Die Zukunft der Margarine

Darf man Putins Spiele gucken? Darf die Bundestags-Pressestelle Bloggern Akkreditierungen verweigern? Wie gewinnt der Ehrensenator Lutz Marmor neue Erkentnisse? Außerdem: eine Serie für „unterbezahlte Business-Punk-Abonnenten“, die „sanfte Revolution“ bei „aspekte“, 11.000 „Law & Order“-Screenshots.

Früher war möglicherweise dieses oder jenes besser, aber nicht der Reportagejournalismus. Darin einig sind sich jedenfalls Zeit-Dossier-Chef Wolfgang Uchatius und Hans Hoff, der ihn für das Medienmagazin journalist interviewt hat. 

„Wenn man sich Reportagen von vor 20 oder 30 Jahren anschaut, dann haben die, selbst wenn es großartige, vielleicht sogar preisgekrönte Reportagen waren, aus heutiger Sicht oft etwas Putziges (...) Die Reportagen waren damals wirklich gut, sie wurden auch zu Recht ausgezeichnet. Aber sie stammen aus einer anderen Zeit. Man musste damals weniger leisten, um den Leser zu ködern, um zu sagen: Mensch, ich habe dir was zu erzählen. Die Latte liegt heute sehr viel höher“,

meint Uchatius, der im Vorspann als Journalistenpreisabräumer eingeführt wird. Bald werden Reportageautoren vielleicht noch mehr leisten bzw. leisten müssen. Schließlich hat „die Reportage ihre besten Zeiten noch vor sich“ (Hoff). Der Ressortleiter von der Wochenzeitung stimmt zu:

„Die Margarine wurde irgendwann erfunden, um Butter zu ersetzen. Die Reportage ist ursprünglich ein Nachrichtengenre gewesen. Ich habe auf der Journalistenschule gelernt, dass die Reportage die üppige Schwester der Nachricht ist. Auch sie erzählt nur, was wann wo und wie passiert ist, aber mit mehr Details. Das ist heute völlig anders. So eine Reportage würde ja niemand mehr drucken, die einfach nur sagt: Dann ist das und das passiert (...) Die Reportage von heute muss mit anderen Dingen, anderem Input aufgeladen werden, mit Gedanken, mit Analyse.“

Mithin ist die Reportage heute die üppige Cousine der Nachricht. Oops, da haben wir wohl die Bilder durcheinander bekommen, denn tatsächlich sagt Uchatius:

„Deshalb würde ich sagen, dass die Margarine von heute oftmals besser schmeckt als Butter.“

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Uchatius arbeitet, das merkt Stefan Niggemeier aus aktuellem Anlass an, für ein Wochenblatt,

„das nachhaltig geprägt (zu sein scheint) von einer bestürzenden Kultur der irgendwie bildungsbürgerlich gemeinten Überheblichkeit und Abschottung, kombiniert mit bräsiger Selbstzufriedenheit“.

Wir erwähnen dies nur vorsorglich, damit niemand uns die starke Repräsentanz leitender Angestellter des Zeit-Verlages in diesem Altpapier vorwirft. Ein Interview mit Jochen Wegner, dem Chefredakteur von Zeit Online, verdient heute nämlich auch Erwähnung. Gegenüber kress.de äußert der sich zu einem neuformierten Investigativteam, das allerdings nicht ohne Hilfe von außen auskommen, sondern mit „einem halben Dutzend Institutionen (...) eng und langfristig zusammenarbeiten“ wird. Denn:

„Manche Projekte, die wir gerne verfolgen würden, erfordern ein Team von zehn oder mehr Leuten, und das zum Teil über Monate. Das können wir nicht alleine leisten. Kooperationen sind dann sinnvoll, wenn die beteiligten Medien nicht in direkter Konkurrenz stehen.“

