Die Wohnzimmer der Wutleser

Hecken die Amis gerade ein „gefährliches Experiment mit dem größten Wachstumsmarkt der Wirtschaft“ aus? Was taugt „Postillon 24“? Außerdem: die Günther-Jauchisierung der Generaldebatte übers öffentlich-rechtliche Fernsehen; der einzige Journalist der Welt, der an einem Schrein arbeitet; ein neues Buch über die TV-Show, die „Amerika verändert hat“.

Brasilien ist derzeit vor allem dann ein Thema, wenn es um die im Vorfeld der Weltmeisterschaft verschärften Polizeieinsätze in den Favelas geht. Die haben gerade zum Tod eines TV-Tänzers geführt, der seinen Tod medial vorweg genommen hat (siehe zum Beispiel Spiegel Online).

Aber: Man kann über das Land auch Artikel schreiben, die in die Kategorie „Von Brasilien lernen, heißt ....“ fallen. Die taz würdigt jedenfalls die dort gerade verabschiedete „Internetverfassung“:

„Entstanden ist das derzeit weltweit wohl weitreichendste (korrekt wäre: weitestreichende - Anm. AP) Gesetz zum digitalen Bürgerrechtsschutz. Es definiert unter anderem das Recht auf einen Internetzugang, das Recht auf Privatsphäre und aussagekräftige Internetverträge“,

schreiben Andreas Behn und Martin Kaul. Warum dieses Lob? In einem anderen Teil des amerikanischen Kontinents, dem nördlichen, ist nämlich gerade ein Angriff auf die Netzneutralität geplant. Beziehungsweise:

„Die US-Kommunikationsbehörde FCC, dass Provider keine Dienste verlangsamen dürfen, sondern finanzstarke Anbieter ihre Inhalte schneller durchs Netz leiten lassen“.

So formuliert es Paul Wrusch in einem anderen taz-Beitrag - in einem Interview mit Alexander Sander, dem Geschäftsführer der Digitalen Gesellschaft. Sander sagt:

„Das Kernproblem ist, dass der weltweite Internetverkehr permanent zunimmt und gleichzeitig der Breitbandausbau kaum vorankommt. Das führt schon jetzt automatisch zu einer Drosselung des Geschwindigkeit. Wenn dann also eine Art Überholspur dazugekauft wird, ist das keine direkte Drosselung, aber eine indirekte wegen mangelnder Leitungen. Am Ende gibt es dann trotzdem ein Zweiklassen-Internet.“

Der Tagesspiegel zitiert in einem ausführlichen Artikel den Netzneutralitätsexperten Thomas Lohninger aka @socialhack:

„So ein gefährliches Experiment mit dem größten Wachstumsmarkt der Wirtschaft ist unverantwortlich.“

Soso, wachstumsfeindlich sind sie also, die US-Behördenhengste. Lohninger sagt des weiteren:

„Für kleine Start-Ups werden die Barrieren damit immer höher. Google und Facebook konnten aber nur groß werden, weil sie damals aus der Garage heraus die gleichen Chancen hatten, mit ihren Diensten eine globale Nutzerbasis zu erreichen.“

Auf der SZ-Meinungsseite kommentiert Helmut Martin-Jung, man dürfe „die Netz-Infrastruktur nicht dem freien Markt überlassen“. En détail:

„Wer (...) hätte die Macht, (...) ein Regelwerk zu schaffen, das die berechtigten Bedürfnisse der Internetanbieter berücksichtigt, aber die negativen Folgen für die Gesellschaft auf ein Mindestmaß begrenzt? Es ist der Staat. Deutschland und die EU sollten den Bestrebungen widerstehen, die Freiheit des Netzes auf dem Altar des ungehinderten Wettbewerbs zu opfern.“

So ein deutlicher Ruf nach Regulierung ist bei anderen Themen ja eher selten zu vernehmen.

