Tatmittel Internet

Ein früher Business Punk ist wieder da. Das Hellfeld der Onlinekriminalität. Müssen Computer noch mal neu erfunden werden? Auf ein spezielles Medium zornige Profifußballer. Fünf Jahre Missy Magazin.

Zunächst eine Schalte nach Costa Rica, wo einer der schillerndsten deutschen Medien-Business Punks der Jahrtausendwende wiederaufgetaucht ist. Seit Mai in der Karibik (ticotimes.net), inzwischen im gemächlichen Wochenrhythmus via Twitter auch hierzulande geht die News herum, dass Andreas Schmidt auf der mittelamerikanischen Insel im Biolebensmittel-Geschäft aktiv ist.

Schmidt gründete einst in den 1990ern für eine Gruner+Jahr-Tochtergesellschaft ein Me-too- beziehungsweise, wie man damals scherzte, Me-Three-Produkt auf dem TV Spielfilm-/ TV Movie-Markt: die namentlich immer noch existierende Fernsehzeitschrift TV Today [bei der auch ich gearbeitet hatte]. Den relativ größten Fame erntete er aber als Chef der inzwischen sehr ehemaligen Bertelsmann E-Commerce Group, der für den Gütersloher Medienkonzern wesentliche Anteile an der Musiktauschbörse Napster eingekauft hat. Das war bekanntlich eine sehr gute Idee, bloß zu einem sehr falschen Zeitpunkt (ausführliche Geschichte bei musikwirtschaftsforschung.wordpress.com 2009; hier ist Schmidt auf einem Spiegel-Foto von anno 2000 neben dem damaligen Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff "im Freudentaumel" zu sehen). Nach dem fulminanten Scheitern der Bertelsmann'schen Napster-Pläne wusste lange kaum jemand, was Schmidt trieb. Nun also ist klar:

"'After Napster failed because it lost its legal battles against the music industry, I was tired,' Schmidt recalled. 'After 25 years of working hard, I took a break and sailed across the world.'"

Und landete in Costa Rica, wo er ein neues Geschäftsfeld aufrollt, ohne dabei Gütersloher Management-Sound ("Something like this doesn’t exist anywhere in the world, let alone Costa Rica right now") und den globalen Blick zu verlieren:

"In five more years, Schmidt also hopes the Barefoot model’s success will spread to other countries and inspire change. 'We hope to see local food networks all over the world that bring people and farmers together and create vibrant local food economies'” he said.

[+++] Damit in die deutsche Tagesaktualität. Ein gegenwärtig führender IT-Business Punk, Telekom-Chef René Obermann, war gestern Star im Altpapier. Seine edle Metapher vom "ethischen Vorhang" hat noch keine weiten Kreise geschlagen, vielmehr geht der abschätzig gebrauchte Begriff vom "Schlandnet" herum. Dazu gibt es ein hübsches Carta-Storify und eine netzpolitik.org-Analyse nachzutragen wäre Dusan Zivadinovic' heise.de-Kommentar über "die feuchten Schengen-Träume der Telekom". Und kaum ist die Tagung abgeschlossen, auf der Obermann seine beachtete Rede hielt, der "Cybersecuritysummit" in Bonn, konnte die Community zur nächsten mit ähnlichem Thema rheinaufwärts weiter ziehen. Zur BKA-Herbsttagung "Cybercrime - Bedrohung, Intervention, Abwehr" hatte wiederum die FAZ einen Korrespondenten gesandt. Hier aber zunächst die Presseeinladung mit der Info:

"Das World Wide Web bietet Kriminellen unzählige Angriffspunkte auf der ganzen Welt. Die polizeiliche Kriminalstatistik in Deutschland und damit das Hellfeld der Kriminalität weist für das Jahr 2012 64.000 Fälle von Cybercrime und 230.000 Fälle mit Tatmittel Internet aus."

Stefan Schulz hat bei faz.net einen launigen Bericht über die lockereren Talkanteile der Veranstaltung veröffentlicht ("... Mit der Frage, ob es rückblickend nicht sehr vernünftig gewesen sei, dass Bundeskanzler Helmut Kohl seinen Fahrer regelmäßig anwies, zu einer Telefonzelle zu fahren um sicher telefonieren können und welche Lehre für die Allgemeinheit heute daraus folge, befragte [Jörg] Schönenborn den Netzaktivisten und Blogger Markus Beckedahl. Es gebe kaum noch Telefonzellen und er habe auch keinen Fahrer, antwortete dieser..."), und in der gedruckten Zeitung einen ausführlicheren, in dem auch apokalyptischere Töne erklingen (S. 27):

