Wie schlechte Journalisten-Bezahlung zu Boulevardisierung im Fernsehen führt. Wie in Russland über die Ukraine berichtet wird, und wie hierzulande darüber.
Das Portal mit dem ausspracheschwierigen Namen Vocer ("sprich: [?vo?k?r]") schwimmt immer etwas jenseits des meist reißenden Nachrichtenstroms, weil dort oft schön illustrierte Journalismuszukunfts-Visionen erscheinen, die eher zeitlos denken als im engeren Sinne aktuell.
Dieser Artikel ist aber auch aktuell lesens- bzw. sehens- bzw. vor allem hörenswert. Darin haben Anne Kathrin Thüringer und Roman Kern vier frei Journalisten zur Journalismusgegenwart befragt. Freie Journalisten sind die, die immer etwas anders als angestellte Journalisten über die Arbeitsbedingungen klagen oder, weil dieses Klagen schon solch ein Topos ist, gar nicht klagen. Hier nun bringen vier Freie in jeweils gut dreiminütigen Videointerviews auf einen Punkt, wie schlechte Bezahlung ganz unmittelbar zu schlechterem Journalismus nicht nur führen könnte, sondern schon geführt hat.
"Auch in guten Formaten findet eine Boulevardisierung statt", sagt etwa Matthias Zuber, u.a. Dozent an mehreren Journalismusschulen, im eingebundenen Video (hier uneingebunden bei vimeo.com). Auch bei dokumentarischen, kurzen Formaten würde erwartet, dass immer zu erkennen sei, "wer ist der Gute, wer ist der Böse". Und freie Filmemacher, die ihr Material abgekauft bekommen wollen, müssen solches Material eben mitbringen.
Ähnlich konzise leiten der Fernsehautor Ralf Dörwang, Anneli Botz (bekannt auch durch "Die Berliner Medienbranche ist eine unterbezahlte Hölle") und Hans Jürgen Börner, "mit 69 immer noch aktiv", konkrete, die Allgemeinheit betreffende Probleme von der bis über den Überdruss hinaus bekannten Journalistenmisere her. Womöglich sind Filme, wie Thüringer/ Kern sie gedreht haben, sinnvoller als solche, in denen freie Star-Journalisten Werbefilme der Wochenzeitung Die Zeit mit ihren Starjournalisten persiflieren.
Hier im Altpapier könnte jetzt ein Übergang direkt in die unmittelbare Medienmediennische führen. Thüringer/ Kern erwähnen am Rande, dass sie das erste dieser Videos für eine Veranstaltung in Kassel produziert hatten, dass aber sich "der Gastgeber der Podiumsdiskussion, die hessische Landesanstalt für privaten Rundfunk ... leider nicht in der Lage [sah], das Projekt auch nur mit einem symbolischen Betrag zu unterstützen. Angesichts des Themas, besonders verwunderlich." Der Übergang würde selbstredend darauf basieren, was mit den Rundfunkgebühren, aus denen die LPR Hessen wie alle die Landesmedienanstalten auch finanziert wird, stattdessen alles bezahlt wird. Gerade erst wurde, mitten im Fernsehkarneval, der Vertrag fürs ARD-"Musikantenstadl" verlängert. Immerhin, wir bleiben ja fair, ist ein "im Oktober 2014 geplantes Gastspiel im indischen Jaipur ... aus Kostengründen abgesagt worden" (Tagesspiegel).
[+++] Aber im Fernsehen laufen neben dem Karneval auch Krim-"Brennpunkte", und wir haben hier ja einen weiten Medien-Begriff. In der erfreulich umfangreichen Berichterstattung um die Ereignisse in der Ukraine und Russland arbeiten viele differenzierte Berichte daran, die verzwickten Lagen zu beschreiben, und denken die medialen Bedingungen mit. Nur zum Beispiel berichtet die TAZ über die Krim: "Irina schätzt, dass es nur wenige radikal eingestellte Menschen auf beiden Seiten gebe. Es seien allerdings meist diejenigen, die sich vor die Fernsehkameras postieren". Andererseits ist Wladimir Putin schon länger, ebenfalls nur zum Beispiel, eine deutsche Radio-Witzfigur, eine durchaus ganz witzige. Boulevardisierung lässt sich in ebenfalls beobachten.