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[+++] Das Zeit-Feuilleton widmet seinen Aufmacher in dieser Woche einer Reise zu vehementen Kritikern der Wochenzeitung. Es sind sind jene Leser, die sich über Ijoma Mangolds Verriss von Akif Pirinçcis Pamphlet „Deutschland von Sinnen“ echauffiert haben - und zwar nicht zuletzt über diesen Satz:

„Im Bramarbasieren über alles und jedes, in der scheinbar widerstandslosen Herstellung von Evidenz und Zusammenhang, in der triumphalistischen Geste der Entlarvung von medialen Lügengespinsten, in seiner Mischung aus Brutalität und Heulerei erinnert das Buch – ich schwöre, ich habe noch nie einen Hitler-Vergleich gezogen in meinem Berufsleben – an Adolf Hitlers ‚Mein Kampf.‘“

Stefan Willeke schreibt nun, danach habe sich über Mangold „ein Gewitter ungewöhnlich vieler E-Mails verärgerter Leser“ entladen:

„Sie attackieren den Autor, meinen aber oft die Zeit, mehr noch, sie zielen auf den Journalismus der etablierten Medien (...) Von ‚Belehrungspresse‘ ist die Rede, ‚rot-grün versiffter‘ Berichterstattung (...), „Gedankenmanipulation‘ (...) Ein Leser schreibt: ‚Ihr seid Hitler‘. Selten zuvor waren die Vorwürfe so feindselig.“

Offenbar war man bei der Zeit überrascht darüber, dass unter den vielen „Wutlesern“ (Willeke) und Genderdebatten-Igittfindern nicht nur die üblichen Trolle und Foren-Hools waren, sondern auch Menschen mit tiptop Tischmanieren. Diese hat Willeke aufgesucht: einen emeritierten Literaturprofessor und Goethe-Experten etwa, der die These „Die Frau am Herd wird heute diskriminiert“ vertritt, einen Historiker, der die derzeit offenbar nicht zu Gunsten blonder Jungmänner ausfallenden Machtverhältnisse im Freibad Neukölln messerscharf zu analysieren weiß, und eine Frau, deren „kultiviertes Wohnzimmer“ „voller Kunstbände“ ist.

Jene Leser, die nichts dazu beigetragen haben, dass Pirinçci derzeit in den Buch-Hitparaden weit oben steht, sollen sich nun wohl ein bisschen gruseln, obwohl man ja eigentlich kaum erstaunt darüber sein kann, dass sich im „neuen alten Mainstream“ - siehe Stefan Gärtners Titanic-Artikel (Seite 18/19), in dem es ebenfalls um Zeit-Leser-Reaktionen auf Mangolds Text geht - auch nicht wenige Akademiker sehr, sehr wohl fühlen. Eine ausführliche Replik auf Willekes Riemen (Nachtrag: Er steht mittlerweile online - RM) gibt es auch schon: auf der Website zum Bestseller.

Keine Kunstbände haben wohl jene im Wohnzimmerschrank, die bei Facebook eine GNTM-Mitstreiterin rassistisch bepöbeln (siehe Altpapier). Spiegel Online hat einen Weiterdreher produziert, in dem unter anderem die Journalistin Julia Seeliger interviewt wird, von der Anfang 2015 ein Buch über Trolle erscheint.

[+++] Auf Trolle, die sich über „Staats-TV“ empören, ist man im Netz auch schon oft gestoßen. Kein Troll ist natürlich Martin Heller, der ist nämlich „Head of Video+Audio der @welt-Gruppe“. Den Begriff „Staats-TV“ hat er trotzdem verwendet, auch wenn es sich dabei um eine „twitterbedingte Verkürzung“ handelt. Newsroom geht auf eine seit einigen Tagen bei Twitter geführte Diskussion ein, die auf Hallers Empörung darüber basiert, dass im Online-Angebot von Spiegel TV eine Reportage von „ARD exclusiv“ über „Stresstraining“ für Polizeipferde zu sehen ist.