"... Selbst in Paris würden an der School of Economics sogenannte Warfare-Kurse zum Thema 'subversive Techniken für ökonomische Destabilisierungen' angeboten. Diese Offensive beruhe auf 'akademischer Lust', sagte Gaycken. Allein die Anzahl der NSA-Angriffe übertraf die Schätzung der Experten um das Zehnfache. Von den Russen und Chinesen wisse man fast nichts. Möglichkeiten der Gefahrenabwehr gebe es kaum, sagte Gaycken. Schadsoftware bleibe heute bis zu fünf Jahre unentdeckt. Angriffe liefen inzwischen über Hardwaremanipulationen, die nicht aufzuspüren seien."

Beim zitierten Experten handelt es sich um Sandro Gaycken vom Institute of Computer Science der FU Berlin, den die FAZ auch noch im Kurzinterview näher vorstellt. Dort sagt er u.a.:

"Meine Idee von Hochsicherheit ist wirklich, den Computer noch einmal neu zu erfinden, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Das unsichere Zeug, das wir heute haben, müssen wir gesammelt wegwerfen, wenn wir Informationstechnik für unsere hochsicheren Bedürfnisse nutzen. Die bisherige Geschichte der Informationstechnologie und Computer, Hardware und Betriebssysteme ist eine Geschichte von Entscheidungen gegen Sicherheit. Das muss man jetzt korrigieren."

Unter besonderer Berücksichtigung der Ansprache des Hausherren, des Bundeskrimininalamts-Chefs Jörg Ziercke, berichtet Detlef Borchers bei heise.de von der Veranstaltung. Dabei lässt er auch die Vielfalt der teils direkt widersprüchlichen netzpolitischen Ansätze, die deutsche Behörden verfolgen, zum Vorschein treten:

"Während das Auswärtige Amt den TOR-Entwickler Roger Dingledine einlädt und seine Arbeit mitfinanziert, möchte Ziercke die freie Nutzung von TOR-Software am liebsten unter staatliche Melde-Auflagen stellen."

Dieses TOR ist ein Anonymisierungs-Tool, das sich wie alles zu guten und schlechten Zwecken benutzen lässt und demzufolge offenbar teils gefördert wird, teils bekämpft werden soll.

[+++] Noch'n Nachtrag vom Dienstagabend: Investigationen zum allgemeinen Ausspähen unter amerikanischer Ägide kommen inzwischen auch dorther, von wo man es nun wirklich nicht erwartete. Etwa vom MDR-Politmagazin "Fakt": Der Fünfminüter "BND will bei Spionage mitmischen" erzählt emotional, wie der Bundesnachrichtendienst, "immer auf der Suche nach Anerkennung", den Diensten der englischsprachigen Welt technisch exzellent vom Frankfurter Internet-Knotenpunkt abgeschöpftes Datenmaterial anbot und -bietet, aber dennoch einfach nicht anerkannt wird, was für den deutschen Dienst wirklich "unglaublich beleidigend" sein müsse (so die ehemalige britische Geheimdienstmitarbeiterin Annie Machon). Das sorgte u.a. bei SPON und netzpolitik.org für gewisse Furore. Und auf der offiziellen MDR-Webseite wird der Film, co-starring Andy Müller-Maguhn und Hans Christian Ströbele, nun unter Thomas Kauschs zuversichtlich kritischem Blick präsentiert.

[+++] "Über Seriosität, Ehrgefühl oder Gewissenhaftigkeit in der medialen Berichterstattung mag man im Quotenkampf unterschiedlicher Meinung sein. Auch mag die Forderung nach journalistischer Ethik als 'unzeitgemäß' belächelt werden..."

Diese bedenklichen Sätze stammen nicht von geläufigen Medien-Opfern, sondern von Profifußballern. Die österreichische Nationalmannschaft hat zum ungewöhnlichen Mittel eines Offenen Briefs an ein spezielles Medium gegriffen, denn:

"Die Fülle an schlecht bis gar nicht recherchierten Artikeln in der Tageszeitung 'Österreich', die häufig als 'Exklusiv-Interviews' bezeichneten Berichte, für die niemand von uns jemals interviewt worden ist, die reißerischen Texte, die nicht selten in Beleidigun­gen gipfeln ... wollen wir nicht mehr unkommentiert hinnehmen"

