Sorgenfalten im Bratenrock

Große Kreise zieht die an Barack Obama gerichtete Forderung der New York Times nach Gnade für Edward Snowden. Noch größere Kreise zieht, jedenfalls hier zu Lande, die Berichterstattung über Schumi und Pofi. Außerdem: Welche Rolle spielte einst Gerhard Schröder bei den Contra-Kirch-Aktivitäten der Deutschen Bank? Wird die ARD am kommenden Montag Steven Spielberg zeigen, wo der Hammer hängt? Und das Sensationellste: Es gibt einen Grund, Nico Hofmann zu loben.

„Der Wahnsinnskomplex NSU ist (...) von Ermittlern, Journalisten und Anwälten alleine nicht zu lösen. Und schon gar nicht vom Oberlandesgericht München, das ohnehin nur Akten, Zeugen und Beweise zulässt, die etwas mit den fünf Angeklagten zu tun haben (...) der ‚Fall NSU‘ gehört dringend zurück auf die politische Ebene.

Das schreibt Thomas Moser in einem Beitrag für die Januar-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik (Seite 77-84, derzeit nicht frei online), und er bezieht sich dabei auf die vom Gericht nicht zu klärende „geradezu dramatische Frage“, inwiefern Verfassungsschutzämter und damit die Bundesrepublik Deutschland an den NSU-Morden beteiligt waren.

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Auch wenn Journalisten und das Münchener Gericht den „Wahnsinnskomplex“ (Moser) nicht „lösen“ (ders.) können: Was sie jenseits des Maximalen zu leisten in der Lage sind, darüber gibt ein Großprojekt der SZ Aufschluss. Das besteht zum einen aus einer Multimedia-Reportage, in der die Gerichtsreporterin Annette Ramelsberger eine tragende Rolle spielt, zum anderen aus einem verdichteten Protokoll der bisherigem Sitzungstage, das es in zweifacher Form gibt: in schriftlicher im heute erschienenen SZ-Magazin und in verfilmter im Netz.

Beim fast zweistündigen Film, in dem vier Schauspieler die Äußerungen von Prozessbeteiligten in szenischen Lesungen nachstellen, hat die SZ mit der Firma Ufa Fiction kooperiert - und im Spiel war auch deren Vorstandschef Nico Hofmann, wie ein Blick auf die Unternehmens-Website verrät:

„In Kooperation mit Ufa Fìction sowie der Diplomklasse von Nico Hofmann der Filmakademie Baden-Württemberg und der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg wurden die ersten 71 Tage des NSU-Prozesses verfilmt.“

„Sehr lang, sehr schmerzhaft, sehr herausragend“, sei der Film, meint Sascha Lobo, und damit liegt er nicht falsch. Ausnahmsweise muss man also auch mal Hofmann, den alten Anti-Aufklärer, loben.

Ins neue Jahr groß und ambitioniert mit dem Thema NSU-Prozess einzusteigen, ist schlüssig. Das Verfahren, das am 8. Januar fortgesetzt wird, wird ja nicht nur das gesamte Jahr 2014 andauern, sondern insgesamt „mindestens zwei Jahre“ (SZ-Magazin). Außerdem wird bald der mysteriöseste Fall auf der Tagesordnung stehen: der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn, der nicht zu den anderen Taten passt.

Nicht nur die SZ geht zum Jahresbeginn mit einem prestigereichen multimedialen Projekt an den Start, auch die ARD: Es handelt sich um ein auf „mindestens zwei Jahre“ angelegtes „Afghanisches Tagebuch“. Über diesen Zeitraum wollen vier ARD-Korrespondenten den Lebensweg von neun Afghanen verfolgen, darunter ein Schriftsteller sowie zwei Übersetzer, die bisher für die Bundeswehr tätig waren. Ausgangspunkt des Projekts ist die Frage, was aus dem Land wird, wenn 2014 die „Mission“ der International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan endet.

[+++] Die zwischen den Jahren ausgebrochene Debatte darüber, ob Journalismus und Aktivismus einander ausschließen oder Journalisten in gewisser Hinsicht sogar Aktivisten sein müssen (siehe Altpapier) geht, keineswegs überraschend, weiter. Bei Wiesaussieht zum Beispiel:

„Die alte Schule grummelt: ‚Macht Euch doch nicht gemein mit einer Sache! Das dürft Ihr nicht! Meinung und Fakten müssen getrennt bleiben!‘ Inzwischen haben auch die Journalistenschulen Abstand davon genommen, die Idee der reinen Objektivität als handwerkliche Leitidee zu vermitteln. Warum? (...) Journalismus ohne Haltung unterscheidet sich kaum mehr von interessengeleiteter Öffentlichkeitsarbeit. Warum ist das so? Hinter der Idee der Objektivität verschwindet die Idee der Kritik. Wenn Kritik aber ausgeblendet bleibt oder nur zu ein paar Sorgenfalten im Bratenrock des Leitartiklers führt, dann macht sie sich selbst überflüssig. Oder lächerlich.“