In dem Interview, in dem Wegner darlegt, dass seine Investigativjournalisten teilweise andere Dinge tun werden als die der Generation Leyendecker („Vielleicht bauen wir kleine Suchmaschinen, vielleicht einmal eine kleine App“) kommt kurz auch ein anderes großes Rechercheteam vor, nämlich das von SZ, NDR und WDR, in dem der erwähnte Leyendecker leitend mittut. Über die Arbeit dieser Truppe, die gerade in Umlauf gebracht hat, dass die NSA auch die fernmündliche Kommunikation des beliebten Arbeiterführers Gerhard Schröder ausgehorcht hat (siehe Altpapier), spottet die FAZ heute gleich zweimal. Herausgeber Berthold Kohler tut dies auf Seite 1 lediglich implizit, er amüsiert sich über

„die nur zwischenzeitlich in Vergessenheit geratene Entdeckung, dass Schröder gar kein eigenes Handy gehabt, sondern sich immer eines aus seiner Entourage geliehen habe, wenn er telefonieren wollte“.

Eher raubeinig geht dagegen Michael Hanfeld auf der Medienseite zu Werke. Er weist darauf hin, dass die NSA-Operationen in Sachen Schröder nicht der „nigelnagelneue Rechercheverbund des NDR und der SZ aufgedeckt“ hat, sondern bereits im Herbst 2013 Bild am Sonntag. Dies wiederum war zuerst Steven Geyer aufgefallen, der für die Kölner und Berliner DuMont-Blätter (siehe ebenfalls Altpapier) und die Frankfurter Rundschau, die weniger üppige Schwester der FAZ, darüber geschrieben hat.

„Die Story gab es längst, sie wurde verlängert, nicht neu gesetzt, der Hinweis auf die von den Kollegen beigebrachten Erkenntnisse vom vergangenen Herbst fehlte“,

schreibt nun Hanfeld, der im Übrigen mit „nigelnagelneu“ nur bedingt richtig liegt. Neu ist das Recherche-Bündnis insofern, als der WDR, den Hanfeld gar nicht erwähnt, ihm, dem Verbund, gerade erst beigetreten ist. Die beiden anderen Beteiligten kooperieren aber bereits seit 2011.

[+++] Auch wenn die SZ und der NDR zusammenarbeiten: Es kommt natürlich trotzdem immer noch vor, dass sie sich in anderen Rollen begegnen: Den meisten Platz auf der Medienseite füllt heute ein Interview aus, das Claudia Fromme und Claudia Tieschky mit dem NDR-Intendanten und ARD-Vorsitzenden Lutz Marmor geführt haben. Freunde des gepflegten Marmor-Sounds werden es zu schätzen zu wissen:

„Es gibt ja immer Leute, die sagen, sie gewinnen keinerlei Erkenntnisse aus Talkshows. Bei mir ist es anders. Und es ist auch ein günstiges Format, wenn Sie es auf die Minute rechnen“,

sagt Marmor zum Beispiel, um zwei Antworten später das Lob in einem Einzelfall noch zu toppen, indem er erwähnt, Reinhold Beckmann mache

„Sendungen, aus denen man wirklich neue Erkenntnisse gewinnt“.

Unklar ist derzeit noch, welche neuen Erkenntnisse Marmor aus der gestrigen Beckmann-Sendung zur Causa Schwarzer (siehe Spiegel-Online-Frühkritik) gewonnen hat, in der der von ARD-Talkredaktionen gern gebuchte Rabauke Roger Köppel (für sporadische Altpapier-Leser: eine Schweizer Kreuzung aus Harald Martenstein und Jan Fleischhauer, aber hoch sieben) mitmischte.

Frei von Erkenntnissen ist das SZ-Interview mit Marmor keineswegs. Jedenfalls wusste man bisher wenig über sein Wirken als Ehrensenator in Linden:

„Die Lindener Narren sind ein Karnevalsverein in einer Gegend, in der Karneval nicht sehr verbreitet ist, in Hannover. Ich bin als Karnevalist bekannt und so wurde ich eben Ehrensenator. Der Ruf heißt übrigens Linden Alaaf und nicht Helau (...)“

[+++] Noch vor dem Karneval in Linden beginnen die Olympischen Winterspiele in Sotschi - und zwar heute. Darf man als politisch aufgeklärter Freund des Wintersports - sorry fürs kurze Abgleiten ins Phraseologische - vor dem Fernseher sitzen? Das fragt sich Jürn Kruse (taz).