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Hier ist der Brief als PDF mit enorm schwungvollen handgeschriebenen Unterschriften zu sehen; interessanter aber ist diese Version, ebenfalls auf der ÖFB-Webseite, mit einer Handvoll Ausrisse solchen aus Berichten, wie sie die Spieler meinen, darunter. Ehrlich gesagt, insgesamt betrachtet lassen sie die Emotionen der Fußballer nicht gerade ungeheuer nachvollziehbar erscheinen. Nicht auszuschließen, dass die in neutralen Berichten (horizont.at, so dann auch beim Standard und meedia.de) zitierte Entgegnung eines Offiziellen der Mediengruppe namens Österreich, des CEO Oliver Voigt, es gehe halt um den Trainer, der um seinen Vertrag gepokert hatte ("... ich finde es auch recht sympathisch, sich vor den Teamchef zu stellen. Es ist nur eine Auseinandersetzung, wo die eigentlichen Akteure wieder einmal im Hintergrund agieren...") nicht völlig falsch ist.

[+++] Wie auch immer, nun noch zwei aktuell lesenswerte Interviews, die vermutlich mit Seriosität, Ehrgefühl und Gewissenhaftigkeit geführt, abgetippt und ggf. autorisiert worden sind. Erstens erklärte Martin Sonneborn gegenüber meedia.de aus seiner Sicht, wie es zum schließlich aufmerksamkeitsstarken Interview mit einem Deutsche Bank-Vertreter (siehe Altpapier) gekommen ist:

"Das Interview wurde ja nicht für die 'heute show' geführt, sondern für das Format 'Sonneborn rettet die Welt', die 'heute show' hat es nur ausgestrahlt, weil es sowohl komische als auch aufklärerische Momente enthält. Und 'Sonneborn rettet die Welt' ist ja kein durchweg satirisches Format, deshalb haben wir auch auf die Bitte der Deutschen Bank hin unsere vollkommen ernsthaften Fragen gemailt: zu Finanzströmen, Managergehältern, Hedgefonds, Finanzkrise. Und dann kam die entsetzte Antwort, über so etwas könne man ja überhaupt nicht sprechen, das sei ja viel zu komplex. Als wir zurückgefragt haben, worüber man denn überhaupt sprechen könne, schickte uns die Deutsche Bank ihre Fragen - und gleich die entsprechenden Antworten. Dass wir dieser Einladung folgten, kann man uns nicht wirklich vorwerfen, oder?..."

Am Ende gibt's ein Autorisierungs-Witzchen. Einschätzungen-Nachklapps gibt's auch bei der Berliner Zeitung und handelsblatt.com.

[+++] Zweitens interviewt die TAZ zum fünfjährigen Jubiläum des Missy Magazins die Mitgründerin und -Herausgeberin Chris Köver, die sich so reflektiert-entspannt über Zielgruppen und dergleichen äußert, wie man es sich in vielen anderen Zusammenhängen von Medienmenschen eigentlich auch wünschen würde. Z.B.:

"Innerhalb der weiblich sozialisierten Menschen gibt es mehr Unterschiede als zwischen Männern und Frauen. Schwarze oder migrantisierte Frauen in Deutschland werden anders diskriminiert als weiße mit deutschem Pass, lesbische oder dicke Frauen wieder anders. Deswegen lassen wir im Zweifelsfall lieber Leute für sich selbst sprechen, als über sie zu sprechen. Sie sind die Expertinnen ihrer Situation. Ein imaginäres 'Wir Frauen' gibt es bei uns nicht."


Altpapierkorb

+++ Ob das SPON-Interview mit "dem mächtigsten Mann im 'Tatort'-Reich", dem diesbezüglichen ARD-Koordinator Gebhard Henke, autorisierungsstressfrei abgelaufen ist, weiß man nicht. Schließlich sind "Tatort"-Funktionäre nicht ohne (siehe Altpapier). Jedenfalls äußert sich Henke nicht negativ über "Tatort"-Teams anderer Sender, dafür auch auf kontroverse Fragen positiv über WDR-"Tatorte" ("Was Sie als Eintönigkeit kritisieren, nenne ich Stil") und lässt auch sympathischen 50er-Jahre-Humor aufblitzen ("Ich frage mich nur, wann die Bettenindustrie sich über den Imageschaden beschwert, der daraus entsteht, dass Leichen im 'Tatort' so oft in Betten liegen"). +++