Erwähnung findet in dem Text von Hans Hütt und Tilo Jung auch ein Beitrag der New York Times in Sachen Edward Snowden, der am Donnerstag weite Kreise zog. Diese schreibt auf ihrer Meinungsseite:

„When someone reveals that government officials have routinely and deliberately broken the law, that person should not face life in prison at the hands of the same government. (...) It’s why President Obama should tell his aides to begin finding a way to end Mr. Snowden’s vilification and give him an incentive to return home.“

süddeutsche.de hat die New-York-Times-spezifische Besonderheit dieses Kommentars herausgearbeitet:

Erstmals bezeichnet das Blatt Snowden in einem Leitartikel als ‚Whistleblower‘. (...) Gastautoren hatten ihn (...) zwar schon so tituliert (...) Die Meinungsredaktion, die die offizielle Haltung der Zeitung ausdrücken soll, hatte den Begriff jedoch bisher vermieden.“

Die Hintergrundgeschichte dazu liefert Margret Sullivan, der Public Editor der Zeitung (ihren Posten bezeichnet man in Deutschland, sofern es ihn überhaupt gibt, als Leserbotschafter, Leseranwalt oder redaktioneller Ombudsmann). Wir erfahren dabei von Andrew Rosenthal, dem Chef des Meinungsressorts, dass über den Text intern Wochen lang diskutiert worden sei. Eine nicht ganz unwichtige Frage wirft Sullivan auch auf:

„Does Mr. Rosenthal really think President Obama will take the board’s highly unusual recommendation seriously? ‚That’s anybody’s guess‘, he said, noting that the pressure on the president is intense by all sides (...) ‚Sometimes‘, he added, ‚you have to go beyond what is realistic.‘”

Leserreaktionen hat die NYT auch bereits kompiliert. The Atlantic äußert sich ebenfalls zum Thema Gnade für Snowden:

The case for forgiving Snowden is strong. And the costs of doing so are wildly exaggerated. For apparently altruistic reasons, Snowden revealed scandalous instances of illegal behavior (...) It is difficult to imagine another leak exposing policies so dangerous to a free society or state secrets so antithetical to representative government. The danger of a Snowden pardon creating a norm is virtually nonexistent.“

[+++] Einige neue Betrachungen zur Berichterstattung in Sachen Michael Schumacher (siehe Altpapier) sind auf dem Meinungsmarkt.

Wolfgang Lieb stellt in seinem Beitrag für die Nachdenkseiten vor allem Fragen, wenn auch überwiegend rhetorische. In seinem Text steht zwar nichts Falsches, etwas holzschnittartig wirkt er aber:

„Ist (...) eine öffentliche Aufmerksamkeit angemessen, die größer ist, als wenn – sagen wir mal – der Papst oder der amerikanische Präsident oder ein Nobelpreisträger einen tragischen Unfall erlitten hätten? (...) Werden (...) nicht gerade diejenigen, die nicht auf der Sonnenseite leben und die ihre Sehnsüchte auf Michael Schumacher projiziert haben, von ihrem Mitgefühl von Menschen weggeführt, die eben nicht in der Medien- und Sensationswelt ‚verkauft“‘ werden, sondern womöglich sogar in ihrer unmittelbarer Nachbarschaft dahinvegetieren?“

Silke Burmester schreibt in der taz:

„Und so ersteht mit dem verletzten Michael Schumacher, einem zuletzt erfolglos vor sich hin kreisenden Rennrentner (...) das Heldenbild des Siegers wieder auf. Ein Heldenbild, für das auch das Ausland uns liebt.“

Burmester verficht zudem die These, dass, verkürzt gesagt, die Formel-1-Geilheit der „Männer“ auch etwas mit der „Faszination am Zweiten Weltkrieg und am Faschismus“ zu tun hat.

