Wird Deutschland jetzt Weltmeister?

Die medialen Aspekte der neuen "Mondlandungsfrage". Das dreckige Einschaltquotenfernsehen des ZDF. Claus Kleber hackt Twitter und findet eine Kurve zu hart. 580.166 TPM. "Jogi, so wird das nix!"

Nun ist das historische, epochale, epische Fußballspiel vom Dienstagabend auch in seinen medialen Aspekten gründlich durchanalysiert.

"Noch nie zuvor wurde in Deutschland eine höhere Zuschauerzahl gemessen", also vor Fernsehgeräten, als die vorgestern von der GfK im Schnitt gemessenen 32,57 Millionen Zuschauer (dwdl.de).

Und noch niemals, bevor Sami Khedira das 5:0 schoss, hatte das Echtzeitmedium Twitter einen Tweets-pro-Minute-Wert von 580.166 gemessen. Eindrucksvoller Vergleich: Als Toni Kroos das 4:0 schoss, waren es noch lediglich 508.601 TPM gewesen (kress.de). Ohnehin war

"#BRA v #GER ... the most-discussed single sports game ever on Twitter" (@twitter.com).

Social-Media-Experten halten allerdings für möglich, dass dieser Spitzenwert in wenigen Tagen schon wieder Geschichte sein könnte. Was für den deutschen Fernsehrekord ebenfalls gilt, freilich auch vom Wetter abhängt.

Weil sich vorm Fernsehen verbrachte Stunden einstweilen nicht einrahmen oder in Klarsichthüllen zur späteren Verwendung aufbewahren lassen, ausgedruckte Tweets zwar denkbar, aber doof sind, und weil selbst 50 überwiegend sehr bunte brasilianische Titelseiten, wenn man auf Displays an ihnen herunterscrollt, kaum mehr Aura entfalten als alle anderen Displayinhalte auch, regen pfiffige Verlagsmanager an, zur späteren Erinnerung an diese denkwürdigen Tage mal wieder eine Papierzeitung zu kaufen. Falls der Enkel dann zufällig "Jogi" heißen sollte, dürfte es auch noch der Berliner Kurier von heute sein.

Als Medienkolumne empfehlen wir aber die "Jogi, so wird das nix!"-TAZ von heute (Foto). Nur falls es wirklich nix werden sollte, müsste man sie ins Altpapier geben, bevor Enkel Fragen zu stellen beginnen. Wobei, falls Sie später in geeigneten Momenten mal durchblicken lassen wollen, wie herrlich verschroben diese 2010er Jahre doch noch waren, im Vergleich mit allem, was danach kam, könnten Sie auch die FAZ mit ihrem "Der größte Sieg: Das Fernsehbild von Bundestrainer Löw spiegelt sich in Freiburg im Wasser"-Titelseitenfoto kaufen.

Direkt daneben im oberen Leitartikel formuliert Michael Horeni unter der Überschrift "Danke für dieses Spiel" die "neue Mondlandungsfrage" ("Wo warst du, als wir 7:1 gegen Brasilien gewonnen haben?"). Um kurz zu Fußballfernsehkritiken zu springen: "Tagesschau"-Sprecherin Linda Zervakis war auf der Toilette, als das erste deutsche Tor fiel. Das entnahm die Tagesspiegel-Kolumne "Von Tor zu Tor" einer ARD-Unterhaltungssendung; aber auf dem Klo war während irgendwelcher Tore das halbe Netz, wenn man den in den mittleren 2010ern epidemischen So-lacht-das-Netz-Schauen traut. Was wiederum natürlich mit der Anzahl der Tore des historischen Spiels korreliert und insofern doch aufschlussreich ist. Beim zweiten Halbfinale hätte ja während des Elfmeterschießens aufs Klo gehen müssen, wer irgendetwas verpassen wollte.

