Hat Per Mertesacker im ZDF gegen das „Verhaltensideal“ des „wendigen Karrieristen“ aufbegehrt? Machen es sich Medien zu einfach, die auf außergewöhnlich brutale Kriegsfotos verzichten, weil sie sich nicht dem Vorwurf des Voyeurismus aussetzen wollen? Außerdem: Wie sich die Sparpläne des WDR auf das Programm auswirken.
Pfingsten erschien im Spiegel ein auch im Altpapier zitiertes Interview mit dem Fußballbuchautor Jürgen Roth: Warum von Fußballern verlangt wird, dass sie was Kluges sagen im Zustand der Erschöpfung so kurz nach dem Spiel, wollte der Spiegel wissen wollen. Roths Antwort:
„Diese sogenannten Field-Interviews sind tatsächlich eine Demütigung aller Beteiligten, der Reporter und der Spieler. Selbst ein Fußballer, der über Hegel promoviert hat, könnte dort nichts Gescheites sagen.“
Daraus kann man die Grundsatzfrage ableiten, ob es überhaupt richtige Fragen im falschen Format gibt? Es schadet nicht, diese im Hinterkopf zu haben, wenn man die Frage des Tages beantwortet: Gehören Sie zur Büchler- oder zur Mertesacker-Fraktion?
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Für Nicht-WM- bzw. Niemals-Fußball-Gucker: Es geht um eines dieser Interviews, die nach Spielschluss vor Werbetafeln geführt werden. Genauer gesagt: die geführt werden, damit diese symmetrischen Kompositionen aus Sponsorenlogos überhaupt ins Bild kommen. Und in diesem konkreten Fall (siehe Altpapier von Dienstag) geht es darum, ob es angebracht war, dass der ZDF-Mann Boris Büchler den ausgepumpten Per Mertesacker nach dem Achtelfinale gegen Algerien fragte, warum es, mal abgesehen vom Ergebnis, so schlecht lief und was besser laufen muss - oder ob der Sieger des Wortgefechts der den Reporter anblaffende Spieler war („Wat woll'n Se?“).
Jürn Kruse (taz) gehört zur Büchler-Fraktion:
„Mertesacker, der sonst so besonnen wirkt, stimmt nun auch lautstark mit ein in den Wir-lassen-uns-unser-Projekt-nicht-kaputtreden-Chor (...) Wie ein störrisches Kind stand er da und wartete auf die Stichworte, um sich dann mal richtig auskotzen zu können.“
Die Einschätzung Michael Hanfelds lautet in der FAZ ungefähr: Richtige Fragen, falscher Adressat. Er findet,
„dass man beim ZDF (und bei der ARD) einmal darüber nachdenken sollte, warum derlei Fragen den nach 120 Minuten Rennerei ausgepumpten Spielern vorgelegt werden, nicht aber dem ausgeruhten Bundestrainer, der mit seiner Mannschaftsaufstellung die deutsche Abwehr aufgelöst hatte“.
David Hugendick (Zeit Online) votiert in einem gesellschaftsdiagnostischen Kommentar pro Mertesacker:
„In Zeiten, da die Säue zwar immer kleiner werden, aber die Dörfer immer größer, ist die lässige Toleranz für einen spontanen, im Grunde harmlosen Affektüberschuss kaum noch vorhanden. Die Bild-Zeitung befragte bereits ihre Leser im üblichen Moraltremolo: ‚Darf Mertesacker so reagieren?‘ Natürlich, er soll sogar! Und sei es als Aufbegehren gegen ein Verhaltensideal, das inzwischen in allen Segmenten der Gesellschaft herrscht: die professionelle Munterkeit und die Mentalität des wendigen Karrieristen. Von allen Leidenschaften befreit ist diese Sprache der Selbsterhaltung, in der man ‚weiter hart an sich arbeitet‘, sich auf ‚die nächste Herausforderung‘ freut und das ‚Team‘ im Mittelpunkt steht.“
Besondere Aufmerksamkeit räumt der Literaturredakteur von Zeit Online der Büchler-Äußerung „Dass man sich noch steigern muss, dürfte auch Ihnen klar sein" ein:
„Man kann nur rätseln, in wessen Namen Mertesacker hier zur Selbstkritik aufgefordert wird. Offenbar im Namen einer gesamten Fußballnation. Denn die hoffe ja, wie vermutlich auch die Sendeleitung des ZDF, noch auf einen ‚Wow-Effekt‘, wie Büchler das nennt.“
Weil das Einfordern von „Wow-Effekten“ mit Journalismus nicht sonderlich viel zu tun hat, sieht Hugendick Büchler eher als einen Publikumsdelegierten mit Mikro. Auch wenn es auf den ersten Blick aussieht, als performe Büchler Kritik, ist er letztlich doch nur ein Fan, der es hinter die Absperrung geschafft hat, um mal eine beliebte, auf Jens Weinreich zurückgehende Redensart aufzugreifen [Nachtrag, 12.08 Uhr: Siehe auch Zebrastreifenblog].
