Empfehlenswert: Seniorenteller

Die Umsonstkultur ist eine Täuschung. Kommentatoren werden nicht nur ausfällig, weil sie anonym sind. Alice Schwarzer soll den Freispruch von Jörg Kachelmann auch in Glossen akzeptieren. Und in 42553 Neviges gibt es hervorragende griechische Lammkoteletts. 

Manchmal sind das Internet und seine Nutzer eben doch nicht die Schnellsten. Vier Woche ist es her, dass eine Studie veröffentlicht wurde, die herausgefunden hatte, dass positive Nachrichten in unserem Online-Umfeld uns positiv beeinflussen und es bei negativen Nachrichten umgekehrt verläuft. Nun haben auch die oben angesprochenen Internetnutzer mitbekommen, dass für diese Erkenntnis die Facebook-Streams von knapp 690.000 Menschen manipuliert wurden, ohne diesen Bescheid zu geben. Jetzt sind sie empört (u.a. Spiegel Online, dpa-Bericht bei der Berliner Zeitung).

Hätten sie alle mal früher auf Jaron Lanier gehört.

"Aber uns muss klar sein: Die Umsonstkultur ist eine Täuschung, irgendjemand zahlt immer."

sagt der Informatiker, Autor und Träger des diesjährigen Friedenspreises des deutschen Buchhandels in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel.

Bis zuletzt publizierte Frank Schirrmacher Laniers Texte immer wieder im Feuilleton der FAZ (Altpapier), weil dieser zu Schirrmachers letztem großen Thema so viel beizutragen wusste:

"Er hat erkannt, dass die Kommerzialisierung des Internet in der ersten Jahrhundertdekade neue Machtzentren erschafft, die in dem Maße, in dem das Leben selbst digitalisiert wird, zu Chefs der Menschen werden",

schrieb der FAZ-Herausgeber noch Anfang Juni.

Nun lässt sich also der Spiegel von Lanier das Internet erklären, und dabei lernen wir, dass wir die oben angesprochene Kostenloskultur nicht nur mit unseren Daten bezahlen, sondern auch mit ganz klassischer Arbeit.

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Lanier erklärt das am Beispiel des Google-Übersetzers, der seine Fähigkeit aus der Analyse von übersetzten Texten zieht – natürlich, ohne die jeweiligen Übersetzer vorher zu fragen, geschweige denn ihnen Geld zu überweisen.

"Es wird so getan, als ob der Mensch gar nicht existiere. Es gibt ihn aber, und er wird auch weiterhin gebraucht. Er wird nur nicht bezahlt."

Als Lösung nennt Lanier den Two-Way-Link, mit dem man den Weg der Information in beide Richtungen nachvollziehen kann.

"Die Menschen würden wieder für ihre Arbeit bezahlt, die globale wirtschaftliche Ungleichheit, die auch eine Folge des Internets ist, zurückgehen. Zum anderen wäre die Anonymität im Netz aufgehoben, weil jeder nachverfolgen kann, welche Information woher kam und wohin ging."

Die Frage des Erlösmodells für Journalismus im Internet wäre damit geklärt, und auch ein anderes Problem der Online-Journalisten könnte sich erledigen (kleiner Exkurs): Die im Schatten der Anonymität vor sich hin pöbelnden Kommentatoren.

"Generell kann man sagen, dass der Klarname Menschen eine Spur ermutigt, weniger untergriffig zu sein. Das ist das Ergebnis neuerer Studien, wonach User mit Klarnamen weniger oft ausfällig werden."

Sagt Ingrid Brodnig, Leiterin des Medienressorts der Wiener Wochenzeitung Falter und Autorin von „Der unsichtbare Mensch. Wie die Anonymität im Internet unsere Gesellschaft verändert“ im Interview mit Ralf Leonhard in der sonntaz. Allerdings geht das Zitat noch weiter:

"Die Anonymität ist aber nur ein Faktor, warum es zu Enthemmung im Internet kommt. Enthemmend ist auch das Gefühl der Unsichtbarkeit und Distanz. Weil mich der andere nicht sieht, tue ich mich leichter, über die Stränge zu schlagen, vielleicht aggressiver zu argumentieren. Nonverbale Faktoren sind immens wichtig für Empathie. Augenkontakt führt dazu, dass man nicht dem anderen alles mögliche sagt."