„Nach monatelanger Berichterstattung über das schlimme Olympia werden nun - mit Beginn der Spiele - auch die Jubelbilder kommen: Sport verbindet, gute Laune, Michael Vesper, tralala.“

Trotzdem:

„Am Ende wird es mich wieder packen. Ich werde hinschauen. Putins Glück, dass ich so tolerant bin.“

In welchem Umfang berichtet wird, erfahren wir im Tagesspiegel:

„Die Sotschi-Abdeckung an den Wettkampftagen könnte großflächiger nicht sein. An einigen Tagen wie am Samstag beginnt die Berichterstattung bereits um 5 Uhr 30, um am Abend mit einem ‚Olympia extra‘ nach den ‚Tagesthemen‘ zu enden – zumindest im Ersten, denn das ZDF übernimmt an diesem Tag den Stab und wird ab 23 Uhr im ‚Aktuellen Sportstudio‘ noch einmal die Höhepunkte des ersten Wettkampftages zeigen.“

Optimistisch stimmt wenigstens, dass die Peinlichkeit, die sich die Chefs der Berichterstatter vor ein paar Tagen geleistet haben, schwer zu übertreffen sein dürfte. [Nachtrag, 11.45 Uhr: Der Online-Ableger der Schweizer Gratiszeitung 20 Minuten hat diese These leider bereits widerlegt]


ALTPAPIERKORB

+++ Ausführliche Überblicke zur fragwürdigen Haltung der Bundestags-Pressestelle gegenüber akkreditierungswilligen Bloggern und anderen Online-Journalisten ohne Presseausweis findet man bei ... Kaffee bei mir?, beim Isarmatrosen und in der taz.

+++ Ein Streitgespräch zu den formalen medienrechtlichen Aspekten der Causa Schwarzer präsentiert uns Legal Tribune Online. Es duellieren sich Niko Härting („Es geht nicht um die Intim- oder Privatsphäre. Eine Selbstanzeige findet nicht in den eigenen vier Wänden statt, sondern im sozialen Raum“) und Ralf Höcker („Diese Definition des sozialen Raumes geht mir dann doch zu weit! Selbstverständlich sind Steuerangelegenheiten Privatsache“).

+++ Futter für eine noch etwas ältere Debatte liefert publikative.org: „Online-Petitionen sind Ausdruck einer fluider gewordenen Meinungsbildung. Was früher stark durch Großorganisationen wie Verbände und Parteien, aber eben auch durch Kommentare in den kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Massenmedien kanalisiert wurde, ist heute eher das Ergebnis individualisierter Bewertungen (...) Bei der Entscheidung, sich an einer Petition zu beteiligen, spielen dauerhafte Netzwerke eine Rolle, aber sie sind stärker personalisiert und weniger ‚von oben‘, durch eine Verlautbarung des Vorstands oder durch den Leitartikel des Chefredakteurs beeinflusst. So wie einst das Kneipengespräch, ist heute das Teilen und Kommentieren von Links in sozialen Netzwerken alltäglicher Bestandteil der Meinungsbildung. Das verändert die öffentliche Diskussion, aber es ist nicht der Untergang des Abendlandes.“ Zuerst erschien der Text beim Institut für Protest- und Bewegungsforschung i.G.

