Die Gier der Internetgemeinde

... und die Ruhe der Kühe. Bzw.: Deutschland wird IT-Weltmeister. Aussätzige Heroen des Internetzeitalters. Ein  Springer-Reporter in amerikanischen Handschellen. Die Indifferenz von Vice (& Co) beim Eingemeinden. Außerdem: Was sagt die neue Grimme-Chefin?

"Wenn eine Geschwindigkeitsbegrenzung eingeführt worden wäre, als Bedenken aufkamen, dass Kühe womöglich gesundheitliche Schäden durch die irrwitzige Geschwindigkeit vorbeifahrender Züge erleiden, wäre die Entwicklung des Eisenbahnverkehrs und vielleicht der gesamten Industrialisierung vermutlich etwas anders verlaufen."

Obwohl unsere Politiker unter dem Hochdruck, mit dem auch die Vertreter der sogenannten vierten Gewalt sie kontrollieren, arbeiten müssen, haben sie doch Zeit, sich im rechten Moment zurückzulehnen. Den zitierten Denkanstoß gab gestern bereits Dr. Thomas de Maizière oder einer seiner Referenten in der FAZ (S. 6). Dort stellte der Bundesinnenminister das als Teil der "Digitalen Agenda" geplante IT-Sicherheitsgesetz der Bundesregierung vor. Das Kühe-Beispiel soll belegen, dass die Haltung, mit Gesetzesvorhaben den technischen Entwicklungen in "eher zurückhaltender Herangehensweise" zu folgen, anstatt Schritt halten zu wollen, sinnvoll ist. Dass Kühe des 19. Jahrhunderts es schlechter gehabt hätten als Kühe der Gegenwart, würde wohl niemand behaupten.

"De Maiziere hat eine Seite in der FAZ geschenkt bekommen, um für die Digitale Agenda zu werben", fasst netzpolitik.org die eigentliche Relevanz des Textes zusammen. Vor allem hat er die Titelseitenschlagzeile "De Maizière: Deutschland wird IT-Vorreiter" geschenkt bekommen, für die außer der Willensbekundung des Ministers noch nicht viele weitere Anhaltspunkte vorliegen, während faz.net für die Online-Ankündigung des Textes die spannende Überschrift "Unser Datenschutzrecht hat ausgedient" wählte (die sofort die Frage aufwirft, ob denn ein neues Recht nachrückt).

Netzpolitik.org interpretiert den Ministerartikel in seiner lässigen Darüber-kann-man-sich-beschweren-muss-man-aber-nicht-Haltung, greift aber nicht die Kuh-Metapher heraus, sondern eine in eigener Sache. Ein Antrieb, aus dem heutzutage vor Gefahren für trainspottenden Kühe gewarnt würde, sei laut de Maizière die

" ... Gier der sogenannten Internetgemeinde (was ist daran eigentlich noch eine Gemeinde?) nach immer neuen Informationen, seien sie auch noch so klein oder vorläufig. So hat es nur Stunden gedauert, bis der erste Entwurf der Digitalen Agenda 'geleakt' wurde. Nur wenig später folgten die ersten Verrisse der Technooptimisten sowie der naiven Technoagnostiker. Sodann wurden zwischenzeitlich durchgeführte Veränderungen und Konkretisierungen des Entwurfs als Einflussnahme der Hauptstadtlobbyisten hochstilisiert und verdammt."

Auch aufschlussreich, wie der Innenminister sein eigenes "sogenannt" sogleich in Klammern hinterfragt. Seine Sicht auf die Leaks ist das Interessanteste am Text, meint Markus Beckedahl, dessen netzpolitik.org diese Agenda selbst, freilich alles andere als sensationsheischend, geleakt hatte. Diese Sicht könnte mit dem zusammenhängen, was die aktuelle Bundesregierung allen Ernstes offiziell "ungestörte interne Meinungsbildung" (vgl. ebenfalls netzpolitik.org vor fast zwei Wochen) nennt.

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[+++] Die Symbolfigur für Leaks schlechthin, oder doch die bloß die vorletzte Symbolfigur?, Julian Assange, ist auf vielen Start- und Titelseiten mal wieder prominent vertreten. Es geht ihm auch gesundheitlich schlecht, wohin wird sein Weg führen?