Die Kommentarspalten komplett zu befrieden würde also auch mit dem Wegfall der Anonymität nicht gelingen. Zumal diese ja auch ihr Gutes hat, etwa für Menschen mit dem Berufsbild Whistleblower oder Internet-Dissident.

Doch statt sich in dieser politischen Diskussion zu verzetteln, zitieren wir lieber noch einmal Jaron Lanier zum Thema Cyberkapitalismus – kurz zu erklären mit „Wer den größten Comupter hat, hat die Weltherrschaft, bei der es weniger um Kapital geht als um Kontrolle.“ Und Letzteres ist für die Internetriesen interessant, weil sie glauben, vieles besser zu wissen als dahergelaufene Staaten und ihre Bewohner.

"All diese Firmen, Amazon, Facebook, Google, sind deshalb so anders, weil sie einerseits kapitalistische Unternehmen sind, die Profit machen wollen, andererseits aber von einem digitalen Utopismus getrieben sind, der letztendlich zum Ziel hat, die gesamte Gesellschaft zu optimieren. Mehr noch: die gesamte Realität zu optimieren."

Das lassen wir jetzt mal so stehen.

+++ Aus den unendlichen Weiten des Internets geht es nun nach Nordrhein-Westfalen, wo zwei sehr unterschiedliche Lokalangebote an diesem Wochenende von sich reden machten.

Am Freitag erschien erstmals Talwaerts, ein Magazin für Wuppertal, was inmitten des Trends zum Lokalen bzw. Hyperlokalen gar nicht so ungewöhnlich wäre, wenn es nicht nur einmal in der Woche in ausgedruckter Form erschiene. 16 werbefreie Seiten Din A 4 für 1,90 Euro, die „kein weiteres Anzeigenblättchen, kein Szeneheftchen, sondern ein lokales Medium mit hohem professionellen Anspruch“ sein wollen, wie David Denk am Samstag auf der Medienseite der SZ schrieb.

"Die Talwaerts-Gründer haben ausgiebig recherchiert, Bevölkerungsstatistiken ausgewertet, eine Kernzielgruppe (25 bis 45 Jahre) definiert und durchgerechnet, ob sich so ein Projekt rentieren kann. ,Wir machen Talwaerts nicht vorrangig, um damit Geld zu verdienen', sagt Filipzik, ,aber wenn gleich klar gewesen wäre, dass das eine Schnapsidee ist, hätten wir uns die Arbeit nicht gemacht.' Und sicher auch nicht so viel Geld reingesteckt: Den ,hohen vierstelligen Betrag' möchten die Macher schließlich wiedersehen. ,Talwaerts ist kein Hobbyprojekt', sagt Schmitz. Dennoch arbeitet er auch noch als freier Journalist, Filipzik halbtags in der Unternehmenskommunikation."

Zwar bleibt die Frage, warum eigentlich die großen Verlage so lange ignoriert haben, dass in Wuppertal 25-Jährige noch bereit sind, Printzeitungen zu abonnieren. Vielleicht kann man einen Zaun darum ziehen und das Ganze zum Reservat der Druckerschwärze-Fans erklären? Junge Print-Leser: last chance to see!

Aber im Prinzip ist es natürlich immer ein gutes Zeichen, wenn irgendwo auch mal nicht zusammengestrichen und entlassen, sondern neu gegründet wird. (An dieser Stelle mal wieder die Offenlegung, dass ich die lokale Online-Zeitung Prenzlauer Berg Nachrichten mitgegründet habe.) Und ganz ohne Internet geht es auch für Talwaerts nicht: Über die Website kann man Abos abschließen, die örtlichen Verkaufsstellen herausfinden und einen sehr gut sortieren Presse-Bereich für Anfragen an die neue Zeitung selbst finden.

Bei 42553 Neviges ist man bei Weitem noch nicht so professionell. Macher Norbert Molitor lässt seine Seite sogar noch von Blogspot hosten. Was die Jury des Grimme Online Awards nicht davon abgehalten hat, ihn am Freitag in der Kategorie Kultur und Unterhaltung auszuzeichnen.

