Die wohl größte medienpolitische Reformidee des Jahrzehnts möchte das Grundgesetz aktualisieren, um den Untergang der Medienfreiheit zu vermeiden. Außerdem: Das ZDF apologises for any inconvenience; Bussi-Bussi-Berichte erreichen München später.
Lief gestern eigentlich schon wieder Fußball im Fernsehen? Und welches Kommissars-Gespann wird denn am nächsten Sonntag einen kniffligen Mordfall im sog. Ersten klären?
Auskunft geben einschlägige Fachpublikationen, die in großer Zahl in diesem Internet und natürlich am Kiosk zu haben sind. Hier müssen wir jetzt mal drei, fünf, sieben Schritte zurück treten. Denn gerade ging auch die wohl größte (inländische) medienpolitische Reformidee mindestens des laufenden Jahrzehnts online. Sie regt nicht an, die Vielzahl öffentlich-rechtlicher Rundfunk- und "Telemedien"-Angebote sinnvoll zu strukturieren, oder wenigstens die Vielzahl der dafür zuständigen Aufsichtsgremien zwischen Rundfunkräten, Landesmedienanstalten und Kommissionen zu einer Art deutscher Ofcom zu verschmelzen, was ja auch schon derart irre unrealistische Visionen wären, dass sie nur selten formuliert werden. Nein, es sollte ganz einfach der Artikel 5 des Grundgesetzes neu formuliert werden.
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Das fordert in epd medien, dem Branchendienst des Evangelischen Pressediensts (für den auch ich schreibe), Wolfgang Hagen. Hagen leitete bis 2012 die Hauptabteilung Kultur und Musik beim Deutschlandradio Kultur, lehrt seitdem an einem Institut mit schönem Namen ("...für Kultur und Ästhetik Digitaler Medien") an der Uni Lüneburg und heißt bei Twitter @wahnfang. Sein nicht ganz 35.000 Zeichen schwerer Text steht jetzt auch frei online. Es lohnt sich, sich darauf einzulassen.
Artikel 5 ist der mit der Pressefreiheit, die aktueller natürlich "Medienfreiheit" heißen müsste; "Eine Zensur findet nicht statt" heißt der wohl bekannteste Satz darin. Wenn er nicht reformiert, also einem "tiefen medialen Umbruch der Gesellschaft" angepasst wird, den "1949 niemand vorhersehen konnte", dann drohe "auf mittlere Sicht ein chaotischer Kollaps der Rundfunkanstalten und damit der Untergang jeglicher öffentlich gesicherter Medienfreiheit", schreibt Hagen am Ende seines Appells.
Ziemlich am Anfang zitiert er die wohl größte Reizfigur deutscher Mediendebatten, Michael Hanfeld von der FAZ, formuliert "vier Grundfragen" für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ("Generationenabriss", "heraufziehende 'Mehrheitskrise'", "Netz-Attentismus" und "Pressekrise") und gelangt so zur Prämisse,
"dass der internet-getriebene Medienwandel elementare Grundrechtswerte aufs Spiel setzt. Vor diesem Hintergrund muss die Beauftragung zu einer am Allgemeininteresse ausgerichteten Publizistik in den digital verschmelzenden Medien neu formuliert werden. Eine Lösung dafür könnten zeitlich befristete Experimente sein. Entsprechend begrenzte Lizenzen zur Weiterentwicklung konvergenter Medienangebote könnten die publizistisch, ökonomisch und technisch notwendige Variabilität schaffen und zugleich rechtliche Stabilität der Rahmenbedingungen gewährleisten."
Befristet? Begrenzt? Das ist etwas, was die deutsche Rundfunkpolitik und damit die Öffentlich-Rechtlichen so gut wie gar nicht kennen. Ein Teil des Problems besteht ja darin, dass einmal beauftragte Kanäle halt gefüllt werden müssen, während Kanäle, zu deren Beauftragung es nicht kam (der Jugendkanal), nicht existieren. In Hagens Text schließt sich ein umfang- und kenntnisreicher historischen Exkurs über das Bundesverfassungsgericht an, dessen Urteile die Medienpolitik weitgehend prägen - zuletzt das aus dem März (Altpapier) zum ZDF-Staatsvertrag, irgendwann, vielleicht noch in den 2010er Jahren gewiss auch zum Leistungsschutzrecht.