"Fast hätte man ihn vergessen", leitet die TAZ ihren Kommentar unter der Überschrift "Der traurige Aufklärer" ein, der zwischendurch noch mal die These formuliert, dass "das ungefilterte Ins-Netz-Schütten der erlangten Informationen" à la Assange "sich überholt" habe durch die vor Veröffentlichung von Journalisten bearbeiteten Snowden-Enthüllungen, aber mit dem Fazit endet, dass wir Assange und sein Verdienst dennoch nicht vergessen sollten.

Dem gegenüber einen Schritt weiter geht Ulrich Clauß von Springers Welt (die übrigens im Nachtblog vermelden musste oder konnte, dass ein Welt-Reporter "in Handschellen" abgeführt wurde, nämlich Ansgar Graw "im US-Unruheort Ferguson" ...):

"Im Grunde ist es grotesk. Die beiden Menschen, denen wir Aufklärung über Fluch und Segen des Internetzeitalters verdanken wie kaum jemand anderem, fristen ein Schicksal wie Aussätzige."

Clauß spielt Assanges und Snowdens Leaks nicht gegeneinander aus und hofft, zunächst bei Assange, dass dessen "Causa nun mit angemessener Würde und der Ernsthaftigkeit seiner Sache entsprechender Transparenz" geklärt wird. Das klingt schon fast nach Thomas de Maizière. Doch Clauß geht weiter:

"Wenn sich eine rechtsstaatliche Ordnung auf Dauer außerstande sähe, mit einem zugegebenermaßen äußerst unbequemen, um nicht zu sagen exaltierten, aber eben doch höchst verdienten Aufklärer in saubere Formalien zu kommen, stellen sich grundsätzliche Fragen. Und das nicht nur für Assange, sondern auch für die rechtstaatliche Ordnung."

Und wenn wieder saubere Formalien vorliegen, dann könnten sich auch wieder kluge Bundesminister ohne Verrenkungen zu digitalen Themen äußern.

[+++] Harter Schnitt. Auf der FAZ-Medienseite stehen oft lange Texte, die nicht immer große sind. Aber heute (S.13, noch nicht frei online).

Hannah Lühmann hat sich die Videoreportage "The Islamic State", die der englische Reporter Medyan Dairieh für Vice News, den rasant gewachsenen, komplex strukturierten Medienkonzern ("... wurde in den frühen neunziger Jahren von drei arbeitslosen jungen Männern im kanadischen Montreal gegründet, als flippiges Gratismagazin. Noch heute liegt es kostenlos in Bars und Plattenläden aus, und das in mehr als dreißig Ländern. Aber 'Vice' ist längst mehr: ein Medienimperium, das eigene Videoreportagen  produziert, die unter anderem das ZDF kauft..."), bei den IS/ ISIS-Terroristen eingebettet gedreht hat, noch mal angesehen. Vergangene Woche fanden Rezensenten der FAZ und der SZ bzw. ihrer Onlineportale die Reportage okay, vor allem, weil sie annahmen, dass die Selbstdarstellung der islamistischen Massenmörder sich schon entlarven werde. Wobei das natürlich im Auge jeweiliger Betrachter liegt (Altpapier).

Die meisten Betrachter, die Zielgruppe von Vice und Co, und wie die Dinge dieser Zielgruppe dort präsentiert werden, sind nun Lühmanns Themen. Zunächst umreißt sie den Vice-Kosmos:

"Die Plattform vermittelt dem Leser und Zuschauer den Eindruck, dass die Welt von Idioten und Freaks wimmelt, wobei sie keinen grundsätzlichen Unterschied macht zwischen Vergewaltigern in einem bolivianischen Urwalddorf und den extrem unangenehmen Erfahrungen, die man im Laufe einer einwöchigen Alkoholdiät macht. 'Vice' berichtet über den 'Happy Holocaust Grill' im Hinterhof der NPD-Parteizentrale im mecklenburgischen Dorf Jamel und über das Kalifat in Syrien. Das hat durchaus aufklärerischen Wert, und was Dairieh unter Einsatz seines Lebens ans Licht des Öffentlichkeit bringt, ist wertvoll und entsetzlich. Doch der krude Themen-Mix ...",

hat Folgen, die über einzelne Inhalte weit hinausreichen. Zu den mittelbare Folgen zählen "werbefinanzierte deutsche Blogs, die allenfalls Mini-Redaktionen beschäftigen", im "Versuch aber, schnoddrig und cool wie das Vorbild zu sein", Vice ähnlich seien. Lühmann nennt kraftfuttermischwerk.de ("Liebe. Freiheit. Alles! Und Musik"), schleckysilberstein.com ("Webculture, Virales und Faultiere von Prokrastinierern für Prokrastinierer. Wenn das Leben Dich abfuckt, fucken wir Dich wieder auf") und besonders amypink.de, Marcel Winatscheks "'Bild'-Zeitung der Hipster":

Das Rezept, nach dem diese

"zusammengerührt werden, ist immer das gleiche: hochwertige Fotostrecken, dazu 'fun facts' über Stars wie Miley Cyrus oder Selena Gomez, ein pseudosubjektiver Ganz-nah-dran-Journalismus, dessen wichtigstes Kennzeichen das den Leser umarmende 'Ihr' oder 'Wir' in der Überschrift ist, viel nackte Haut und zwischendurch immer mal wieder politische oder gesellschaftliche Kommentare, die häufig völliger Blödsinn sind ('So verheerend würde es aussehen, wenn Syrien Deutschland wäre")."

So

"gehen eruptive Betroffenheit und Indifferenz in eins",

und auch der Schluss-Satz muss noch zitiert werden:

"Alles wird eingemeindet in eine fröhliche Welt der lässigen Redundanz, von Menschen, die sich selbst dabei wohl ziemlich lässig vorkommen."

Dieses Eingemeinden, das vor manchen Grenzen, in Jamel und an denen des Kalifats, wahrscheinlich besser aufhören sollte, mag andererseits oft besser als Ausgrenzen sein. Dritterseits geht es wie alles was sämtliche  Parallelwelten innerhalb der sogenannten Internetgemeinde an Inhalten aller Art auf Geräten aller Art abspielen, naturgemäß mit Herausfiltern einher ... Kurzum: Lühmanns Artikel ist einer, der anhand sehr konkreter Beispiele, viele laufende Diskurse weiterbringen könnte.
 


Altpapierkorb

+++ Sind Rheinländer (oder Westfalen), die im Alltag eher trockene Charaktere sind, aber zu Karneval so richtig die Sau rauslassen, die schlimmsten? Das ist natürlich nur ein subjektives bis falsches Vorurteil! Jedenfalls lautet die Bildunterschrift zum SZ-Medienseiten-Aufmacher: "Manche halten die gebürtige Kielerin deshalb für trocken und betulich, bekommen dann aber den Tipp, mit ihr doch mal Karneval zu feiern." Da porträtiert Hans Hoff die seit gut 100 Tagen amtierende Grimme-Instituts-Geschäftsführerin Frauke Gerlach. Was sie so sagt - "Aus meiner Sicht ist das Qualitätsfernsehen nicht tot." "Mein Ziel ist es, dass Grimme stärker zum Ort des Mediendiskurses wird." "Wir müssen uns profilieren  und wahrnehmbarer werden." - überrascht ungefähr so sehr, wie Uwe Kammanns spektakulärste Äußerungen zu überraschen pflegten. Zwei News hat Hoff aber auch mitgebracht aus Gerlachs Büro in Marl ("Ein paar Bücher verlieren sich dort, wo es beim Vorgänger pickepacke voll war. Die Regale sind unverrückbar und Teil des Hauses, das unter  Denkmalschutz steht. Schöner lässt sich der Widerspruch kaum demonstrieren, mit dem Gerlach arbeiten muss"): Der Onlineauftritt des Instituts werde "umgestaltet", vielleicht bekommt er einen Blog. "Und irgendwann wird auch mal über die Besetzung der Jurys nachgedacht werden. 'Es müssen kluge, freie und gerne auch junge Köpfe sein', definiert Gerlach das Anforderungsprofil an die Preisrichter". Ob das bedeuten soll, dass diese Adjektive für die bisherigen Juroren nicht uneingeschränkt zutreffen, hat Hans Hoff (der ja selber Dauer-Juror in Marl und auch nicht mehr der allerjüngste ist) irgendwie nicht gefragt. +++