Zurück in die gedruckte FAZ. Während Horeni im Leitartikel dann schreibt "Was für ein Spiel! Ohne Worte! Unfassbar! Wahnsinn!", als sei er ein Fanmeilen-Fernsehreporter, der darauf vertrauen darf, dass den genauen Wortlaut sowieso niemand mitkriegt, setzt viel weiter hinten auf der Medienseite 19 der große Michael Hanfeld fulminant-impressionistisch einen Kontrapunkt.

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"Für die schönste Nebensache der Welt steht es sieben zu eins", lautet die Überschrift. Das Foto zeigt Per MetaMertesacker beim Selfie-Aufnehmen nach dem Spiel (ungefähr so, allerdings aus anderer Perspektive und ohne Kevin Großkreutz oder überhaupt jemanden im näheren Bildhintergrund). Im Text leitet Hanfeld, beinahe so, als schriebe er eine überhaupt nicht festgelegte Meta-Medien-Kolumne, in einem großen Bogen von der schwachbrüstigen gestrigen Ausgabe der Bild-Zeitung (deren Schlagzeilen schließlich noch in aller Munde gewesen waren, als dieser Bayer Papst geworden war) über sein persönliches Befinden während der Halbzeitpause des epischen Spiels zur darin gesendeten Nachrichtensendung, seiner grundsätzlichen Meinung dazu und speziell der gestrigen Ausgabe, über:

"'Ohne Worte' lautete die Schlagzeile nach dem 7:1-Sieg der deutschen  Nationalmannschaft gegen Brasilien. Doch dafür hat die 'Bild' jetzt auch ihre Genom-Ausgabe: eine Bildstrecke von sechs Seiten zu  sieben Toren. Tore, die für sich sprechen. Da haben die Blattmacher ihren Spaß. Doch der war im Stadion von Belo Horizonte erstaunlicherweise nach einer halben Stunde schon vorbei. Fünf Tore auf einen Streich, das war unheimlich, da wurde einem mulmig. Und Claus Kleber, der im 'heute journal' nach wie vor keinen geraden Satz ohne überdeutliche Wertung herausbringt, schien in der Halbzeitpause angefasst, nicht nur ob der Eskalation im Nahen Osten."

[+++] Diese Überleitung führt in die etwas härteren Gefilde der tagesaktuellen Medienbeobachtung. Schließlich rangiert dieses "heute-journal" vom 8. Juli '14 einstweilen "in der Allzeit-Quoten-Hitliste" des deutschen Fernsehens "mit im Schnitt 31,79 Millionen Zuschauern" auf dem zweiten Platz (um nochmals in die dwdl.de-Zahlenzentrale zu schalten). Schließlich könnten das ZDF oder auch die deutschen Fernsehzuschauer wegen des Anscheins, am Weltgeschehen an sich fast so interessiert wie am Fußball zu sein, darauf stolz sein. Schließlich hat sich, ganz andererseits, Stefan Niggemeier, dieser Nachrichtensendungs-Ausgabe und des Wortlauts der enthaltenen Korrespondentenberichte angenommen:

"Die Sendung begann mit einem kurzen Bericht über die neue Eskalation im Nahen Osten, die Raketen-Angriffe auf Israel, die Offensive im Gazastreifen. Das ZDF schaltete zu seinem Korrespondenten Christian Sievers nach Tel Aviv. Er wirkte etwas mitgenommen und sagte: 'Das ist Nahost-Wahnsinn pur.'

'Das ist Schockstarre pur', sagte Andreas Wunn eine Minute später. Wunn ist der Südamerika-Korrespondent des ZDF. Er hat das Fußball-Spiel im Stadion in Belo Horizonte verfolgt und war herausgekommen, um den 'heute-journal'-Zuschauern zu berichten, wie die Stimmung dort bei dem Fußballspiel war, das sie gerade gesehen hatten. ...",

protokolliert Niggemeier unter der Überschrift "Nachrichten-Wahnsinn pur".

