Grundrecht mit Mundgeruch

Mindestens 26 offene Fragen gibt es derzeit in der Rechtssache Hoeneß. Jenseits davon stellt sich die Frage, ob das, „was viele Medien rund um diesen Prozess bieten, einen am eigenen Berufsstand zweifeln“ lassen sollte. Gilt das aus anderen Gründen auch für die Berichterstattung über das verschwundene malaysische Flugzeug? Außerdem: die Lage der kirchlichen Mediendienste, die Sorgen des Neuen Deutschlands und die Aktivitäten von Pro Sieben Sat 1 im Babyartikel-Versandhandel.

„Gibt es ein Geheimnis, das Hoeneß mit hinter die Gefängnismauern nimmt?“, hatte am Wochenende die FAS gefragt, und die „offenen Fragen für den Fußball“ in den Raum gestellt. Die SZ hatte am Sonnabend sogar noch etwas größere Dimensionen angedeutet - nämlich, dass Hoeneß möglicherweise auch über die Haftzeit hinaus etwas für sich behalten wird, jedenfalls schrieb Klaus Hoeltzenbein auf Seite Drei, Hoeneß erinnere derzeit an Helmut Kohl und „sein Schweigen in der Parteispendenaffäre“.

Anlässlich des Verzichts der Münchner Staatsanwaltschaft auf Revision nimmt die taz nun Recherchen etwa des Tages-Anzeigers und das Motiv „offene Fragen“ (FAS) auf und zählt in einem Text gleich 26 eben solche Fragen auf. Einige davon beziehen sich auch auf die aktuelle Spiegel-Titelgeschichte, in der es auf Seite 102 heißt:

„Es ist (...) denkbar, dass weitere Recherchen in den kommenden Wochen einen neuerlichen bayerischen Justizskandal ans Licht bringen.“

Das bezieht sich wiederum auf Angaben eines bisher unbekannten Whistleblowers, die auch dem bayerischen Justizministerium vorliegen. Carta nimmt derweil Bezug auf die Recherche-Ankündigungen des Stern-Chefredakteurs Dominik Wichmann.

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Kommen wir zur Kritik der bisherigen Berichterstattung: Dietrich Leder blickt in seinem Online-Tagebuch für die Funkkorrespondenz noch einmal zurück auf die „Uli-Days“ im Fernsehen - sowohl auf das Nicht-nur-nicht-mittendrin-sondern-nicht-mal-richtig-Dabeisein der Berichterstatter („Sprachlos erlebte man die Sprachlosigkeit der Reporter mit, als sie hilflos aus Mimik und Gestik des Angeklagten auf dessen Seelenlage zu schließen versuchten. An Bildern sah man unterdessen, wie Kameras vor dem Gericht Kameras filmten“) als auch auf die Expertenaufmärsche  („Am Ende geisterten dann Professoren für Wirtschaftsethik durch die Sendungen, die so ephemer erschienen wie das Fach, das sie repräsentierten“).

Heribert Prantl kommentiert auf der Meinungsseite der SZ diverse Verwerfungen:

„Ist es (...) berechtigt, die letzten Tage des Uli Hoeneß in Freiheit und die ersten Tage im Gefängnis in allen Details porentief auszuleuchten und auszumalen? Mit der ‚Wahrnehmung berechtigter Interessen bei der Unterrichtung der Öffentlichkeit‘ hat das nicht mehr viel zu tun (...) Pressefreiheit ist ein überragend wichtiges Grundrecht, manchmal hat sie Mundgeruch.“

Da hat der alte Metaphern-King mal wieder zugeschlagen. Auf der SZ-Medienseite beschreibt Annette Ramelsberger gewissermaßen Mundgeruch im Detail:

„Die Bild-Reporter hängen in den Bäumen rund um sein Grundstück und schießen seine Familie ab, bis hin zu Tochter und Schwiegersohn. Sogar, als sich Susi Hoeneß über die Wiege des Enkelkinds beugt, wird sie geknipst. Das ist ein Verstoß gegen das Recht auf Privatsphäre, die auch ein verurteilter Straftäter hat. Aber das zählt ja nichts mehr.“

Der Umstand, dass die Frau von dem, den sie alle Uli nennen, in diesem Text Susi heißt, wirft im Übrigen die Frage auf, ob man die Annette künftig Anni und den Heribert Heri oder Berti nennen sollte. Aber das nur nebenbei. Ramelsberger konstatiert darüber hinaus, dass die Witzeleien auf Twitter, die das Urteil nach sich zog, sich auch auf die Berichterstattung der etablierten Medien ausgewirkt hätten. Ihr Kernsatz lautet:

„Was viele Medien rund um diesen Prozess bieten, das lässt einen am eigenen Berufsstand zweifeln.

