Das reine Mediengeschehen

Eine besonders traditionsreiche europäische Tageszeitung tot, die klassische Homepage vielleicht auch schon. Noch häufiger als betriebswirtschaftlicher Bankrott: moralische Bankrott-Vorwürfe. Ein Anlass: das aktuelle "Spiegel"-Cover.

Die Webseite selbst läuft noch, wobei dort vor allem Worte wie "ucciso" und "Arrivederci" ins Auge springen. Die Nachricht vom Aus für L’Unità, "das legendäre linke Blatt" (SZ), "fondato da Antonio Gramsci nel 1924", macht nicht nur deshalb mehr her als andere Zeitungstod-News, weil so viele Deutsche gerne in Italien weilen, sondern auch, weil sie, die Nachricht, und er, der Zeitungstod, so "kurz und grausam" (ebd.) kamen.

Mit dem Blatt "stirbt auch ein Teil der italienischen Nachkriegskultur", schreibt in der Süddeutschen Stefan Ulrich und lässt noch mal die klangvollsten Namen (neben Gramsci "Pier Paolo Pasolini, Italo Calvino, Cesare Pavese, Louis Aragon oder Ernest Hemingway") und bekannte Schlagzeilen (1953: "Ewige Ehre dem Mann, der mehr als alle für die Befreiung und den Fortschritt der Menschheit getan hat", dem damals verstorbenen Stalin; aber 1989, am 11. November: "Il giorno più bello d’Europa") Revue passieren.

Jörg Bremer tut auf der FAZ-Medienseite so, als sei es eher ein politisches Problem als ein strukturelles oder einer Mediengattung ("Italiens Linke scheint sprachlos"), wobei sich das auch auf die "sechzehn weißen Seiten" bezieht, die die gestern erschienene, das heutige Ende verkündende Ausgabe enthielten. Schon grausam, aber keineswegs kurz. Die FAZ hat natürlich auch weitere, nüchterne Zahlen:

"Mit nur noch 20 000 Lesern wurde 'l’Unità' kaum mehr wahrgenommen. Dafür  stiegen die Schulden - auch weil die staatlichen Subventionen für Parteiorgane in den vergangenen Jahren halbiert worden waren. Zum Schluss sollen die letzten 80 Mitarbeiter einen Fehlbetrag von 20 Millionen Euro getragen haben."

Daran, dass die Zeitung noch im Februar "mit viel Rührseligkeit ihren 90. Geburtstag gefeiert" hat, erinnert Paul Kreiner im Tagesspiegel. Online illustriert den Artikel ein DPA-Foto, auf dem Silvio Berlusconi lächelnd die Stalin-Tod-Ausgabe liest. Um noch mal weiter südwärts zu schalten:

"Die finanzielle Notlage der linksorientierten Tageszeitungen ist jedoch auch den Schwierigkeiten zuzuschreiben, mit denen sich die italienische Presse allgemein wegen fehlenden Neuinvestitionen und Leserrückgangs sowie Kürzungen bei den öffentlichen Beiträgen für die Presse auseinandersetzen muss",

meint der österreichische Standard. Die Tageszeitung.it scheint sich einstweilen nicht um L’Unità zu scheren. Und die Dolomiten, die größte Südtiroler Tageszeitung, scheint das Kunststück zu beherschen, ganz ohne frei zugänglichen Internetauftritt zu existieren.

Was Ulrich in der SZ auch noch erwähnt: dass die Unità bereits 1995 "den anderen nationalen Blättern voraus" ging und eine Internetseite "eröffnet" hatte. Frühzeitig dabei gewesen zu sein alleine nützt also nichts.