Nun gut, es können nicht alle Reporter Eloquenzbestien (auch'n Zitat) sein. Der "heute-journal"-Conferencier bzw. "Duffman des Journalismus-Journalismus" (Altpapier vom Dienstag), Claus Kleber, hat bei Twitter (das "mit dessen eigenen Waffen" zu "hacken" er übrigens auch gerade gelobt wurde) schon Selbstkritik ("... Kurve zu hart") performt, die wiederum Medienmedienmeldungen (dwdl.de) nach sich zieht.  

Niggemeiers Implikation, das ZDF soll sein Nachrichtenmagazin, "statt es in die Halbzeitpause eines WM-Spiels zu quetschen",  besser "vorher schon ausstrahlen, um 21 Uhr zum Beispiel" oder "einfach ausfallen lassen", mag erst mal unangemessen verbissen scheinen. Schließlich zählt das Auslandskorrespondenten-Netz zu den unbedingten Vorzügen des öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehens und sind kurze Nachrichten definitiv besser als es noch mehr Zeitvertreibs- bis Zeittotschlagsfernsehen rund um die WM wäre.

Allerdings zeigte dann der gestrige Fernsehfußballabend, wie sehr die speziell vorgestern betreffende Kritik auch generell stimmt.

Da war mit Fußball turnusgemäß die ARD dran. Es war also klar, dass das ARD-Nachrichtenmagazin "Tagesthemen" später und kürzer als üblich in der vorgegebenen Halbzeitpause gesendet werden würde. Und dass an diesem völlig normalen Werktagsabend für Gebührenzahler umso mehr Bedarf bestanden hätte, dass zumindest der andere der beiden großen und teuren öffentlich-rechtlichen Fernsehsender sein Nachrichtenmagazin in gewohnter Länge zur üblichen Uhrzeit ausstrahlt. Was zeigte das ZDF aber um 21.45 Uhr?

Die letzten zehn Minuten seiner zehn Jahre alten Schmonzette "Traumschiff: Samoa", bevor es bruchlos - bzw. wahrscheinlich auf zwei, drei zwischengeschalteten Trailern gleitend - mit der nur fünf Jahre alten Schmonzette "Kreuzfahrt ins Glück: Hochzeitsreise nach Florida" weiterging, in deren Anschluss dann das "heute-journal" um 23.25 Uhr randurfte.

Das ZDF lässt seine Korrespondenten wie Christian Sievers aus dem Nahen Osten halt von unterwegs twittern oder sonstige Nebenkanäle füllen und sendet dreckiges Einschaltquotenfernsehen. Maybrit Illner, die die seriösere ZDF-Talkshow leitet, diskutiert dort heute abend übrigens zum Thema "Wird Deutschland jetzt Weltmeister?"
 


Altpapierkorb

+++ Ein neues Mediengesetz "weckt den kritischen Journalismus"? Klingt erst mal gut, ist es aber allenfalls mittelbar. Ralf Leonhard berichtet in der TAZ aus Ungarn, wo bekanntlich jetzt Werbeeinnahmen zusätzlich versteuert werden sollen und die RTL Group damit rechne, dass ihr diesbezügliches Steueraufkommen ihrem ungarischen Nettogewinn entsprechen wird. Daher habe sich "der bis dahin unpolitische Kanal ... plötzlich zum Oppositionsmedium, das seine Nachrichtensendungen ausbaute und Skandale der Regierung an die  Öffentlichkeit brachte", entwickelt. Und weil RTL "auch im letzten Winkel des Landes wahrgenommen" wird, habe das auch Folgen. +++