Im Prinzip findet man in der von Prantl und vor allem Ramelsberger angeprangerten Berichterstattung nicht wenige populistische Motive wieder, die man aus vielen Artikeln kennt, in denen es um Strafvollzug geht. Ramelsberger meint:

„Es hilft beim Nachdenken (...), wenn man eine Haftanstalt schon einmal von innen gesehen hat (...) Und es geht nicht (...) darum, ob man den Sportsender Sky empfangen kann. Es geht um etwas ganz anderes: um das Ausgeliefertsein, die Einsamkeit, den Moment, wenn sich der Schlüssel hinter einem im Schloss dreht (...) (Es) ist (...) unverständlich, warum überall geschrieben und mit profundem Halbwissen getalkt wird, dass Hoeneß doch vom ersten Tag an quasi als Luxusfreigänger den Knast verlassen könne. Das mag vielleicht im Norden der Republik zutreffen, in Bayern sitzt man erst einmal. Und darf sich in der Zelle überlegen, ob man in den zwei Besuchsstunden im Monat lieber die Ehefrau, den Sohn, die Tochter oder Pep Guardiola empfängt.“


Der Schlusssatz von Prantls Kommentar lautet im Übrigen:

„Man sollte auch den Verurteilten wieder in Frieden lassen.“

Wobei wir mal davon ausgehen, dass es nicht so gemeint ist, dass die mindestens 26 offenen Fragen (siehe oben) nicht recherchiert werden sollten.

[+++] Das Thema der letzten Tage war neben Hoeneß und der Krim-Krise - dazu hier und heute nur Verweise auf Guido Knopps Wiedervereinigungs-Vergleich bei „Hart aber fair“ gestern (faz.net) und das von der NZZ konstatierte „auffällig große Verständnis“ für Putin bei der Weltwoche  - die verschwundene malaysische Boeing MH370. Wie Ramelsberger aus der Berichterstattung über Hoeneß, leitet Michael Wolff (Guardian) aus der über das nicht auffindbare Flugzeug allgemeine Befunde zur Lage des Journalismus ab. „MH370 story is the new anti-journalism – all data, no real facts, endless theories“, lautet die Überschrift. Wolff schreibt:

„That’s just about the best situation that exists for journalism: ‚missing‘ stories trump all others for their intensity and stickiness, fueling the imagination of journalists and audiences alike (...) It is, of course, an ideal story for the current journalism era because it costs nothing. Nobody has to go anywhere. Nobody has to cover the wreckage and the recovery. Not only is the story pretty much all just theories – but theories are cheap.“

[+++] Vom Wochenende noch nachzureichen wäre ein zumindest aufgrund des Faktenreichtums bemerkenswerter Text, den Olaf Koppe, der Geschäfsführer des Neuen Deutschland, in eigener Sache unter dem Titel „Wir müssen über die Zukunft reden“ ins Blatt hat rücken lassen. Es geht natürlich um die Zeitungskrise im allgemeinen - und um die Probleme des ND, dessen verkaufte Auflage unter 35.000 Exemplare gesunken ist, im besonderen:

„Wo lagen 2013 die Gründe für Abbestellungen bei unserer Zeitung? Bei 50 Prozent endete das Abonnement wegen Alter, Krankheit oder Tod. 20 Prozent der Leserinnen und Leser mussten sich von ihrem Abo aus finanziellen Gründen verabschieden. Weitere zehn Prozent haben ihr Abo von vornherein nur befristet bezogen.“

Für an verlagsökonomischen Details Interessierte ist gewiss auch der Hinweis auf „die zeitungstypischen Vertriebskosten“ aufschlussreich:

„So werden wir allein in dem Bereich in diesem Jahr trotz gesunkener Auflage über 220 000 Euro mehr ausgeben müssen als im letzten Jahr, um das Niveau der Zustellung wenigstens halten zu können.“

[+++] Vocer republiziert einen zuerst in der Fachzeitschrift Communicatio Socialis erschienenen Artikel Volker Lilienthals, in dem er über die Lage des Medienjournalismus, vor allem über die unter Auflagenaspekten unbefriedigende Lage der konfessionellen Mediendienste epd medien (Disclosure: Die Zeitschrift erscheint beim Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik, wo auch das Altpapier zu Hause ist) und Funkkorrespondenz sinniert.