Hagen lobt das BVG sehr (u.a. : "hohe intellektuelle Energie"), allerdings vor allem für seine frühen Urteile, insbesondere das von 1961. Anschließend seien bis 2007 insgesamt 26 "Verfahren, die im engeren oder weiteren Sinn Bezüge zu Rundfunkfragen enthalten", dazugekommen, so dass inzwischen
"Rundfunkrecht in Deutschland auf hyperkomplexem 'Verfassungsrichterrecht' beruht".
Ungefähr deshalb hätten die wenigen aktiven Medienpolitiker es aufgegeben, an der Gegenwart oder sogar Zukunft orientierte Medienpolitik zu betreiben:
"Viele Medienpolitiker wissen durchaus, wie nahezu unführbar, immobil und unbeweglich 'ihre' Rundfunkanstalten inzwischen geworden sind. Jedoch in der Folge denken sie wie Politiker denken - verkürzt reaktiv und nur auf die jeweilige Situation bezogen. Heraus kommt die Parole, dass sich die Lage nur ändern ließe, wenn endlich 'die Richtigen' am Ruder wären. Dieses faktische 'Weiter So' ist jedoch der größte aktuelle Trugschluss im über-verrechtlichten System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland."
Außer diesem zeithistorischen Exkurs enthält Hagens Text auch einen, der das Internet und die digitale Realität zu umreißen versucht und z.B. herausarbeitet,
"dass es an der gegebenen Sachlage völlig vorbeigeht, dieses neue digitale Geschehen im Netz, wie es Exverfassungsrichter Hans Jürgen Papier immer wieder tut, 'Rundfunk' oder auch nur 'rundfunkähnlich' zu nennen."
Ordnungs- und rundfunkpolitisch ist genau das aber der Stand der Dinge. Unmittelbar anschließend formuliert Hagen eine These, die steil klingt und womöglich ist, aber erst recht diskutiert zu werden verdient:
"Das Internet, so paradox es klingt, ist kein Massenmedium. Es erreicht zwar weltweit riesige Menschenmassen wie kein Medium zuvor, aber es hat keine 'Publizität' im klassischen Sinn, weil die Zugänglichkeit der Inhalte entweder auf Vorkenntnis, auf Links aus einer 'losen' Gemeinschaft von 'Freunden' (anderen NutzerInnen), auf 'Adds' oder auf ausgetüftelten Algorithmen einer Suchmaschine basiert."
Das Internet ist kein Massenmedium?
"Dem Internet jedoch fehlen 'Periodizität' und 'Aktualität', also die wesentlichen Strukturmomente der Zeitung. Jede Aktion im Web besteht in einer jeweils einzigartigen Punkt-zu-Punkt-Verbindung zwischen einem 'Sender' und einem 'Empfänger', vermittelt über Knoten im Netz. Was darüber nicht erreicht wird, existiert nicht. Eine Masse wie in den Massenmedien wird also gar nicht adressiert."
Die zeitungswissenschaftlichen Massenmedien-Kritieren Periodizität, Publizität, Universalität und Aktualität, hat Hagen vorher schon genannt. Sie sind freilich ziemlich alt und beziehen sich eben vor allem auf Zeitungen. Das ist definitiv eine Argumentation, über die diskutiert werden muss - aber auch gut diskutiert werden kann. Denn einen so weiten, scharf formulierten, aber im Kern unpolemischen Überblick über jüngere Vergangenheit und mögliche Zukunft all der Medien, die 1949 noch gar nicht oder unter ganz anderen Bedingungen existiert haben, die längst aber im Internet zusammenwachsen, gab es auf deutsch schon lange nicht mehr. [Und den "Public Value"-Aspekt, der dem Text die Überschrift gibt ("Der Wert der Öffentlichkeit") und sich mit einer Menge weiterer laufender Diskurse verknüpfen lässt, habe ich hier noch gar nicht erwähnt ...]
[+++] Nur, weil's passt: Aktuelles rundfunkpolitisches Handeln sieht so aus, wie ja schon am Montag hier im Altpapier stand, dass die Bundesregierung erst mal den relativen SPD-Star Thomas Oppermann in den ZDF-Fernsehrat schickt. Das oben erwähnte Urteil zum Staatsvertrag, das die Anzahl von Regierungsvertretern in den Sender-Gremien wenigstens deckelt, muss ja "erst bis zum 30. Juni 2015 umgesetzt werden" (Hamburger Abendblatt). Ein knappes Jahr bleibt also noch, und mit dem ZDF kennt sich Oppermann aus. Letzte Woche erst saß er in Maybrit Illners Talkshow (meine Besprechung), die auch deshalb recht langweilig war, weil auch ihre Gästerunde die Bundestags-Mehrheitsverhältnisse getreu abbildete und also einer großen Regierungskoalition keine nennenswerte Opposition gegenüber saß.