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[+++] Einen instruktiven Bericht zum Medienwandel an sich enthält die heutige TAZ: "Die klassische Homepage wird immer unbedeutender", ja, "die New York Times geht in ihrem 'Innovation Report' zur Digitalstrategie sogar davon aus, dass die klassische Homepage tot sei", schreibt Deana Mrkaja und sieht daher auf der anderen Seite Social-Media-Redakteure "immer wichtiger" werden. Inzwischen würden sie nicht mehr bloß "Texte der Nachrichtenseite für Facebook und Twitter auf...peppen", sondern "die Themen ..., über die die Netzgemeinde gerade spricht", identifizieren und den schreibenden Redakteuren mitteilen, damit sie besser darüber schreiben.

Außerdem sei

"für den Social-Media-Manager ... nicht mehr nur der einzelne Nutzer wichtig, sondern auch die Freunde, die dieser bei Facebook hat. Ein Artikel-Like führt durch die virale Verbreitung eines Textes schnell zu mehreren Hundert Likes. Mitglieder mit vielen Freunden sorgen für eine größere Reichweite."

Mrkaja schließt:

"Erneut steht der Journalismus also vor einer Wende: nach dem Umbruch vom Print in die Onlinewelt nun auf die Metaebene des  Onlinejournalismus, in dem Social-Media-Redakteure und Leser gemeinsam über die Relevanz von Themen entscheiden."

Hm. Zumindest sollten Texte, die Likes liken, zu Likes (und immer wichtiger werdenden Like-Likes) führen und insofern die Entwicklung vorantreiben.

[+++] Daneben in der TAZ steht ein kurzer Artikel des Altpapier-Autors René Martens: Richter Andreas Buske hat in Hamburg wieder zugeschlagen, die Links zu buskeismus-Webseiten enthält der TAZ-Artikel. "Bei der etwa zehnminütigen Verhandlung ging es hoch  her" und um ein komplexes Thema. Urteil: Zumindest der Publizist Carl Wiemer darf den Schriftsteller Martin Walser nicht NSDAP-Mitglied nennen. Andere könnten es wohl versuchen, zumal es Gründe gibt. Sofern Walser klagen wollen würde, würde Richter Buske dann wieder "im Einzelfall" entscheiden. Das ungefähr ist nun die Rechtslage (Vorgeschichte: TAZ 2012).

[+++] Von Martin Walser ist's ja nur ein Katzensprung zu Jakob Augstein und damit mittelbar zu einer der heißeren deutschen Streitigkeiten: Über den aktuellen Spiegel-Titel, der auf bestenfalls befremdliche, womöglich juristisch anfechtbare Weise Alltagsfotos vieler lächelnder späterer Opfer aus dem über der Ostukraine abgeschossenen Passagierflugzeug mit dem Appell "Stoppt Putin jetzt!" verbindet, wird so sehr gestritten wie lange schon kaum noch über Zeitschriften-Cover.

"Franziska, Jakob, bitte macht was!", appelliert bei heise.de/ Telepolis Alexander Dill (auch eine schillernde Persönlichkeit), der am Sonntag entdeckt hatte, wie schnell Spiegel Online ein der Magazin-Titelstory gewidmetes Forum wieder geschlossen hat. Stefan Niggemeier wiederum, der in seiner eigenen, kurzen Spiegel-Zeit den Spiegelblog entwickelt hatte, um solchen Diskussionen in eigener Sache Raum zu geben, ärgert sich nun erstens in seinem Blog darüber, dass der Spiegel in diesem Spiegelblog inzwischen überhaupt keine Diskussionen mehr führen möchte, also keine Kommentare zulässt. Zweitens ärgert sich Niggemeier ebenfalls über die Umfrage, die der Spiegel seine Titelstory flankierend hat anstellen lassen, derzufolge "eine Mehrheit der Deutschen für härtere Sanktionen gegen Russland" sei. Allerdings hat er seine Blogeintrags-Überschrift von "'Spiegel' manipuliert Umfrageergebnis ..." nachträglich (transparent) zu "'Spiegel' verschärft Umfrageergebnis ..." entschärft, was er ja auch nicht oft tut, "um es nicht unnötig zuzuspitzen."