„Medienjournalismus, richtig verstanden und ambitioniert praktiziert, ist ja hohe Kunst (...), ist eine Journalismus-Spielart, in der kulturelle, menschliche, politische, rechtliche, ethische, wirtschaftliche und auch technische Aspekte eine Rolle spielen (...), weswegen der Medien-Fachjournalist einerseits ein Spezialist ist, andererseits aber auch ein Universalist mit breiter Bildung sein muss“,

schreibt Lilienthal zum Beispiel, und da hat er gewiss nicht Unrecht, wobei man das aber beinahe schon als Nachruf lesen kann, weil der „Medien-Fachjournalist“ eine aussterbende Berufsuntergruppe ist. Was epd medien (wo Lilienthal lange Redakteur war) und die FK angeht, regt er eine Fusion an, also eine Art evangelisch-katholische Zweckehe:

„Das wäre keine Fusion im Sinne von Vielfaltsverlust, sondern eine Konzentration der Kräfte und die personell-strukturelle Ermöglichung eines kompetenten Medienjournalismus (...) (U)nd es wäre ein Leuchtturmprojekt mit weiter Ausstrahlung in die Gesellschaft und auf die säkularkommerzielle, oft allzu sehr interessengebundene Publizistik.“ 

Über in Blogs praktizierte Medienkritik, die er „dekonstruktiv“ nennt, schreibt Lilienthal auch. Der Autor preist Stefan Niggemeier und den Bildblog, aber der Eindruck, dass er sich darüber hinaus mit Medienkritik im Netz beschäftigt hat, drängt sich nicht unbedingt auf. Lilienthal hat möglicherweise nicht bemerkt, dass Medienkritik nicht nur da drin ist, wo es ganz groß drauf steht, also etwa bei Watchblogs, sondern dass substanziell Medienkritisches nicht zuletzt dort zu finden ist, wo dieses Element nur Teil eines weiten Horizonts ist - also zum Beispiel bei Carta, wiesaussieht oder publikative.org. Womit nicht gesagt sein soll, dass es außerhalb unserer Filter Bubble nicht noch zahlreiche weitere Beispiele gäbe.

„Der deutsche Medienjournalismus laboriert an Entwicklungsproblemen wie der wachsenden Unübersichtlichkeit seiner Gegenstände“,

heißt es im Vorspann zu Lilienthals Text. Abgesehen davon, dass die „wachsende Unübersichtlichkeit“ auch beflügeln kann, ist es nicht ohne Ironie, dass der Beitrag ein Beleg dafür ist, dass es auch für den Meta-Medienjournalismus nicht immer leicht ist, diese Unübersichtlichkeit in den Griff zu bekommen.

Zu diesen Plattformen, wo die Medienkritik nur eine von mehreren Kritikspielarten ist, dürfte künftig auch der Blog anlasslos gehören, den der kürzlich bei wiesaussieht ausgeschiedene Hans Hütt gegründet hat:

„Anlasslos zu schreiben wirkt nur auf den ersten Blick als Paradox, dient der Distanz zu dem, was der Fall ist, gegenüber Themen-Konjunkturen und politischen Narrativen, sucht nach blinden Flecken, zarten Rissen und dunklen Stellen, findet dafür eine eigene Sprache, damit die Welt lesbar bleibt – oder wird.“


ALTPAPIERKORB

+++ Weit mehr als nur die TV-Sendung des Tages ist Joshua Oppenheimers Dokumentarfilm „The act of killing“, in dem wir jene Massenmörder kennenlernen, die 1965, nach einem Militärputsch General Suhartos, eine Million Menschen in Indonesien umgebracht haben. Zu sehen ist in dem Film die bisher kühnste und gespenstischste Form des Re-enactments im weiteren Sinne. Thomas Gehringer schreibt im Tagesspiegel über den arte-Film: „Autor Oppenheimer selbst hat die Täter dazu gebracht, die Ereignisse von einst für die Kamera nachzustellen (...) (Sie) glaubten ihn auf ihrer Seite, schließlich ist Oppenheimer Amerikaner, und die USA waren ja Suhartos wichtigste Verbündete.“ Alexander Josefowicz (Hamburger Abendblatt) bemerkt: „Vieles, was sich diese stolzen Killer ausdenken, wirkt wie eine wirre Fantasie, ersonnen von einem kranken Geist: Als Frau geschminkt schneidet einer der Männer einer Puppe den Kopf ab (...)“ Und schließlich Martina Knoben auf der SZ-Medienseite: „Die Grenzen von ‚echt‘ und ‚gespielt‘ verwischen, wenn die Täter noch einmal jene Macht und Gewalt genießen, die sie damals ausleben konnten, und die Opfer das grenzenlose Entsetzen wieder spüren, das sie fühlten. Dabei tun sich die Täter keinen Zwang an, erzählen offen und gut gelaunt von Folter und Massakern. Das wölfische Gesicht des Menschen, den grenzenlosen Behauptungswillen von Männern, hat man selten so unverstellt gesehen.“

+++ Der Sendetermin von „The Act of killing“ (23 Uhr) ist im Übrigen schon fast optimal zu nennen - zumindest, wenn man bedenkt, dass der HR in seinem Dritten Programm große Dokumentationen in der Nacht von Sonntag auf Montag um 1.15 Uhr oder 1.30 Uhr zeigt (worauf Stefan Niggemeier aufmerksam macht).