"Die derzeitige Anti-Russland-Stimmung ignoriert historische Bindungen und könnte so einen Krieg heraufbeschwören", überschrieb Carta den Frank-Lübberding-Beitrag "Die Geschichtslosigkeit der Deutschen". Dass die Medien auf Gut/ Böse-Bilder gern zugreifen, wenn time slot oder Teaser wenig Platz bieten, ist nicht zu übersehen. Ob durch so etwas in Deutschland ein Krieg heraufbeschwörbar wäre, lässt sich zum Glück bezweifeln. Und Geschichts-Bruchstückchen aller Art fliegen dem Publikum durchaus um die Ohren. Wiederum nur zum Beispiel steht bei heute.de:
"Stell' dir 1938 vor, stell‘ dir das Sudetenland vor. Damals ertränkte uns die gigantische Berliner Propaganda-Maschine in Enthüllungen über die Schrecken, die die furchtbaren Tschechen über die armen Sudetendeutschen brachten. Es war alles Blödsinn, Henleins Schläger machten ihre Arbeit, aber es rechtfertigte die Invasion um 'zu befreien und zu beschützen'. Heute sind unsere Bildschirme voll von russischen Ukrainern, die tränenüberströmt dankbar sind für den Schutz vor ihren Nachbarn, die ihnen nie ein Haar gekrümmt haben. ...."
Wessen Bildschirme sind voll davon?
Nichts gegen Frederick Forsyth, dessen "Gastkommentar" die elektronische Presse des ZDF da irgendwie ergattert hat. Kürzlich hatte die ARD zu Maximilian Schells Tod noch mal die Verfilmung von Forsyths Roman "Der Fall Odessa" gezeigt (was zwar ein Schlag ins Gesicht Schells war, der nur in den letzten Filmminuten auftritt und viele Filme, darunter von ihm selbst inszenierte, hinterlassen hat, die besser an ihn erinnert hätten; aber das ist eine ganz andere Geschichte ...). Doch im selben Text schreibt Forsyth auch noch in irgendeinem ironischen Zusammenhang (Fußball? englische Metapher?) von der "Leichten Dortmunder Infanterie". Inwieweit solches nicht sendungsbezogene Bonusmaterial ins randvolle Internet zu stellen, zum öffentlich-rechtlichen Auftrag gehört, könnte mal überprüft werden.
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Russische Medienlandschaft im engeren Sinne: Abby Martin, die amerikanische Moderatorin einer englischsprachigen Show des staatlich finanzierten Senders Russia Today, macht Furore mit einer der in Russland raren Regierungs-kritischen Äußerungen (FAZ, Tsp./ EPD). Spiegel Online hat das gut einminütige Sample via Youtube aus Martins Sendung "Breaking the Set" isoliert. "Martin war schon in der Vergangenheit mit kontroversen Aussagen aufgefallen und manchmal auch mit Verschwörungstheorien, allerdings noch nie mit Russland-Kritik", schreibt SPON. Die dort aufgeworfene Frage, ob sie denn in Zukunft weiter moderieren darf, stellte die FAZ dem Sender und erhielt die Antwort: "Frau Martin bemerkte in ihrem Kommentar, dass sie kein allzu umfassendes Wissen über die Lage auf der Krim habe. Wir werden sie daher in die Ukraine schicken, um ihr die Möglichkeit zu geben, sich ein eigenes Bild vom Epizentrum der Geschehnisse zu machen".
Man kann sich Martins Sendung übrigens auch integral anschauen (rt.com). Sie dauert eine halbe Stunde. Die im Permalink enthaltene Online-Überschrift "Most persecuted minority on Earth" bezieht sich nicht auf die Ukraine oder Russland, sondern auf Myanmar.
Umfassendere Einblicke in die innerrussische Fernsehberichterstattung, in der "Gesprächspartner ... auch schon mal mitten im Satz ausgeblendet" würden, "wenn sie von der offiziellen Linie abweichen", bietet das Hamburger Abendblatt im unteren Teil eines Lageberichts.
Den dort am Ende, neulich auch hier im Altpapier erwähnten nichtstaatlichen Sender "TV Doschd" könnte es nicht mehr lange geben. "Dem Kanal blieben nur noch ein bis zwei Monate, sagte die Generaldirektorin ... Natalja Sindejewa am Dienstag vor den Mitgliedern des Menschenrechtsrats des Russischen Präsidenten", berichtet die FAZ auf ihrer Medienseite. Nachdem ohne offizielle staatliche Eingriffe Kabelnetzbetreiber den Sender aus ihrem Angebot geworfen haben, habe er "auch aufgrund von Verlusten im Werbegeschäft achtzig Prozent seiner Einnahmen verloren. Die bloße Verbreitung über das Internet reiche nicht aus".