An Zuspitzung mangelt es natürlich dennoch nicht. Einen "völligen argumentativen Bankrott" wirft Niggemeier in ersterem Eintrag dem Spiegel vor. Den Vorwurf eines "journalistischen Offenbarungseids" an die Wochenzeitung Die Zeit wurde gestern hier zitiert. Erhoben hat ihn Thomas Stadler in der "Die Anstalt"-Sache (in der es unterhalb der Metaebenen von Journalisten-Klage und Fernseh-Kabarett ja ebenfalls um voreingenommene Ukraine/ Russland-Berichterstattung geht).

"Ich bräuchte Medien, denen ich vertrauen könnte. Bei denen ich das Gefühl hätte, dass sie mir auch Dinge erzählen, die den dominierenden Gut-Böse-Vorstellungen über diesen Konflikt vielleicht widersprechen. Medien, die die Welt nicht übersichtlicher machen als sie ist",

schreibt Niggemeier ferner.

"Ich verfüge über keinerlei belastbares Wissen zum Ukraine-Konflikt und werde daher hier nichts darüber schreiben, was über die Betrachtung des reinen Mediengeschehens hinausgeht",

merkt Sascha Lobo unter seiner (eigentlich wieder um Geheimdienste kreisenden, aber die Ukraine/ Russland-Lage streifenden) Spiegel Online-Kolumne an.

Im reinen Mediengeschehen allerdings häufen sich moralisch-ethische Bankrott-Vorwürfe ungefähr so wie rein betriebswirtschaftliche Pleiten es derzeit auch tun. Das Mediengeschehen allein wird an vielen Fronten mit auch oft nicht eindeutigen Gut-Böse-Verläufen verdammt unüberblickbar, und der Kontrast zu den vielen Fronten in überhaupt nicht übertragenem Sinne mit ihren vielen Opfern wirkt oft verdammt groß.
 


Altpapierkorb

+++ Die Spiegel-Sache ließe sich natürlich auch in allgemeine, relativ regelmäßig auftretenden Spiegel-Redaktions-Krisen einbetten, in der dann Jakob Augstein vielleicht wieder auf den Plan treten könnte. So gesehen, wurde die aktuelle bei horizont.net ausgerufen ("Noch nie hat die Marke in Print plus Online so viele Menschen erreicht -  aber auch noch nie so wenig Umsatz erzielt", bringt Roland Pimpl das aktuelle "Dilemma" auf den Punkt und erhoffte eine neue "Hochsaison der Durchstechereien") und von den Weiterverbreitern von meedia.de weiter verbreitet. Aktuell ist sie zu Gast im Hamburger Abendblatt. +++

+++ Der schon erwähnte Thomas Stadler hat seinen relativ initialen Blogeintrag zur Die-Zeit-vs.-"Die Anstalt"-Sache (Altpapier gestern) unter der alten URL aktualisiert: "Sind die Angaben auf der Website der Uni Stanford also falsch oder geht es wieder nur in haarspalterischer Art und Weise darum, dass [Josef] Joffe formal kein Mitglied in Organisationen ist, obwohl er deren Aufsichts- oder Kontrollgremien angehört?" +++ DJVs Michael Konken hat für womöglich betroffene Journalisten frische Faustregeln aufgestellt: "Ein Journalist im Vorstand einer Lobby-Organisation muss als Berichterstatter Zurückhaltung üben", wobei er "als Staatsbürger die gleichen Rechte und Pflichten ... wie alle anderen Menschen auch" genieße. +++ Unter der Überschrift "Das ist keine Satire" geht die FAZ-Medienseite heute knapp darauf ein:  In dieser Show hätten die Kabarettisten "den Eindruck erweckt, Journalisten deutscher Zeitungen (auch dieser Zeitung) bildeten mit Blick auf die Ukraine-Krise ein antirussisches Meinungskartell. [Zeit-Redakteur Jochen] Bittner sagte, er gehe gegen falsche Tatsachenbehauptungen vor, er sei weder Mitglied diverser transatlantischer Institutionen noch Redenschreiber des Bundespräsidenten Joachim Gauck. Die Sendung basierte auf reiner Insinuation, da sie die Zugehörigkeit zu außenpolitischen Gesprächskreisen als Korruptionstatbestand auswies." +++