+++ Zum gestern in der TAZ und daher auch hier erwähnten Aktualitäts-Problem der AZ aus München erreichte uns (via turi2.de) dieses von Frank Zimmer gemachte Foto. +++ Für die heutige FAZ-Medienseite hat Jörg Michael Seewald ein Interview mit dem neuen AZ-Verleger Martin Balle aus Straubing geführt, das zwar nicht um Aktualität kreist, aber schön offen geführt wird: "Nehmen Sie redaktionell Einfluss, etwa wenn Lidl als Anzeigenkunde einen Skandal hat?" - "Als damals der Skandal war, fragte mich die Redaktion, was sie machen solle. Wir waren damals sehr abhängig von Lidl als Anzeigenkunde. Ich entschied, dass wir das in der Wirtschaft bringen, aber nicht groß und reißerisch. Meine Empfehlung wäre also: Sie machen das nicht ganz so auffällig, damit Lidl den Prospekt weiter streut. Das bringt mir im Jahr 500 000 Euro. Davon kann ich  zehn Leute bezahlen. Ich muss ja auch sozial denken." - "Aber eine Zeitung muss Rückgrat haben." - "Aber du darfst geschickt sein. ...". Einen aktuellen Fehler gesteht Balle ein: "Wir haben nicht damit gerechnet, dass wir nach einer Woche eine derart hohe Auflage hätten. Wir hatten 20.000 Fernsehbeilagen zu wenig bestellt. Das hat zu einigen Abbestellungen geführt." +++

+++ Was geht bei den Funkes? Es wird eine Druckerei "entbeint" (newsroom.de). +++ Es werden rechtliche Schritte gegen das ZDF geprüft wegen der weiter offenen Frage, ob denn nun Hörzu-Leser die 100 sog. besten Deutschen mitbestimmt haben (u.a. Süddeutsche). +++ Avantgarde ist die ebenfalls frisch eingekaufte Berliner Morgenpost beim experimentellen Einsatz von "Journobots", also Roboterjournalismus. Meike Laaff befasst sich heute in der TAZ vor allem mit solchen Aktivitäten der US-Nachrichtenagentur Associated Press. Was diese Morgenpost anstellt, ist ein Berliner Feinstaub-Monitor. Mehr dazu steht auf digitalerwandel.de. +++

+++ "Ein guter Freund habe kürzlich in den Schränken der Familie nach einem Glas gesucht und erschrocken gefragt: 'Ernährt ihr euch von CDs?'": Da hat Hans Hoff für die SZ-Medienseite eine Homestory über den Radio-, aber auch Fernsehveteran Frank Laufenberg geschrieben, der mit 69 Jahren inzwischen das Internetradio popstop.eu betreibt. +++ "Das bisschen Fernsehen machte Bollmann lange nebenbei", heißt's ebd. im Nachruf auf den Schauspieler Horst Bollmann, der auch in Samuel Becketts deutschen Theater-Inszenierungen seiner eigenen Stücke aufgetreten war und in der Tat anderswo Nachrufe im Feuilleton erhielt. Das der SZ hatte offenbar keinen Platz, insofern macht's die Medienseite nebenbei. +++

+++ Mehr Raum erhält der "erhellende Psychoterror" der ZDF-Neo-Sendung "Der Rassist in uns". Frei online berichten Markus Ehrenberg im Tagesspiegel, Nike Laurenz in der BLZ und mit gewohnt fundierter Kenntnis internationaler Vorbilder Harald Keller in der Frankfurter Rundschau. +++

+++ Alfred Biolek als "Meister der Inklusion" lobt zum runden Geburtstag Eckhard Fuhr in Springers Welt, und sonst vor allem im Militärsound ("Er hat die Deutschen weichgekocht, mehr als alle Geschwader von Fernsehköchen zusammen, die nach ihm den strategischen TV-Küchenkrieg eröffneten ..."). +++

+++ "Ich drücke den Deutschen die Daumen", sagt der Kryptografie-Experte Bruce Schneier im Interview des österreichischen Standard nicht etwa wg. Fußball, sondern wegen der NSA-Ausspäh-Affären, die aber nicht allein an Agenten hängt. "Microsoft etwa hat Änderungen an Skype vorgenommen, damit die NSA leichter mithören konnte", sagt Schneier ebenfalls. +++ Das vom Deutschlandfunk "alle halbe Stunde in den Nachrichten als Zitatbonbon" versendete Norbert-Röttgen-Sample, dass die Deutschen "eben auch jetzt nicht patzig ... werden" sollten, erregt in einer Randspalten-Glosse wiederum die FAZ-Medienseite. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.