussten, wie die Show funktioniert, in der sie da sitzen. Und dass offenbar zahlreiche Zuschauer sofort zwei gerade ausgeschiedenen Kandidaten Glauben schenken, die sich aus Frust plötzlich der Verantwortung für die Songauswahl entziehen wollen, verrät viel über die Glaubwürdigkeit, die sich RTL im Bereich Show und Casting über viele Jahre systematisch ruiniert hat, indem man das Publikum zu oft an der Nase herum geführt hat - um es freundlich zu formulieren.“

Fazit: RTL hat ein Problem mit der Glaubwürdigkeit und mit Castingshows ohne Dieter Bohlen. Deutschlehrer sollten bei der Notengebung Facebook-Kommentare berücksichtigen dürfen. Und Micky und Gustavo sollten ihre 15 Minuten Ruhm, die sie gerade genießen, richtig auskosten. Denn es lag nicht am Lied, dass sie nicht singen können.


Altpapierkorb

+++ In der SZ wird endlich das „Wort zum Sonntag“ rezensiert. Aber wohl nur, weil nun auch dort die Ice Bucket Challenge angekommen ist. +++ Außerdem heute auf der SZ-Medienseite: Kiss FM ist für den deutschen Radiopreis nominiert und David Denk versucht herauszufinden, woran das liegen könnte. +++

+++ „Bei seiner Recherche ist er auf Quellen in Militär, Geheimdiensten und US-Behörden angewiesen, die nur dann mit ihm sprechen, wenn er ihnen Vertraulichkeit zusichert. Dieses Grundprinzip seiner Arbeit ist jetzt gefährdet. Die US-Justiz hat [James] Risen letztinstanzlich dazu verurteilt, den Namen einer bestimmten Quelle zu nennen. Da er ablehnt, droht dem 59-jährigen Journalisten der ,New York Times’ eine Gefängnisstrafe.“ Dorothea Hahn in der sonntaz über die Pressefreiheit in der USA im Allgemeinen und den Fall des Journalisten James Risen im Speziellen. +++

+++ Wenn Scriptet Reality drin ist, sollte auch Scripted Reality drauf stehen, forderten schon vor einiger Zeit die Landesmedienanstalten, getrieben von der Sorge, manche Zuschauer könnten die harten Schicksale etwa der „Familien im Brennpunkt“ zu ernst nehmen. Die Sender wurden beauftragt, sich auf eine eindeutige Kennzeichnung zu einigen. Doch das ist nur zum Teil gelungen, schreibt der Focus. Jetzt kommt wohl eine gesetzliche Regelung. +++

+++ Wie Regionalzeitungen mit dem Medienwandel umgehen, lässt sich bei „Markt und Medien“ vom Deutschlandfunk nachhören. +++

+++ Wer in Berlin gut informiert sein will, wann in Steglitz ein Baum umfällt, warum so viele Menschen am 23. Dezember auf den Bahnsteigen des Berliner Hauptbahnhofs stehen oder welcher Rentner von seinem Fenster aus schon mal Angelina Jolie beobachtet hat (nein, diese Beispiele habe ich mir nicht ausgedacht), der kommt nicht um die Abendschau des rbb und deren Starreporter Ulli Zelle herum. „Seit 30 Jahren trägt er die gleiche Frisur, mittellanger Seitenscheitel. Während die Hauptstadt sich ständig verändert und Regierende Bürgermeister kommen und gehen, ist Ulli Zelle immer noch da. Verlässlich wie die Berliner Currywurst.“ Schreibt Katja Hübner in ihrem Zelle-Porträt für den Tagesspiegel. +++

+++ „Das ist das Schlimmste: Dass es im Spiegel Intrigen gibt, der Ton mal rauer ist, mal einer über die Klinge springt, das gehört zum Mythos; das sieht man dem Spiegel nach wie einer großen Partei. Unverzeihlich aber ist, wenn sich das stolze Haus der Lächerlichkeit preisgibt.“ David Pfeifer und Ralf Wiegand beschäftigen sich in der Wochenend-SZ noch einmal mit dem Trend zum neuen Chefredakteur bei Spiegel, Focus und Stern. +++ Ebenfalls in dieser Ausgabe gibt es eine (online hübsch animierte) Grafik, die das Vorleben der Tatort-Kommissare aufdeckt. +++

+++ Die Volontäre des Bayrischen Rundfunks haben eine Reportage gedreht; „Der Ort, an dem keiner wohnen will“ heißt das heute Abend laufende Werk, und das meint Silke Burmester heute in der taz dazu: „Tatsächlich eröffnet die Reportage einen überaus warmen Blick auf Menschen, die sich nicht entmutigen lassen. Doch wenn ein so herkömmliches, am Ende sehr braves Stück bereits gewagt ist, dann muss man wohl umso mehr fragen: Bayerischer Rundfunk, was ist bei dir los?“ +++

+++ „Ihr Titel stammt noch aus der Zeit, als sie von Susanne Stichler moderiert wurde, wobei sich darüber streiten lässt, ob er an Albernheit gewinnt oder verliert, wenn man die ursprüngliche Bedeutung als Reim in ,Volle Kanne, Susanne’ noch kennt. Nun heißt die Sendung ,Volle Kanne – Service täglich', was man rätselhaft finden kann, aber für Leute, die über so etwas nachdenken, ist die Sendung ohnehin nicht gemacht.“ Was Stefan Niggemeier Anlass zu diesem Urteil gibt, steht in der FAZ von Samstag. +++

+++ Zum Schluss noch eine Fragen an Tobias Rüther, der für die Medienseite der FAS die drei „Unter Verdacht“-Ermittler Senta Berger, Rudolf Krause und Gerd Anthoff interviewt hat. Und offensichtlich Fan dieser kleinen, in Klammern vermerkten Regieanweisungen ist, die dem Leser mitteilen, dass der Interviewte an dieser Stelle lachte, hustete oder, wie in diesem Fall, juchzte und jaulte. Ganz recht: Senta Berger, Rudolf Krause und Gerd Anthoff haben gemeinsam gejuchzt und gejault, wenn wir das dort vermerkte „Alle juchzen und jaulen auf“ richtig verstehen. Anlass dafür bot Senta Bergers Satz: „Bei 3Sat wurden jetzt ja die ersten Folgen gezeigt, das war sehr interessant für uns, abgesehen davon, dass eine kleine Träne rinnt, wenn man sieht, wie jung wir waren.“ Jetzt die Frage: Bitte, was?! +++

Der Altpapierkorb füllt sich morgen wieder.