Dass erst jetzt gestritten wird, kommt etwas überraschend. Es hätte dafür auch schon andere Anlässe gegeben. Seit November 2013 gibt es bei Spiegel TV Online-Kanäle, auf denen Ausgaben der Sendungen „Weltreisen“ (ARD) und „45 Min“ (NDR) zu sehen sind. Der erste, der dieses Thema kritisch aufgriff, war im Dezember Christoph Brandl im Blog Out-Takes. Springer-folkloristische Begriffe wie „Staats-TV“ tauchen dort nicht auf, es geht eher um die Frage, inwiefern „die Urheber oder Produzenten der Dokumentationen“ davon profitieren, dass ihre Filme auf zusätzlichen Verbreitungskanälen zu sehen sind.

Ob Haller „Staatspresse“ gerufen hat, als in der Welt am Sonntag dieses Produkt einer Gemeinschaftsrecherche von Springer- und NDR-Leuten erschienen ist, ist leider nicht überliefert. Womit wir bei einem verwandten Thema sind: Über die rechtlichen Aspekte der ganz besonderen Public Private Partnership zwischen SZ, NDR und WDR und ählichen Kooperationen schreibe ich heute für die taz.

Mehr zum Thema öffentlich-rechtliches Fernsehen und der Staat: epd medien widmet sich in der aktuellen Ausgabe der Frage der terminlichen Umsetzung des Karlsruher ZDF-Urteils (Altpapier):

„Der Chef der saarländischen Staatskanzlei, Jürgen Lennartz (CDU), bezweifelt, dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für einen neue Staatsvertrag bis zum 30. Juni 2015 umzusetzen sind.“

Zu vernehmen waren diese und ähnliche Aussagen bei einer Veranstaltung des Instituts für Europäisches Medienrecht.

Mehr Öffentlich-Rechtliches: Altpapier-Autor Matthias Dell konstatiert im „Medientagebuch“ des Freitag gewissermaßen die Günther-Jauchisierung der TV-Qualitätsdebatten. Dell war unter anderem bei einer Veranstaltung der Berliner Akademie der Künste („Qualität über Gebühr – unter Niveau?“):

„Am allerlustigsten ist (...), dass schon die Anordnung in der Akademie, allem Furor von Präsident Klaus Staeck und einem guten Moderator zum Trotz, auf die trostlose Erwartbarkeitsperformance hinauslief, in der bei Günther Jauch Streit verwaltet wird: Warum sechs Teilnehmer und davon dann drei Fernsehredakteure? Wenn es eines Beweises bedürfte, dass zuviel schlechtes Fernsehen die Fantasie tötet: voilà. Selbst die Metadiskussion zum Fernsehen geschieht im Modus der Talkshow.“

Solche Runden sind ähnlich bestürzend wie das inhaltlich richtige, aber leider eben mittlerweile auch ziemlich gedankenfaule Oliver-Welke Statement gegenüber dem Stern, das gerade gern verbreitet wird:

„Leider halten die Programmmacher ihr Publikum für zu doof. Das gilt auch für die von den Öffentlich-Rechtlichen."

[+++] Ob Sarah Kuttner ihr Publikum für doof hält, weiß man nicht. Jedenfalls sieht sie sich gerade mit dem Vorwurf konfrontiert, dass ihre Talkshow „Kuttner Plus Zwei“ ein Plagiat ist - und zwar von der bei Facebook zu sehenden Sendung „Lauterbach - Essen Trinken Geile Leute“. Deren Macherin Nina Lauterbach hatte ihr Konzept einst beim ZDF eingereicht, aber eine Absage bekommen, berichtet Marie Rövekamp im Tagesspiegel. Der Sender weist den Plagiatsvorwurf natürlich von sich. Und Rövekamp flüchtet sich ins Salomonische:

„Ob (Lauterbachs) Idee vom ZDF tatsächlich geklaut wurde, ist bei der zunehmenden Anzahl von Internetvideos und Webserien (...) schwer zu beurteilen.“


ALTPAPIERKORB

+++ Eine TV-Sendung, die „Amerika verändert“ hat? Nein, „The Sopranos“ ist nicht gemeint, sondern die von 1971 bis 2006 existierende Show „Soul Train“ (siehe Altpapier). Der amerikanische Rolling Stone hat Nelson George interviewt, von dem gerade ein neues Buch über die Geschichte und die Bedeutung der Sendung erschienen ist: „You can't see a new ‚Soul Train‘ every week on TV now, but the old clips that are floating out there have been watched hundreds of thousands of times by people. I was just talking to Tyrone Proctor, one of the original dancers, and he's flying to South Korea in May to teach a waacking class; he's traveling to Hong Kong and mainland China after that. It's a global phenomenon now.“ Das erste Buch über „Soul Train“ ist es wahrlich nicht, dieses zum Beispiel ist auch noch gar nicht so alt.

+++ Die 11 Freunde waren anlässlich eines Clasicos zwischen Real Madrid und dem FC Barcelona bei As und Mundo Deportivo, „den parteiischsten Sporttzeitungen der Welt“, die entweder pro Real oder pro Barcelona sind. Der extremste unter den Parteiischen ist Tomas Roncero: „Am Tag des Clasicos trägt er ... (einen) weißen Seidenschal. Als Glücksbringer. An den beiden Ende prangt das Konterfei von Cristiano Ronaldo. Später in der Redaktion legt er den Schal über seien Computerbildschirm, auf dem sich bereits drei andere Schals von Real Madrid befinden. Roncero ist vielleicht der einzige Journalist der Welt, der nicht an einem Schreibtisch arbeitet, sondern an einem Schrein.

+++ Radio am Wochenende: Die SZ empfiehlt „zwei Hörspiele über Wahrheit und Fälschung“, unter anderem eines von Tina Klopp, dessen sehr langer Titel mit den Worten „Mit dem Hackenporsche die Revue für postheroisches Management tanzen ...“ beginnt. 

+++ Fernsehen am Wochenende: Uneinigkeit herrscht über „Postillon 24“, die in der kommenden Nacht erstmals im NDR Fernsehen zu begutachtende Sendung des beliebten Humor-Kleinunternehmens aus Netzhausen. Oliver Jungen lobt in der FAZ (Seite 15) „die phantastisch joviale Gelecktheit der beiden Moderatoren. Anne Rothäuser bringt jeden ihrer Sätze in perfekt abschreckender Nachrichtensprecherinnenseriosität vor“. Sonja Álvarez (Tagesspiegel) ist enttäuscht („Insgesamt nett gemacht, aber eines nicht: lustig“), und Cornelius Pollmer (SZ-Medienseite) begibt sich aufs Feld der Generalkritik, auf dem wir heute weiter oben schon mal waren: „Statt das öffentlich-rechtliche Fernsehen zu stärken, erinnert der Sendestart des Postillons am Ende doch eher daran, was die ARD alles versäumt hat. Statt mit dem Postillon oder auch der App ‚Quizduell‘ weiter das Internet einzukaufen, könnte man verrückterweise ja mal wieder einen eigenen Gedanken entwickeln.“

+++ Sehr weit voraus in Sachen TV-Vorschau ist das Zeit-Feuilleton. Katja Nicodemus verreißt dort (Seite 53) die am 4. Mai zu sehende Arte-Dokumentation „Reise durch den Kaukasus: Gérard Depardieu auf den Spuren von Alexandre Dumas.“ Von „großer Inhaltsleere“ ist die Rede. Und: „Man könnte sagen, dass hier ein Promi-Konzept zu etwas Tragikomischem implodiert.“

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.