+++ Der Fernsehtipp des Tages: "Camp 14 – Total Control Zone", die hier schon erwähnte Arte-Dokumentation über nordkoreanische Lager. Der erschütternde Inhalt veranlasst die Rezensenten, vor allem diesen, die Lebensgeschichte des Erzählers wiederzugeben (Michael Hanfeld, FAZ, S. 13: "Das Erste, woran sich Shin Dong-hyuk aus seiner Kindheit erinnern kann, ist eine Hinrichtung"). Die SZ-Besprechung nennt weder den Namen des Filmemachers, Marc Wiese, noch erwähnt sie die Animationssequenzen. +++ Aber Hans-Jörg Rother (Tagesspiegel) beschreibt auch die Machart: "Der Schauspieler August Diehl hat Shin einfühlsam synchronisiert, die Kamera nimmt sich Zeit für Shins Gesicht und seine kärgliche Behausung mit der Matratze auf dem nackten Betonfußboden. Es tut wohl, dass der Film auf einen Kommentar verzichtet ..." +++
+++ "Sensation"! "Die wichtigste und mächtigste Modekritikerin der Welt" (Süddeutsche), die "einflussreichste Rezensentin an den Laufstegen dieser Welt, unbestechlich im Urteil und vollkommen gnadenlos", Suzy Menkes, wechselt "innerhalb der Königklasse" (Berliner Zeitung) von der New York Times-Gruppe (Ex-Herald Tribune) zur Vogue. "Sie sagt: 'Ich liebe die Tribune. Aber wir sind Journalisten, wir müssen immer nach vorne schauen.'", SZ). +++
+++ Wenn der Begriff "Selfieness" sich durchsetzt, könnte Sascha Lobo als sein Schöpfer gelten. Das wahre tl;dr zu seiner dieswöchigen SPON-Kolumne geht aber wieder dahin, dass "die Überwachungsgesellschaft eine immer größer werdende Katastrophe ist. Das häufige Argument, die Überwachungsindustrie würde an den schieren Datenmassen ersticken, ist weitgehend Unfug." +++ Gutes Beispiel dafür, jenseits der innertürkischen Bedeutung: die offenbar intensive Ausspähung der türkischen Erdogan-Regierung. Sie setzt sich zu einem "Gesamtbild zusammen, demzufolge es kein Staatsgeheimnis in den vergangenen zwei Jahren gab, das noch eines wäre" (Welt). +++
+++ Dank einer HMR-Studie hat das Pay-TV-Unternehmen Sky nun auch "einen Relevant-Überbau" (meedia.de), zumindest für die Steuerzahler und ganz besonders die Gastronomie. +++
+++ Die SZ-Medienseite berichtet über das "dreiteilig", als Tageszeitung, die "nicht den Anspruch hat, alle Nachrichten abzubilden", als "Wochenendausgabe ... mit viel Lektürestoff" und als "Internet-Auftritt, der schnell reagiert" angelegte italienische Projekt Pagina 99. "Sie ist gedruckt auf lachsfarbenem Papier, das ist keine gestalterische Laune, sondern orientiert sich an der weltberühmten Financial Times und auch an Italiens wichtigster Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore", informiert Andrea Bachstein. Dass es so eine lachsfarbene deutsche Zeitung auch mal gab: nicht mehr so wichtig. +++
+++ Weiterer TV-Tipp: eine belgische Krimiserie auf ZDF-Neo (TAZ, Frankfurter Rundschau). +++ Heike Hupertz war für die FAZ am Set des neuen "Falls für zwei" des ZDF: "Ein Experimentalformat wird auch die Neuauflage sicher nicht werden. ... Wie viel Komplexität man sich am Ende gestattet, bleibt abzuwarten. Ginge es nach den Schauspielern, mit denen man sich prächtig über das Serienfernsehen an und für sich unterhalten kann, könnte man eine Menge wagen. Erst einmal schaut Wanja Mues in seinem Aufenthaltsmobil Amerikanisches wie 'Boardwalk Empire'. Frankfurt hat zwar wenig gemein mit Atlantic City während der Prohibition, aber immerhin Banken und Bordelle zu bieten. Es wird darauf ankommen, was man daraus macht." +++
+++ "Das Aufregende am Medienbetrieb ist ja, dass hier Dinge passieren, die außerhalb keine Sau interessieren" (TAZ-Kriegsreporterin). +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.