"Mit liebevoll-kritischem Auge und charmant-ironischem Schreibstil entwirft er ein literarisches und visuelles Panoptikum einer Kleinstadttristesse, das man schlicht ,Genuss' nennen muss."

Heißt es in der Begründung.

Zur weiteren Erklärung: „Neviges ist ein Stadtbezirk von Velbert im Kreis Mettmann im Land Nordrhein-Westfalen in Deutschland“ (Wikipedia), und was dort passiert, hält Norbert Molitor in Bild und Text und wunderschönen Worten fest. Kostprobe gefällig?

"Der beste Laden in 42553 Neviges ist und bleibt das Grill-Restaurant ,Bei Elisabeth & Lefti' in der Siebeneikerstraße. Riesenspeisekarte, freundliche Bedienung, 50’-Flach-TV für WM-Gucker – und die besten griechischsten Lammkoteletts weit und breit. Dienstag Ruhetag, sonst täglich von 11.30 Uhr bis 23 Uhr. Empfehlenswert: Seniorenteller 2, 3 und 6 für jeweils 6.90 Euro."

Wer sonst noch einen Grimme Online Award bekam, lässt sich hier nachlesen.


Altpapierkorb

+++ Alice Schwarzer soll aufhören, Jörg Kachelmann als einen Vergewaltiger darzustellen, und zwar auch in Glossen. Das hat Ende Mai das Kölner Oberlandesgericht entschieden, wie der Spiegel nun berichtet: „Ende 2011 hatte die von Schwarzer herausgegebene Zeitschrift ,Emma’ in einer Glosse vorgeschlagen, ,einvernehmlicher Sex’ und ,Unschuldsvermutung’ zu Unworten des Jahres zu küren - Begriffe, die in Kachelmanns Vergewaltigungsprozess eine Rolle gespielt hatten.“ Schwarzers Einschätzung, das sei nur eine allgemeine Medienkritik gewesen, teilte das Gericht nicht. +++

+++ „Der Prozess war eine Farce. Der Polizist, der belastende Videos vorlegen sollte, tauchte dreimal nicht auf. Dann wurde er mit einem Haftbefehl dazu gezwungen – Beweise hatte er keine. Verurteilt wurden wir trotzdem, obwohl wir nur unsere Arbeit gemacht hatten“, sagt Rena Netjes im Spiegel-Interview (Vorabmeldung). Die niederländische Journalistin ist in Ägypten in Abwesenheit zu zehn Jahren Haft verurteil worden, weil sie mit einem Al-Jazeera-Kollegen Tee getrunken hat, wie sie sagt. +++

+++ Was macht man, wenn man selbst als Spiegel-Journalist keinen Termin für ein persönliches Interview mit einem der Monty Pythons bekommt, die nun in London wieder auf der Bühne stehen? Man lauert ihnen in einem Café auf und belauscht dort ihre Gespräche. So zumindest liest sich das im dazugehörigen Text im aktuellen Spiegel über das Monty-Python-Comeback mit dem schönen Titel „One down, five to go“. (Zur Erklärung für alle nicht-so-hardcore-Fans: Mit Graham Chapman ist einer der sechs aus der ursprünglichen Besetzung bereits verstorben. Bleiben noch fünf.) Das Erfolgsgeheimnis der Truppe erklärt Christoph Scheuermann wie folgt: „Die Pythons saugten sich ihren Humor nie aus der Lächerlichkeit des Scheiterns, sondern aus dem Anrennen gegen die Sinnlosigkeit des Daseins, das machte sie so erfrischend und radikal Anfang der Siebzigerjahre.“ +++

+++ Jetzt aber genug mit Spiegel. Was macht denn eigentlich der Focus? Der hat den Medienrechtler Thomas Hoeren von der Uni Münster gesprochen und herausbekommen, dass dieser den Rechercheverbund von NDR, WDR und SZ „höchst bedenklich“ findet (Vorabmeldung). Wettbewerbsverzerrung und unzulässige Quersubventionierung sind die dazugehörigen Keywords. +++