+++ Noch'n Fernsehschaffenden-Interview: "Bergdoktor"-Darsteller Hans Sigl ist ein großer Fan seiner Serie ("Wir haben einen neuen Look. Wir sind sehr dicht an den Figuren, haben harte Kontraste, werden moderner aussehen...") und auch im Marketing echt gut ("Wir haben beim 'Bergdoktor' wahnsinnig dazugewonnen. Von Staffel vier auf Staffel fünf haben wir den Marktanteil der 14- bis 49-Jährigen verdoppelt." ... ... "Die Leute gucken es in Namibia, in Belgien, in Norwegen…"). Das lässt sich dem großen Tagesspiegel-Interview entnehmen. +++

+++ Von weiteren kräftigen Personalumbau-Maßnahmen des erst seit sechs Wochen amtierenden Deutsche Welle-Intendanten Peter Limbourg weiß die Berliner Zeitung. +++ Das Problem, das die DW in Bulgarien zwischen ihren freien Mitarbeitern und Bank-Oligarchen hat und die FAZ gestern schilderte, ist nun auch frei online zu lesen. +++

+++ Topthema der SZ-Medienseite: Die Netflix-Serie "House of Cards" als Triumph von "Augsburgs nach Leopold Mozart größtem Sohn", nämlich Bert Brecht betrachtet. Die Serie folge nämlich "kaum verbrämt den Regeln des epischen Zeigefinger-Theaters", erläutert Willi Winkler ausführlich. +++ Randthemen ebd.: die werbliche Kooperation von handelsblatt.com [wofür ich auch schreibe] mit dem Konzern General Electric in der Rubrik "Das Technologie-Update". "Schafft die enge Kooperation für ein Wirtschaftsblatt nicht zu viel Nähe zu einem Branchenriesen?" +++ "Der Fettnapf-Tritt des Focus-Money-Chefs" (meedia.de), wie auch gestern hier erwähnt. +++ Eine beim Bayerischen Rundfunk geplante neue "Direktion für Information", in der Radio- und Fernseh-Redaktionenressortübergreifend zusammenarbeiten sollen. +++ Und die Zukunft des Kindersenders Super RTL, der ab 2014 mit dem neuen Disneysender auf dem Das Vierte-Sendeplatz konkurrieren muss. während Disney dennoch Hauptgesellschafter neben Bertelsmann bleiben wird (siehe auch Tagesspiegel). +++

+++ Themen der FAZ-Medienseite: Was Peter Arens, Leiter der ZDF-Hauptredaktion Kultur, Geschichte und Wissenschaft, so plant (etwa "eine Geschichte der Kulturentwicklung der Deutschen", die aber leider nicht von Hape Kerkeling präsentiert werden könne, denn der "sei leider zu beschäftigt"). Außerdem soll "Aspekte" wieder 45 Minuten dauern.  +++ Das 40-Jährige der österreichischen Europäische Rundschau .+++ "Go On" und "The League", zwei neue Sitcoms bei  RTL-Nitro. +++ Und sehr mahnende Worte Jürg Altweggs zur gesamtgesellschaftlichen Lage in Frankreich: "Der anhaltende Taumel der Vichy-Vergangenheit hat einen Bodensatz hochgespült, mit dessen Schlamm skrupellos geworfen wird. Die Unbeliebtheit der Regierung, auch ihre Unfähigkeit ist keine Entschuldigung. Nicht nur wegen der Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit erinnert das Klima an die dreißiger Jahre. Damals hielten es rechtsextreme Kreise 'lieber mit Hitler', um die Volksfront mit dem Juden Léon Blum als Regierungschef zu überwinden - die Folgen sind bekannt. Heute geht es gegen die farbige Ministerin", nämlich die von der rechtsextremen Zeitschrift Minute rassistisch verunglimpfte Justizministerin Christiane Taubira. +++

+++ Die ARD will nächstes Jahr in ihrem Vorabendwerberahmenprogramm offenbar ein wenig weniger Schmunzelkrimis, dafür ein paar reine Komödienserien senden (dwdl.de). +++

+++ Die Presseverlage, die wegen des LSR bei der VG Media einsteigen, "rechneten ...nicht damit, dass schon bald Geld fließen werde. Vermutlich werde es zu Klagen kommen, die letztinstanzlich wohl erst in drei bis fünf Jahren vom Bundesgerichtshof entschieden werden würden, so Kai-Hinrich Renner im 'Handelsblatt'", fasst kress.de einen nicht online verfügbaren Print-Artikel zusammen. +++

+++ Und auf eine Presserats-Sitzung, die vergleichsweise interessant werden dürfte, macht newsroom.de gerne aufmerksam: Springersprecher Tobias Fröhlich habe sich an den Presserat gewandt, um das seltsame Gebaren des pseudonymen Investigators Max Rethow zu beurteilen (siehe ebd.). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.