In einem Punkt stimmt Frank Lübberding (faz.net) mit Hugendick überein:
„Was ist eigentlich die Aufgabe des Journalismus bei dieser Weltmeisterschaft? Ansprüche zu formulieren? Nach dem Titelgewinn und einem hinreißenden Fußball? Das Lied vom Eiapopeia des fußballerischen Himmelreichs zu singen, um die Erwartungen jener 80 Millionen zu befriedigen, die im Sessel sitzend den Spielern beim Schwitzen und Laufen zusehen? Oder wäre es nicht besser, sich auf die journalistische Kernkompetenz zu besinnen?“
Allerdings räumt Lübberding auch ein:
„Nach professionellen Maßstäben hatte Büchler unfassbares Glück gehabt. Keine Floskeln, dafür ein Statement mit Erregungspotential. Was will er mehr in der Epoche der als Journalismus drapierten Aufmerksamkeitsökonomie?“
Büchler hatte 2013 ja schon einmal einen ähnlichen aufmerksamkeitsökonomischen Erfolg, als er den Dortmunder Trainer Jürgen Klopp in Rage brachte. Die WDR-Sendung „Zeiglers Wunderbare Welt des Fußballs“ hat damals die Tonspur des Interviews mit den passenden Bildern kombiniert.
[+++] Das Stichwort WDR dient als Überleitung ins Nicht-Fußballerische: Dass der nach der BBC zweitgrößte Sender Europas bis 2020 500 sog. Planstellen „abbauen“ will, stand bereits im Altpapier. Wie sich das Sparen nur konkret auf das Programm auswirkt, verklickerten Intendant Tom Buhrow und andere WDR-Oberen am Dienstag der Presse. Thomas Gehringer im Tagesspiegel dazu:
„Verzichten will der WDR auf den ‚Bericht aus Brüssel‘, außerdem können durch den Wegfall der ARD- ‚Ratgeber‘-Sendungen und des Magazins ‚Kopfball‘ Mittel gespart, aber auch umgeschichtet werden und neuen Verbraucherformaten à la ‚Markencheck‘ zugutekommen
Jürgen Overkott (WAZ) hat eine andere Frage:
„Was ändert sich im Hörfunk? Die neue Radio-Chefin Valerie Weber kündigte bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt an, den Rotstift im publikumsschwachen Nachtprogramm der fünf WDR-Wellen anzusetzen.“
Gehringer again:
„Ein Sparkurs will (...) durch möglichst blumige Vokabeln abgefedert werden, und so ist es auch beim WDR. Jörg Schönenborn zum Beispiel, Buhrows neuer Fernsehdirektor, hat dafür den Begriff der ‚nachhaltigen Innovation‘ erfunden. ‚Wir haben alle das Gefühl, ein bisschen mehr Spaß könnte unseren Programmen guttun‘, sagte er.“
Kurzfristig dafür sorgen soll Jan Böhmermann, „der sich als Erster das Geld aus dem neuen ‚Verjüngungstopf‘ des Intendanten für sein nächstes Comedy-Projekt geschnappt hat“. Weniger Spaß haben künftig die Macher der Sendungen „Lokalzeit“, weil es statt elf samstäglicher Ausgaben nur noch eine geben wird. Oder, um es mit meedia.de zu sagen:
„WDR killt ‚Lokalzeit‘-Ausgaben.“
Auf der SZ-Medienseite zitiert Bernd Dörries die Buhrow-Formulierung „Verantwortungsliebe“ („So beschreibt er nun seine Empfindungen für die alte Tante WDR, die er spannender und jünger machen möchte“) - und meint betonen zu müssen, dass er, Dörries, den WDR allzu SPDesk findet:
„Im Bundestagswahlkampf moderierte ein WDR-Mitarbeiter Veranstaltungen für ‚den Peer‘, also Steinbrück (...) Andere (...) leiteten erst die landespolitische Redaktion des WDR, dann die SPD-Pressestelle der Landtagsfraktion.“
[+++] Einen Blick in das Innenleben eines öffentlich-rechtlichen Senders wirft Altpapier-Autor Matthias Dell in seiner Medienkolumne für die gerade erschienene Juli-Ausgabe des Merkur. Er hat eine Sitzung des RBB-Rundfunkrats, also „Demokratie bei der Arbeit“, verfolgt. Es ging vor allem um ein sogenanntes Freien-Statut, das, um es kurz zu machen, so ausgestaltet ist, dass es den freien Mitarbeitern eben gerade nicht gerecht wird (siehe Altpapier). Dell schreibt über eine potenziell „irritierende“ Sitzordnung und darüber, wer erstaunlicherweise gar nichts sagt. Und er nimmt die Intendantin Dagmar Reim in den Blick:
„(Sie) trägt in einer eigenartigen Mischung aus Sorgfalt und Ungeduld vor, ihre präzise Betonung könnte aus Lust an der Rezitation resultieren genauso wie aus Gelangweiltsein vom Procedere.“
Die Kontrahenten an jenem Tag sind Reim und der Freien-Vertreter Tomas Fitzel:
„In der Sitzung schauen (...) Reim und (...) Fitzel fast immer aneinander vorbei (...) (Einmal) tauscht sie ein vielsagendes Augenrollen mit Wolf-Harald Krüger (Handelskammer), der sich in der Debatte nicht äußert und auf dieses Streicheln durch die Macht mit einem Lächeln reagiert.“
Das Bild, das Dell von Reim zeichnet, wirft eine Frage auf: Gibt es eigentlich eine weibliche Form von Apparatschik? Aber es existiert natürlich noch ein anderes Reim-Bild, das der Goddess of Pro Quote. Die Journalistinnenorganisation hat die Intendantin ja gerade mit der „Weisen Eule" ausgezeichnet - was Anlass war für ein Interview, das Ulrike Simon in der vergangenen Woche für die Berliner Zeitung mit Reim geführt hat.
[+++] Zum Themenkomplex Öffentlich-Rechtliche gibt es heute noch eine formale Besonderheit aus der FAZ beizusteuern: In der Leserbriefrubrik (Seite 16) findet sich eine Reaktion des rheinland-pfälzischen Landtagspräsidenten Joachim Mertes (SPD) auf einen sechs Wochen alten Michael-Hanfeld-Artikel, der überschrieben war mit „Diese Rundfunkurteile sind ein Witz“ (siehe Altpapier). Mertes meint:
„Hanfeld übersieht in seinem Artikel willentlich, dass eine Anknüpfung des Beitrags an die jeweilige Quantität des Konsums der öffentlich-rechtlichen Angebote weder machbar noch erstrebenswert ist. Eine Kontrolle der Mediennutzung des einzelnen Bürgers, wie sie beispielsweise in Großbritannien erfolgt, wo nur derjenige für das Angebot der BBC zahlt, der es auch nutzt, darf schon allein unter dem Gesichtspunkt des Persönlichkeitsrechts keine Zielsetzung sein.“
Ungewöhnlich ist nun, dass Hanfeld das nicht so stehen lassen kann, sondern eine Seite später (also auf der Medienseite) seinen Gourmetsenf dazugibt. Mertes habe
„eine ausgesuchte Vorstellung von der freien Presse. Er setzt sie, wie man seinem Leserbrief (...) entnehmen kann, mehr oder weniger mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gleich“.