+++ Nachklapp zur Debatte um Nicolaus Fest (Altpapier vom Dienstag): "Die Bild-Medien haben damit in gewisser Weise neue Maßstäbe gesetzt - an denen sie sich fortan auch messen lassen müssen,  wenn sie mal wieder gegen jemand anderes hetzen. Gegen Sinti und Roma zum Beispiel" (Freitag). +++ " ... Wichtig wäre jedoch eine Debatte über die Grenzen zwischen Meinungsfreiheit und Kritik einerseits sowie Beleidigungen und  Diskriminierungen andererseits. Diese Grenze sollte so scharf wie möglich gezogen werden, und hier sind auch die muslimischen Verbände in Deutschland gefordert: Auch sie sollten ein klares Wort der Verurteilung finden, wenn auf Demonstrationen judenfeindliche Parolen gerufen werden" (Naser Schruf, Leiter der Arabischen Deutsche Welle-Redaktion, bei dw.de). +++

+++ "Das 'Datensterben' von heute, also das Sterben der Privatheit und des Datenschutzes, ist noch schlimmer und gefährlicher, als das Waldsterben es je war": Heribert Prantl in seinem SZ-Leitartikel "Rettet die Daten". +++

+++ Ausgerechnet dem Studiopublikum der ZDF-Digital-Talkshow "log in", "die sich  durch Tweets und Posts profiliert, sind keine Smartphones erlaubt", hat der Tagesspiegel beim Besuch mehrerer Berliner Fernsehshows mit Klatschpublikum festgestellt. +++

+++ "Liebe Gastronomen die Sky besitzen, es ist an der Zeit das man den Herrschaften von Sky endlich mal das Handwerk legt", steht (sic sic) auf der Facebook-Seite einer Initiative von Fußballkneipiers gegen die aktuellen Preiserhöhungen des Pay-TV-Anbieters. Die Süddeutsche ist dem Protest nachgegangen: Der Monatsbeitrag des Wirts Christian Krause aus Essen-Rüttenscheid soll sich binnen drei Jahren von 269 Euro auf nun 650 Euro erhöhen. +++

+++ "Am Freitagabend zeigt ZDFinfo (18.45 Uhr) einen kurzen Film über die Anfänge von Google, der einen interessanten Hinweis enthält: Das Unternehmen wollte demnach mit Werbung gar nichts zu tun haben, bis dessen Gründer Sergey Brin und Larry Page nach zweieinhalb Jahren mitbekamen, wie viel Geld ihnen entging und wie gut sie es für ihre Mission nutzen konnten. Die Sammlung und Ordnung der Informationen der Welt erschienen als Zweck des Unternehmens, der gezielte Anzeigenvertrieb nur als das Finanzierungsmittel", schreibt Stefan Schulz auf der FAZ-Medienseite inmitten eines großen Texts, der über Googles Pläne im Gesundheitswesen kreist. +++

+++ Angesichts der Meldung, dass nun auch Regisseur Hans-Christian Schmid einen "Serienthriller fürs Fernsehen" dreht bzw. Berliner Drehbuchförderung dafür bekommt, und einige andere Kinofilmregisseure Ähnliches planen, sieht Andreas Borcholte, ehemaliger SPON-Kulturressortchef, schon neue 1980er aufziehen, als hierzulande zuletzt "die Grenzen zwischen TV- und Kino-Produktion verwischten", Fassbinder "Berlin Alexanderplatz" und Petersen "Das Boot" drehte ... +++

+++ Und WDR-Fernsehfilmchef sowie ARD-"Tatort"-Koordinator Gebhard Henke erhält bei in der Bunten und verkürzt auch bei bunte.de endlich den Glamour, den er verdient. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.