Ein dpa-Porträt von Schumachers Managerin Sabine Kehm, die früher Sportjournalistin war, haben welt.de und stern.de bearbeitet. Alles Wesentliche über Schumacher hat eigentlich vor bereits 19 Jahren der im Dezember verstorbene Dichter Horst Tomayer gesagt: Sein Hausblatt konkret hat aus aktuellem Anlass Tomayers Gedicht „Lob des Kerpeners“ republiziert:

„Randvollen Tanks und Schadlastmindrung wegen bis auf Null entleerter Blase / Fährst du schlichten Sprit in Seinssinn wandelnd wenn auch nicht grad leise / Boxenstops und Kollisionen meidend einfürallemal im Kreise / Für Deutschlands Wrrrmwrmmmruhm und deine goldne Nase.“

[+++] Pofi, den seine Freunde Ronald Pofalla nennen, kann es in Sachen Aufmerksamkeitserregung zwar nicht ganz mit Schumi aufnehmen, aber an Erwähnungen seines Namens mangelt es in diesen Stunden auch nicht gerade. Dazu beigetragen hat ein Coup des Postillons. Das Satiremagazin hat die reale Meldung, der CDU-Mann werde möglicherweise demnächst irgendwas mit Eisenbahnen machen, aufgegriffen, den Beitrag aber um einen Tag vordatiert, damit „das halbe Internet“ glaubt, die blöden etablierten Medien seien auf eine Satire hereingefallen. Die Erwartungen des Postillons haben sich jedenfalls erfüllt. Popkontext und die Dorstener Zeitung (via @phaenomeme) berichten.


ALTPAPIERKORB

+++ Klaus Ott informiert uns im Wirtschaftsteil der SZ darüber, dass sich in der Causa Kirch gegen die Deutsche Bank „jetzt ein neuer Zeuge gemeldet“ habe, und zwar - Sachen gibt‘s! - „bei der SZ“: „Christoph Rohner, 50, heute als Personalberater tätig und früher Geschäftsführer bei der WAZ-Firma Europapress Holding, die sich um Zeitungsbeteiligungen auf dem Balkan kümmerte.“ Es geht um ein Treffen im Januar 2002, an dem der damalige Bank-Chef Rolf Breuer, der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und der 2007 verstorbene WAZ-Verleger Erich Schumann teilnahmen: „Rohner sagt, WAZ-Chef Schumann habe ihm damals nach dem Treffen bei Kanzler Schröder erzählt, was dort besprochen worden sei (...) Schumann habe ihm, Rohner, (...) gesagt: ‚Den Kirch wird's demnächst nicht mehr geben. Die haben den Kirch zum Abschuss freigegeben.‘ (...) ‚Dass eine Bank gemeinsam mit dem Kanzler Leute einlädt, die das Vermögen eines anderen aufteilen, das war für mich unfassbar.‘“ Angesichts dessen, dass die juristische Auseinandersetzung auf verschiedenen Ebenen bereits seit mehr als einem Jahrzehnt läuft, stellt sich natürlich die Frage, warum Rohner das vermeintlich Unfassbare erst jetzt wieder einfällt. Oder, um mit der SZ zu fragen: „Warum meldet sich Rohner erst jetzt?“ In der Print-Fassung hat der Text den hübschen Vorspann „Bei Kanzler Schröder soll Kirchs Zerschlagung erörtert worden sein“, obwohl das Treffen im Restaurant Wichmann stattfand.

+++ Auf ihre ganz besondere Art scharf auf Gewalt sind derzeit die Hamburger Morgenpost und das Hamburger Abendblatt. publikative.org analysiert.

+++ Wenn die Überschrift eines Textes „Evgeny vs. the Internet“ lautet, wissen regelmäßige Altpapier-Leser wahrscheinlich bereits, worum es geht. Aus dem so betitelten Evgeny-Morozov-Porträt des Columbia Journalism Review sei eine Einschätzung des Chefredakteurs von The Baffler sei herausgegriffen, die möglicherweise nicht über den US-amerikanischen Diskursbetrieb etwas aussagt: „He really is a kind of political intellectual without a party (...) There’s a history of this in the United States, exactly these kinds of figures, and we don’t have them as much anymore. We have public intellectuals, but we don’t have a lot of political intellectuals, because most people make the early calculation that they’re not going to get very far doing that.” In Morozovs aktueller FAZ-Kolumne „Silicon Demokratie“ (Seite 31) geht es heute übrigens um „emotionales Targeting“ in der Online-Werbung.

+++ Eine komplette Seite widmet die FAZ im Feuilleton einem „Prozess wie bei Kafka“. Das Opfer ist ein österreichischer Journalist, den die Staatsanwaltschaft Wien „des schweren Betrugs an der Republik Österreich (beschuldigt): Der Bundesimmobiliengesellschaft sei seinetwegen ein Schaden in Höhe von 550 000 Euro entstanden.“ Hintergründe hier und hier.

+++ Die alljährliche Liste der schlimmsten antisemitischen/antiisraelischen Verunglimpfungen, die im vergangenen Jahr hier zu Lande recht viel Aufsehen erregte, weil der Freitag-Verleger Jakob Augstein dort auftauchte, sorgt  in diesem Jahr für praktisch gar kein Aufsehen - obwohl Stuttgarter Zeitung und Badische Zeitung vertreten sind. Wenigstens die Jüdische Allgemeine berichtet.