+++Mehr "Digitale Agenda: "Wie es mit dem aktuell (und schon früher häufig) versprochenen schnellen Internetzugang überall in Deutschland tatsächlich aussieht, berichtet die FAZ auf ihrer dritten Seite aus Peetsch. +++

+++ Hatte Thomas de Maizière womöglich Lance Bennetts Indexing-Hypotese ("Eine kritische Berichterstattung über Konflikte, so der Yale-Professor, findet nur dann statt, wenn den Journalisten kritische Argumente von Teilen der politischen Elite vorgegeben werden") oder deren Wendung ins Positive aus Sicht einer solchen Elite im Hinterkopf? Jedenfalls holte Malte Daniljuk diese Theorie für das Neue Deutschland hervor, um im Rahmen einer anderen Debatte zu zeigen, dass das Internet die "technische und organisatorische Struktur dieser alten Medien, die uns das 20. Jahrhundert hinterlassen hat", die "zentralistischen Verteilmechanismen" überwinde und "die Meinungsbildung demokratisiert" habe. +++

+++ Interessantes SZ-Feuilleton heute: "Vor genau 175 Jahren kam die Fotografie offiziell auf die Welt", erinnert Wolfgang Kemp. Und eine Seite drauf berichtet Johannes Boie von der gerade erst auf die Welt gelangten App namens FireChat, deren Clou sei, "dass die Nutzer sich nicht registrieren müssen und, vor allem, dass die App ohne Handy-Netz funktioniert". +++

+++ Knapper Hinweis auf der SZ-Medienseite, laang im Internet-Auftritt der ARD (daserste.de): eine Stellungnahme der Redaktion zur am 4. August ausgestrahlten Dokumentation "Mission unter falscher Flagge - Radikale Christen in Deutschland". +++ Hier geht's zur evangelisch.de-Filmbesprechung von Christiane Meister, hier zur Meldung über erste Reaktionen der Deutschen Evangelischen Allianz seinerzeit. +++

+++ Ausgeruhte Äußerungen von Malu Dreyer, Thomas Bellut, Dieter Grimm u.v.a. zum Karlsruher ZDF-Staatsvertrags-Urteil gibt's in der aktuellen epd medien-Ausgabe, die als PDF frei online verfügbar ist. +++

+++ Heute in der ARD um 22.45 Uhr und viel vorab besprochen: "Wem gehört die Stadt?" über den Wohnungsmarkt in Berlin (frei online: TAZ, Tagesspiegel, BLZ). +++

+++ "Wir erleben gerade eine fantastische Aufbruchsstimmung im Journalismus", das hört man dieser Jahre nicht stündlich. Aber von Frederik Fischer, der gemeinsam mit Tabea Grzeszyk das vocer.org-Herausgebergremium nun neunköpfig machen wird. +++

+++ "'Focus Online' ist der Ein-Euro-Laden des deutschen Journalismus" (Mats Schönauer bei bildblog.de). +++

+++ Dass Facebook Satire als Satire kennzeichnen will (SZ), sorgt gleich für aufschlussreiche Satire (TAZ). +++ Indes ist aus Skandinavien zu hören: "Viele Gedenkseiten für Verstorbene und Vermisste sind offenbar gefälscht" (ebd.). +++

+++ Elefanten sind, im ebenfalls übertragenen Sinne, die Trophäen der Eröffnungsdiskussionen der vielen deutschen Medienkongresse. Die seehr männliche Besetzung der sog. Elefantenrunde der Münchner Medientage, für die nur Ilse Aigner angekündigt war, sorgte für gewisse Aufregung (u.a. TAZ) und wurde womöglich daraufhin leicht gleich ausbalanciert (turi2.de mit weiteren Links). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.