+++ Dass die Bundesregierung künftig mehr Krieg in Mali wagen will, nimmt Petra Sorge zum Anlass, im Cicero-Medientagebuch die Afrika-Berichterstattung in deutschen und englischsprachigen Medien zu analysieren - unter anderem mit Rückgriff darauf, was der amerikanische Journalist Samuel Loewenberg, „der unter anderem für die New York Times, die Washington Post oder den Guardian über Hunger-Themen schreibt“, vor einigen Monaten „auf einer Veranstaltung des Pulitzer Centers on Crisis Reporting und der BMW Stiftung“ gesagt hat: Dieser beobachte „eine Müdigkeit westlicher Medien, ausdauernd über strukturelle Krisen zu berichten. ‚Hunger ist aber selten eine Katastrophe, die ganz plötzlich passiert.‘ (...) Loewenberg fällt auf, dass sich Redaktionen selten frühzeitig für diese Themen interessieren. Als er einer Redaktion einmal vorschlug, über eine sich anbahnende Hungerkrise zu schreiben, die zwei Millionen Menschen betreffen würde, lautete die Antwort: ‚Nicht bei zwei Millionen. Kommen Sie zurück, wenn es acht Millionen sind.‘“

+++ „Erdogan vernichtet das freie türkische Internet“, schlagzeilt die FAZ. Ungewöhnlicher Sound für diese Zeitung, oder?

+++ Heute im Fernsehen (I): erste Ergebnisse der „sanften Revolution“ (taz), die beim ZDF-Kulturmagazin „aspekte“ über die Bühne gegangen ist und es unter anderem mit sich bringt, dass künftig zwei Moderatoren live vor Publikum zugange sein werden. Von einer „mittleren Revolution“ ist auch noch die Rede. Mit dieser Formulierung trumpft Revolutionsführer Daniel Fiedler auf, weil die Sendung statt 30 Minuten nunmehr 45 Minuten lang sein wird. Das war sie zwischen 1966 und 1993 allerdings auch. 

+++ Heute im Fernsehen (II): Die Serie „Suits“ (Vox) „spielt in New York, im Anwaltsmilieu, ganz oben, wo jeder Mann sehr smart und
 jede Frau sehr sexy ist“, und „die Dialoge sind so scharf wie die Bügelfalten“. Dem sehr smarten Bügelfaltenexperten Joachim Huber (Tagesspiegel) gefällt‘s. Marc Felix Serrao (SZ, Seite 25) auch: „Drehbuchautor Aaron Korsh, der ‚Suits‘ entwickelt hat, hat selbst mal an der Wall Street gearbeitet, er kennt die gernegroßen Testosteronbolzen der Investmentfirmen und Großkanzleien. Er trifft ihre Art zu reden.“ Außerdem, mutmaßt Serrao, dürfte die Serie bei „unterbezahlten Business-Punk-Abonnenten“ Anklang finden.

+++ Mehr Lektüre für Seriengucker: Die Guardian-Bloggerin Emma Brockes beschäftigt sich mit der konservativen Ideologie von „Downton Abbey“, und The Atlantic stellt den Wissenschaftler Jeff Thompson vor, der die Kulturgeschichte des Computers anhand von Bildern aus der 20 Jahre lang gelaufenen Serie „Law & Order“ erzählt: „Thompson set out to document every single computer that appears in Law & Order over the course of the series' run. He ended up finding about 2.500 of them. He took five screenshots of each instance, which means that, all told, Thompson collected 11.000—yes, you read that right: 11.000—screenshots. Which, he admits, ‚sounds pretty insane‘".

+++ „Dass Verlage auch im digitalen Geschäft Erlöse erzielen müssen, ist alternativlos. Ob Paywalls dazu einen nennenswerten Beitrag liefern können, ist noch nicht auszumachen. Bisher ist bestenfalls klar: Sie schaden offenbar nicht allzu sehr, Impulse gehen von ihnen aber auch kaum aus, schreibt Thomas Gehringer in einem epd-medien-Leitartikel, der zum Thema hat, dass die „Paywall-Landschaft der Verlage Konturen annimmt“. Es werden aber immerhin gleich drei Vertreter von Verlagen und Redaktionen zitiert, die den Begriff Paywall gar nicht mögen. Der sei „negativ besetzt“ und stehe „für alte Verlagsdenke“. Jedenfalls findet das Patrick Wölke von der DuMont Net GmbH.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.