+++ Ebenfalls in der Jüdischen Allgemeinen: von mir eine Rezension des gelungenen Dokumentarspiels „Ein blinder Held - Die Liebe des Otto Weidt“, das am Montag in der ARD zu sehen ist. Ganz aus dem Häuschen ist Franziska Augstein (SZ-Medienseite): „Der Film in der Regie von Kai Christiansen handelt von einem heldenhaften Hochstapler und Judenretter. Genau das ist auch das Thema von Steven Spielbergs ‚Schindlers Liste‘. Um Klassen besser als die Hollywood-Schnulze ist indes der Fernsehfilm ‚Ein blinder Held.‘“ Augsteins Artikel wird sich Volker Herres wahrscheinlich golden einrahmen und an die Wand hängen.

+++ Ein langer Text aus dem alten Jahr mit einem gewissem Aufregungspotenzial: Der Kommunikationswissenschaftsprofessor Stephan Russ-Mohl präsentierte in der Silvester-Ausgabe der NZZ in einem Artikel über die sich verändernden Rahmenbedingungen und Perspektiven für die Öffentlich-Rechtlichen steile Ideechen: „Sendungen, die nur kleinen Gruppen erkennbaren Zusatznutzen stiften, sind in die Programme am späten Abend oder in die Ghettos von 3sat oder Arte verbannt, wo sie dann über ein bis zwei Prozent Einschaltquote nicht hinauskommen. Aber selbst bei solchen oftmals qualitätsvollen Angeboten, die ganz klar nicht für die Allgemeinheit, sondern eher für elitäre, gebildete Zielgruppen konzipiert sind, kann man streiten, ob auf diese Weise Public Value entsteht. Wären diese kleinen Zielgruppen nicht zahlungskräftig genug, um sich solche Inhalte auch auf einem freien Kommunikationsmarkt kaufen zu können?“ Oder, ähnlicher Wein in anderen Schläuchen, mit Blick auf den Schweizer Markt und zudem nicht gerade klischeefrei formuliert: „Ist es fair, vom Akkordarbeiter, der mit RTL und seinem Blick oder mit 20 Minuten eigentlich ganz glücklich ist, zu erwarten, dass er Angebote auf 3sat mitfinanziert, die vermutlich eher Universitätsprofessoren, Bankiersgattinnen und grüne Parlamentsabgeordnete konsumieren?“ An die gelegentlich 3sat konsumierenden Altpapier-Akkordarbeiter hat der Herr Professor natürlich nicht gedacht.

+++ Für einen öffentlich-rechtlichen Journalismus der sehr alten Schule stand der frühere Moskau-Korrespondent und „Kennzeichen D“-Redaktionsleiter Dirk Sager, der am Donnerstag gestorben ist: Michael Hanfeld (FAZ) ruft ihm nach „Die Ostpolitik war sein Metier, der Ost-West-Konflikt im Kalten Krieg seine Epoche, über die er mit klugem, analytischen Blick auf die Machtverhältnisse berichtete. Doch er vermochte mehr, nämlich das, was einen guten Korrespondenten auszeichnet. Er überwand Grenzen, topographische und geistige, indem er Geschichten von Land und Leuten erzählte.“ Joachim Huber (Tagesspiegel) ergänzt: „Er war neugieriger Reporter, profunder Analyst und sorgfältiger Dokumentarist, und es ist keineswegs übertrieben zu sagen, dass der Journalist zu Verständnis und Versöhnung zwischen Ost und West beitragen wollte.“

+++ Der neue dpa-Chefredakteur Sven Gösmann hat im Intranet des Unternehmens ein Editorial platziert, in dem er die Frage stellt: „Ist die Redaktion divers genug ausgerichtet, um gesellschaftliche Entwicklungen angemessen aufzufangen, zu verstehen und zu verarbeiten?" meedia.de zitiert dies und noch viel mehr.

+++ Die Zeit berichtet in ihrem Geschichts-Ressort über Online-Archiv-Webseiten wie Europeana 1914-1918, die „private Dokumente“ (Tagebücher, Briefe) aus dem Ersten Weltkrieg zugänglich machen - wovon auch TV-Autoren, etwa die Macher des fürs Frühjahr angekündigten ARD/arte-Mehrteilers „14 Tagebücher des Ersten Weltkriegs“ (siehe hier und hier), profitierten: „Im großen Jahr der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg müssen (...) Filmemacher dank der zahlreichen erschlossenen Ego-Dokumente nicht ganz auf die Stimmen von jenen verzichten, die dabei waren.“

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.