Außenstehende stehen ganz außen

Jetzt greift auch Christian Lindner (FDP) in die NSA-Debatte ein. Außerdem: eine Leitmedien-Streitigkeit in teilweise demselben Zusammenhang, die spannende Wimbledon-Fernsehrechteversteigerung

In manchen reflektierten Analysen der laufenden Debatten, die auf Edward Snowdens Enthüllungen folgten, fand auch die gleich anfangs geäußerte "worst fear" des Whistleblowers/ Glockenläuters Erwähnung: dass

"the public had already been taught to accept that they have no right to privacy in the digital age".

Die allerschlimmste Furcht hat sich nicht erfüllt, immerhin laufen die Debatten seit über zwei Monaten. Der Zeitpunkt der Akzeptanz könnte hierzulande aber gerade in diesen Tagen eintreten. Schließlich hat der lange verschwiegene Kanzleramtsminister Ronald Pofalla die Debatte offiziell für beendet erklärt (was das stets lachende Netz sogleich kollaborativ zu verspaßen begann); schließlich erklärt der CDU/ CSU-Fraktionschef Volker Kauder im SPON-Interview mit dem putzigen Argument "Die Erklärungen der Amerikaner, Briten und unserer Dienste sind eindeutig": "Die Vorwürfe der Opposition sind widerlegt" - so als seien Äußerungen deutscher Oppositionsparteien in diesem Zusammenhang ein relevanter Bezugspunkt.

Die Süddeutsche heute argumentiert geduldig-resignativ gegen diese Sichtweisen an: Online mit einer Johannes-Kuhn-Analyse, was noch mal "die ursprüngliche Aufregung betraf"; auf der Print-Meinungsseite mit einem Kommentar von Johannes Boie ("Da war es wieder, dieses Wort, das für alles steht, was die Regierung am Internet nicht begreift: 'Fernmeldeaufklärung' .... Genau das verstehen Politiker wie Pofalla nicht: dass das Netz für viele Deutschen zur Lebenswelt geworden ist. Für diejenigen, die jetzt den Aufschrei proben, ist es ihr Zuhause. Wird es überwacht, werden ganze Leben überwacht. Und nicht, wie beim Telefon, einzelne Gespräche").

Und dann hat noch Christian Lindner, nicht der Chefredakteur der Koblenzer Rhein-Zeitung, sondern der nordrhein-westfälische FDP-Politiker (der zumindest dank zahlreicher Talkshowauftritte ja auch als Medienexperte gelten kann), für das FAZ-Feuilleton eine gedruckte Wahlkampfrede signiert und sicherlich auch entscheidend daran mitgeschrieben.

"Ordnung für den Datenmarkt - eine erste Agenda" (frei online derzeit nur als Zusammenfasung) ist sie überschrieben; in der Print-FAZ peppt eine Greser & Lenz-Karikatur den Text auf, die einen "I Want You"-Uncle Sam neben "Der Bundesinnenminister warnt"-Aussagen wie "Persönliche Daten ins Netz zu stellen ist etwas für kretinoide Fußabtreter der Evolution" zeigt.

Der "Strukturwandel von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Zeiten der Digitalisierung aller Lebensbereiche" sei "eine der wesentlichen Gestaltungsaufgaben der nächsten Jahre", das ist Lindners Ansatzpunkt. Der Artikel enthält allerlei Binsen dieses Konsens-Niveaus ("Die Verfügungsgewalt über Daten muss bei ihren Besitzern liegen, den Bürgerinnen und Bürgern", "Big Data ist ambivalent. Es kann zu Fortschritt führen - oder eine eminente Freiheitsbedrohung werden"). Zugegeben, auch einzelne analytischere Sätze ("Der Staat muss also wieder Ordnungsgeber und Wächter des freien und fairen Wettbewerbs sein, statt hier wie dort freiwillig oder unfreiwillig Kollaborateur ökonomischer Machtstrukturen zu werden, die unsere individuelle Freiheit und die Freiheit des Marktes gleichermaßen bedrohen"). Einmal wird Lindner beinahe konkret:

"Wenn es im Internet Quasi-Monopolanbieter gibt, die wie Google nahezu den Charakter von Infrastruktur gewinnen, brauchen auch sie Datenaufsicht: Welche Algorithmen werden zu welchem Zweck verwendet? Wer speichert was und wie lange? ..."