[+++] Dasselbe ZDF, großer Aufreger! Die Wahl der 100 besten Deutschen (zu denen Thomas Oppermann übrigens noch nicht gehört) ist quasi für ungültig erklärt worden. Schließlich sind die Stimmen der ausdrücklich zur Abstimmung aufgerufenen Hörzu-Leser missachtet worden. Stefan Niggemeier hat seinem Blogeintrag (Altpapier gestern) einen Nachtrag hinzugefügt, in dem sich ZDF-Showchef Oliver Fuchs für "methodisch unsauberes und somit falsches" Vorgehen bei seinen Zuschauern "entschuldigt", angefügt. Außerdem hat er die Aufregung auch für die FAZ aufgeschrieben, Süddeutsche und Tagesspiegel berichten ebenfalls.
Zu Fuchs' Entschuldigung merkt das bereits erwähnte Hamburger Abendblatt an:
"Um Entschuldigung kann man nach Verfehlungen aber nur bitten. Sie gewähren, das können nur die anderen. In diesem Fall die Zuschauer",
bzw. der Verlag des Abendblatts selbst könnte vielleicht auch gewähren. Denn es gehört ja inzwischen genau wie die Hörzu zur Funke-Verlagsgruppe, die mindestens so wie die Zuschauer vom ZDF düpiert, oder um es mit dem ebd. ebenfalls zitierten NDR-Zapp-Mann Boris Rosenkranz zu sagen: "verarscht" wurden.
Mit Springer, zu dem die Hörzu vor kurzem noch gehört hatte, wäre das ZDF vielleicht nicht so umgesprungen.
+++ Es war schon öfter Thema hier: Die Münchener Abendzeitung wird inzwischen mit erheblich verkleinerter Redaktion teils aus Straubing publiziert. Für die TAZ hat sie sich Francecsco Giammarco nun angeschaut: Der "als konservativ geltende Verleger" Martin Balle scheine keine "konservative Blattlinie ... durchsetzen zu wollen, das würde alte Leser vergraulen. Balles Ziel lautet: Hauptsache billig". Zum Nichtvergraulen soll es "weiter die 'Bussi, Bussi'-Berichte geben - Beobachtungen aus der Münchner 'Szene'. Das Problem ist aber: Die Bussi-Bussis treffen sich am liebsten abends, genauso wie die Spieler des FC Bayern. Nur sind Redaktionsschluss und Andruck jetzt deutlich früher ... Wer über Kultur- oder Sportereignisse vom Abend lesen will, muss auf den übernächsten Tag warten." +++
+++ Großes DAB-FAQ auf der SZ-Medienseite. Claudia Tieschky geht Fragen nach, was das Digitalradio ist, in das der Bayeische Rundfunk gern seinen Klassiksender verlagern möchte, bzw. warum "bald alles im Leben digitalisiert ist - nur das Radioprogramm ... noch ausschließlich per elektromagnetischen Wellen" verbreitet wird. +++ Ebd.: Eines "Wundmals im Dekolleté" wegen klagt Schauspielerin Simone Thomalla die Bauer-Illustrierte Closer. +++
+++ Sätze, die einem selten begegnen im Politikressort der FAZ: "China hat am Dienstag praktisch den Journalismus abgeschafft. Wenn die Behörden nur ein wenig kreativ sind, können sie Berichterstattern alles verbieten, was auch nur entfernt an Information der Öffentlichkeit erinnert ...". Der Anlass dieses knappen Kommentars steht hier (DPA/ faz.net). +++
+++ Gestern war Jahres-Pressekonferenz des Zeitungsverlegerverbands. Dazu viele Meldungen: "Exzellenter professioneller Journalismus bleibt auch langfristig das Kerngeschäft der deutschen Zeitungsverleger" (BDZV). "Die deutschen Tageszeitungen erleben einen Boom beim E-Paper-Verkauf" (DPA/ TAZ). "Immer mehr Verlage seien dabei, mit Online-Journalismus Geld zu verdienen" (DPA/ FAZ) ... "können damit aber nicht die Einbußen bei der Druckauflage ausgleichen" (TAZ noch mal). +++ "Warum Zeitungsverlage trotz steigender Nachfrage nach journalistischer Inhalte immer weniger Umsatz machen und weitere Sparrunden wahrscheinlich sind", erläutert Ulrike Simon in der BLZ: "Zwar setzt sich die Erkenntnis durch, Journalismus im Netz nicht mehr zu verschenken. Die durch Bezahlmodelle erzielten Erlöse bewegen sich jedoch im homöopathischen Bereich". +++ Tagesspiegel: Eine "Stunde null", "wie sie Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke kürzlich für die Branche forderte ... hält der BDZV für nicht umsetzbar. 