+++ Der Fotograf Christoph Bangert hat ein Buch voller Kriegsbilder veröffentlicht, die Zeitungen und Zeitschriften nicht drucken wollten. „War Porn“ heißt es, und Zeit Online hat ihn interviewt. Wer außergewöhnlich brutale Kriegsfotos nicht zeige, weil er sich nicht dem Vorwurf des Voyeurismus aussetzen wolle, mache es sich zu einfach: „Das große Thema des Buches ist für mich die Selbstzensur. Die beginnt bei mir als Fotografen. Es gibt viele Bilder im Buch, bei denen ich mich nicht erinnere, sie gemacht zu haben. Das Gehirn löscht diese Erinnerungen einfach. Auch in den Redaktionen findet Selbstzensur statt. Und schließlich bei jedem Einzelnen: Wir müssen uns überwinden, um solche Bilder anzusehen und meistens tun wir das nicht. Es geht nicht darum zu sagen: Die Medien zeigen uns nicht, wie der Krieg ist. Wir wollen das gar nicht sehen.“
+++ Der BGH hat mit Verweis auf das Telemediengesetz entschieden, „dass der Betreiber eines Internetportals ‚grundsätzlich nicht befugt‘ sei, Daten eines Nutzers zu übermitteln, selbst dann nicht, wenn dieser möglicherweise eine Persönlichkeitsrechtsverletzung begangen hat“ (Johannes Boie, SZ-Feuilleton). Das Fazit des Rechtsanwalts Thomas Schulte bei kress.de lautet: „Anonymes Bewerten und Kritisieren bleibt weiterhin möglich, solange der Portalbetreiber auf 'Zuruf' ehrverletzende Äußerungen entfernt. Erst wenn hiergegen verstoßen wird, hat der Kritiker mit einer Offenbarung seiner Daten zu rechnen."
+++ Mehr Rechtliches: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass „die Verurteilung eines Schweizer Journalisten, der vertrauliche Unterlagen aus einem Strafverfahren veröffentlichte“, gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstieß. Die Entscheidung fiel allerdings knapp aus (e-comm).
+++ Weniger Arbeitsplätze in Niedersachsen: 57 „Vollzeitstellen“ gehen verloren, weil Madsack sein „Kunden Service Center“ in Hannover schließt (kress.de). Mehr als 30 Angestellte sind laut Schätzungen des DJV Niedersachsen beim Delmenhorster Kreisblatt von Einsparungen betroffen, die darauf zurückzuführen sind, dass dieses bald zu 75 Prozent der Neuen Osnabrücker Zeitung gehört (taz-Nord-Montagsausgabe; Disclosure: Text ist von mir). Und Ende 2015 verlieren einige Beschäftigte bei der Evangelischen Zeitung in Hannover (die nichts zu tun hat mit evangelisch.de) ihren Job - siehe dazu eine Pressemitteilung des eben schon erwähnten DJV-Landesverbandes.
+++ Nicht weniger Arbeitsplätze gibt es demnächst bei der Nachrichtenagentur AP, obwohl Texte zu Quartalsberichten dort künftig von einem Algorithmus verfasst, generiert oder was auch immer werden (Quartz, Handelsblatt, heise.de)
+++ „Über das Titelbild einer sehr jungen hüpfenden Frau und der Zeile ‚Wie Gelenke gesund bleiben‘ führt der Weg geradewegs zur Apotheken Umschau, die mit einer Auflage von knapp unter zehn Millionen zum Vorbild einer ganzen Generation an Nachrichtenmagazinen geworden ist“ - Silke Burmester in ihrer aktuellen taz-Kolumne über den Spiegel-Titel von dieser Woche.
+++ Und was läuft an diesem fußballfreien Tag im Fernsehen? Bei arte Peter Entells Dokumentarfilm „Zuhause ist woanders“, der die Geschichte des amerikanischen Journalisten Edgar Snow erzählt, der 1935 Mao trifft und ihn über mehrere Monate begleitet. Bernd Graff (SZ-Medienseite) ist nicht überzeugt: „Die mehr als 100-minütige Doku (zappt) zwischen Zeiten und Personen, Geschichten und Geschichte und kann sich nicht entscheiden, worauf sie sich fokussieren will: auf das Leben des Journalisten und Mao-Freundes oder auf das der Schauspielerin? Oder auf Chinas wechselvolle Geschichte im 20. Jahrhundert?“
+++ Andererseits: Völlig fußballfrei ist das TV-Programm heute natürlich nicht - nicht einmal bei Phoenix. Der Sender, der auch nicht mehr das ist, was er nie war, meint, uns mit einer Talkrunde unter dem Titel „Singen oder Schweigen? - Deutschland, die WM und die Hymne“ beglücken zu müssen. Unter anderem mit „Erika Steinbach (CDU, Präsidentin Bund der Vertriebenen, Fan ‚Eintracht Frankfurt‘)“ und „Omid Nouripour (B´90/Grüne, sicherheitspolitischer Sprecher, Fan ‚Eintracht Frankfurt‘). Das steht da wirklich - Eintracht Frankfurt in Anführungszeichen. Grundgütiger!
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.