+++ Mit unzulässiger Subventionierung kannte man sich einst auch beim Netzwerk Recherche aus. Doch drei Jahre nach dem Skandal geht es dem Verein besser denn je, schreibt Daniel Bouhs heute in der taz. Mitgliederboom, konsolidierte Finanzen, und am Freitag soll bei der Jahrestagung auch noch folgendes Projekt vorgestellt werden: „eine Datenbank mit Dutzenden rechtskräftigen Urteilen zum Presserecht. Sie soll Journalisten ,Argumente liefern’, die bei Behördenanfragen nicht weiterkommen - mit Urteilen, die in ähnlichen Fällen bereits staatliche Transparenz erzwungen haben.“ +++

+++ Margaret Sullivan ist die Ombudsfrau der New York Times und hat sich als solche nun getraut, die Berichterstattung im Vorfeld des Irakkriegs zu kritisieren, berichtet Willi Winkler heute auf der Medienseite der SZ. Er zitiert Sullivan mit den schönen Worten „Ich hoffe (...), dass sie gründlich drüber nachdenken, welchen Meinungen und Ansichten sie die Verstärkung durch die Times gewähren wollen. Das sind sie ihren Lesern schuldig.“ +++

+++ Ebenfalls in der SZ berichtet Anne Philippi über „Tyrant“, die neue Serie der Macher von „Homeland“, die nun in den USA angelaufen ist. Wieder geht es um den Mittleren Osten; diesmal kehrt aber nicht ein entführter US-Soldat aus dem Irak zurück, sondern der in den USA lebende Diktatorensohn in seine Heimat, den Fanatasiestaat Abbudin. „Am Morgen nach dem Piloten am letzen Dienstag fühlten sich einige TV-Blogs an eine gutgemachte Soap mit vielen Explosionen, Jungfrauen-Sex, Prostituierten-Sex, Erschießungen und schnellen Autos erinnert – Denver Clan während des arabischen Frühlings.“ +++

+++ Bei der Augsburger Allgemeinen steht der Social-Media-Redakteur gerade Bart-Simpson-mäßig an der Tafel und schreibt: Ich soll keine dicken Kinder dissen. (newsroom.de) +++

+++ Fußballspiele sind in Algerien eine so große Sache, dass schon mal eine Frage von Leben und Tod daraus wird, schreibt Christoph Ehrhardt heute auf der Medienseite der FAZ. „Die Begeisterung für Fußball ist so enorm, dass man sich kaum ausmalen mag, was passiert, wenn die Algerier die Deutschen tatsächlich schlagen. Es hat bei Feiern nach großen Siegen schon Tote gegeben, bei den Partys zum jetzigen Achtelfinaleinzug kamen zwei Menschen ums Leben.“ +++

+++ Wenn im Fernsehen nur Fußball oder Wiederholungen laufen, kann man ja mal schauen, was die Video-on-demand-Dienste so im Angebot haben, hat sich wohl Kurt Sagatz gedacht. Im Tagesspiegel beschreibt er, was Watchever, Maxdome und Sky Snap so können. Sein salomonisches Fazit: „Bloß schade, dass es doch etwas zu teuer ist, alle Video-on-Demand-Dienste zugleich zu abonnieren.“ +++

+++ Zum Abschluss machen wir ein kleines Ratespiel: Ich nenne ein paar Sätze, und Sie sagen mir, worum es in diesem Artikel auf der Medienseite der FAS geht. Okay? Los geht’s: „Fiktive Charaktere, vor allem die aus den großen, bombastischen Fernsehserien und Fantasy-Epen, sind durch die anonymen, dezentralen Sub- und Kidnapp-Autorenschaften der sozialen Netzwerke zum Material der Dekonstruktion althergebrachter Erzähltraditionen geworden.“ Na? „Das ist kein postmodernes Ikebana, das machen auch Leute, die nicht wissen, wie man Dekonstruktion auf dem Kamm bläst.“ Immer noch nicht? „Wie immer, wenn Zeitenwenden anstehen, muss man fragen: Was ist gewonnen, was geht verloren für Autoren, das Publikum – der Begriff wird wohl durch Community ersetzt – und für die Kunst des Erzählens?“ Sehen Sie, war doch ganz leicht: Sarah Khan berichtet, wie Serienfiguren auf Twitter eine Art Zweitleben führen. (Oder was hatten Sie jetzt gedacht?) +++

Frisches Altpapier gibt es wieder am Dienstag.