'Bei einer solchen Absprache macht das Kartellamt nicht mit', sagte Dietmar Wolff, BDZV-Hauptgeschäftsführer ..." +++ Was für eine "Stunde null"? Diese (vier Minuten Youtube), nicht diese. +++
+++ Geschäftszahlen von Googles Youtube gehen herum: "Der Gesamtumsatz soll 3,5 Milliarden US-Dollar betragen haben; nach Abzug der Provision an die Partner blieben jedoch nur 1,5 Milliarden US-Dollar Nettoumsatz. Analysten von eMarketer hatten einen Nettoumsatz von 2,4 Milliarden US-Dollar erwartet, so Businessinsider" (internetworld.de). +++ "Die Zahlen zeigen, dass Google sein Ziel der Dominanz im Online- Videogeschäft nicht erreicht und sich frühere Entscheidungen rächen", z.B. die Entscheidung, dass "Videokünstler ... bei Google Aufmerksamkeit erregen, aber diese Erfolge nicht in Einnahmen ummünzen" können (Stefan Schulz, FAZ-Medienseite). +++
+++ Das Netz lacht, heute wohl eher über Brasilien, gestern lachte es noch über die deutschen Grünen im Europäischen Parlament. Die TAZ kommentiert zum "Fremdschäm-Video" heute: "Aber es wäre falsch, deswegen nur noch Ältere aufzustellen". +++
+++ Rieke Havertz ist die neue taz.de-Chefredakteurin (TAZ-Hausblog). Ihre Vorgängerin Frauke Böger ist die, deren Aufnahme in die Gesamt-TAZ-Chefredaktion eine knapp 100-köpfige TAZ-Redaktionsversammlung im April verhindert hatte (Altpapier). +++
+++ TAZ-Kriegsreporterin Silke Burmester nimmt @Volker_Herres ins Fadenkreuz, also den Twitter-Account des ARD-Programmdirektors: "Herres ein wichtiger Mann. Ein Häuptling, sozusagen. Und was macht er? Twittert täglich Dinge wie: ',Rote Rosen': Jenny Jürgens übernimmt die Hauptrolle in der elften Staffel.' Sag mal, Medienredaktion, ist das nicht etwas … unter Niveau? Demoliert da nicht einer seinen Posten?" Wobei man sagen muss, dass Herres durchaus auch mal Kritikerlob für ARD-Künstler vertwittert und die ARD nun wirklich wenig Anlass bietet, ihr Niveau zu überschätzen... +++
+++ Gestern in der SZ, inzwischen frei online: wie sich der Düsseldorfer Medienwächter Jürgen Brautmeier (bereits am Freitag im Altpapier) für den türkischsprachigen, aber nordrhein-westfälischen Hochzeitsfilm-Sender Dügün TV engagiert. +++ Gestern in der TAZ und in eigen-historischer Sache interessant: Die Reste des Unternehmens namens Mecom, dem einst die Netzeitung gehörte (in der am Anfang dieser Zeitspanne noch das Altpapier erschien), aber auch Berliner Zeitung und Hamburger Morgenpost, und das vom oft "Heuschrecke" genannten David Montgomery geleitet wurde, werden von einer belgischen Mediengruppe übernommen. +++
+++ Das Wall Street Journal wurde unter Rupert Murdoch nicht boulevardisiert, aber die Texte wurden kürzer: "In den ersten drei Murdoch-Jahren sei die Zahl der Artikel mit mehr als 2.500 Wörtern von etwa 150 im Jahr auf unter 20 gefallen" (epd medien nochmals, unter Berufung auf die Columbia Journalism Review). +++
+++ Wobei das "TMI-Problem (Too much Information)" auch zu großen Problemen dieses Internets zählt, allerdings nicht zu den ganz großen (netzpolitik.org: "Die Bedrohungen von morgen sind unsere Aufgaben von heute!"). +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.