+++ Noch mehr Dokumentarisches: Die FAZ rezensiert auf ihrer Medienseite „My Revolution – Video Diary from Kiev“, zu sehen auf dem YouTube-Kanal der Produktionsfirma Eco Media: „Der Produzent des Films, Stephan Lamby, wollte schnell authentische Bilder veröffentlichen und suchte daher auf Youtube nach privaten Aufnahmen.“ Der Film liefere aber keine „echten neue Erkenntnisse“, meint Theresa Rentsch. „Es ist eine subjektive Sicht auf die Dinge. Eine subjektive Kamera, die durch die Menschenmassen mitläuft, neben brennenden Bretterhaufen steht und verfolgt, wie regungslose Menschen weggetragen werden, während weiter Schüsse fallen.“

+++ Im Feuilleton der FAZ entgleist heute Ranga Yogeshwar: „Die wohl erstaunlichste und erschreckendste Erkenntnis seit dem letzten Sommer ist unsere Unbekümmertheit: Wir wissen, dass sie unsere privatesten Dinge speichern und auswerten, aber wir ändern nichts und posten und chatten hemmungslos weiter. Warum ist das so?“ Das kann man gewiss fragen, aber dann meint Yogeshwar, sich in den nicht unbeliebten Disziplinen Holocaust-Verniedlichung und Geschichtsrevisionismus profilieren zu müssen: „Vielleicht fehlt derzeit das sichtbare Beispiel, das sichtbare Opfer dieser Datendestillation (...) Anders als bei Gestapo und Stasi werden wir nicht Zeugen, wie unser Nachbar frühmorgens aus dem Bett geklingelt und verhaftet wird. Keine Gefangenen, keine Folteropfer, keine Verletzten, und so ziehen wir alle einen fatalen Schluss: Das digitale Tier ist lieb und tut keinem etwas!“

+++ „Wie kommerzielle Fernsehsender auch im Internet erfolgreich sein wollen“, untersucht Tilmann P. Gangloff in einem gerade Funkkorrespondenz-Leitartikel. Ein Teil der Antwort lautet: ähnlich wie viele Verlage mit Dingen, die mit dem sogenannten Kerngeschäft nichts zu tun haben. Jedenfalls gilt das für die Pro Sieben Sat 1 Media AG, die unter anderem im Reisegeschäft (Pro Sieben Travel AG) mitmischt. „Weitere Bereiche, in denen man sich tummelt, sind Home & Living oder Mode. Außerdem ist der Konzern an baby-markt.de beteiligt, einem Internet-Versand für Baby- und Kleinkindartikel. Weil sich der Wettbewerber RTL Group in dieser Hinsicht zurückhält, sieht (Sebastian) Weil (der Geschäftsführer von Pro Sieben Sat 1 Digital -  AP) sein Unternehmen nicht ohne Stolz als Pionier.“

+++ Im Tagebuch von epd medien beschreibt Diemut Roether angesichts aktueller Selbsterfahrung, dass die Methodik der Media-Analyse (MA) Radio noch ausbaufähig ist: „Dann spielte mir die Interviewerin zahlreiche Musikmixe vor, die alle irgendwie ähnlich klangen (...) Mal war Madonna dabei, mal nicht. Einem bestimmten Sender hätte ich die Musik beim besten Willen nicht zuordnen können. Zu einzelnen Sendungen, die ich hätte hören können, wurde ich gar nicht erst befragt. Stattdessen sollte ich etwas zu Moderatoren sagen, deren Namen ich noch nie gehört hatte. Am schönsten aber waren die Antwortvorgaben auf die Frage, was ich von einem guten Radiosender erwarte. Regionale Information? Ja, manchmal, ist mir aber nicht so wichtig. Möglichst viele Gewinnspiele? Danke, nein, kein Bedarf. Die schönste Antwortmöglichkeit war: ‚Viel Musik, wenig Gerede.‘“

+++ Mareike Carrière spielte einst „die erste Streifenpolizistin im deutschen Fernsehen“, und zwar im „Großstadtrevier“, schreibt das Hamburger Abendblatt. Auch der NDR und die FAZ rufen der im Alter von 59 Jahren verstorbenen TV-Schauspielerin nach.

Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.