Ansätze, nach der nächsten Wahl auf Bundes-, Länder- oder irgendeiner Ebene mit der Umsetzung solcher Ideen zu beginnen, enthält der Artikel jedoch nicht im geringsten; nicht einmal den vielleicht doch sogar in der FDP mehrheitsfähigen Vorschlag, dem Internet ein eigenes Ministerium oder einen Staatsministerposten zu widmen, sodass wenigstens nicht mehr die Zuständigkeiten für Privatsphärenschutz- und für Cyber-Geheimdienst-Dinge zufällig im Haus desselben  Bundesinnenministers zusammenfallen.

Es geht nurmehr darum, einen gerade noch aktuellen Nischen-Aufreger in den allgemeinen Wahlkampf einzupflegen. Vermutlich hat Kauder ("Ich habe bei meinen Wahlkampfterminen die Erfahrung gemacht, dass sich die Bürger für das Thema nicht so stark interessieren") tatsächlich recht. Er gab das oben verlinkte SPON-Interview offenkundig auch nur, weil er, nachdem der Snowden-Stoff abgefrühstückt war, noch kurz "die wichtigsten Projekte, die Sie nach einem Wahlsieg noch in diesem Jahr angehen wollen", skizzieren durfte...

####LINKS####

[+++] Spiegel Online ist auch beteiligt an einer Leitmedien-Streitigkeit, die die große Daten-Frage und die Art und Weise, in der darüber berichtet wird, auf einen sehr konkreten und offenbar schlimmen Einzelfall herunterzubrechen scheint: Ein deutscher bzw. deutsch-amerikanischer Journalist, dessen Name in deutschen Medien tagesaktuell nicht genannt wird, mit den Informationen aus der heutigen Süddeutschen jedoch leicht ergooglebar (oder, um die Datenkraken nicht mehr als nötig zu füttern: er-startpage-bar) ist, ist seit Anfang 2012 " in einem islamischen Land" entführt.

Das berichtete die gestrige Bild-Zeitung in ihrer Papier-Ausgabe und online in ihrem kostenpflichtigen Angebot (aus dessen Foto dazu wir hier einen Ausschnitt als Screenshot zeigen). Tenor des Berichts: Obwohl der Spiegel regelmäßig kritisch über die NSA berichte, habe er selbst Daten an deutsche Geheimdienste und damit an die NSA weitergegeben, und zwar um zu Hilfe für den Entführten beizutragen. Spiegel Online antwortete, indem es der Bild-Zeitung einen "Tabubruch" vorwarf, weil sie über das noch laufende Verbrechen berichtete.

"Nun ärgert der 'Bild'-Chefredakteur den 'Spiegel' zurück", beurteilt Sonja Álvarez im Tagesspiegel die Sache: "Die beiden Blätter streiten sich - doch leiden könnte ein Dritter". Vielleicht aber leidet der Entführte, der ja vermutlich ohnehin schon lange leidet, überhaupt nicht unter der bescheidenen neuen Medienöffentlichkeit, meint Thierry Chervel per Kommentar unter der meedia.de-Zusammenfassung (eine weitere steht knapp in der TAZ). Offenbar hatte das Außenministerium empfohlen, überhaupt nicht über den Fall zu berichten oder zumindest "auf mögliche Risiken einer Veröffentlichung hingewiesen" (so eine Springer-Sprecherin zum Tsp.). Offenbar hatte, andererseits, schreibt SPON, der eingangs erwähnte Kanzleramtsminister Pofalla nach einer Sitzung des Geheimdienste-Kontrollgremiums kürzlich öffentlich darüber gesprochen.

Wieauchimmer, am ausführlichsten und mit gewohnt raunender Kennerschaft ("Geheimdienstler und Journalisten eint manches und trennt normalerweise vieles") berichtet heute in der Süddeutschen Hans Leyendecker. Bevor er am Ende arg ins Schwammig-Allgemeine entgleitet ("In der laufenden NSA-Affäre, die von der riesigen Überwachung globaler Kommunikation handelt und nicht von einem Einzelfall, steht der Außenstehende, der diese Welt gar nicht kennt, ganz außen..."), bringt er manche Details, darunter indirekt den Namen des Opfers.

Das bei SPON erwähnte Magazin, das "vor zweieinhalb Wochen bereits" nach demselben Fall beim Spiegel fragte, "mit Rücksicht auf mögliche Gefahren für das Leben der Geisel" dann aber auf Berichte verzichtete, sei der Focus gewesen. Mit dem Umstand, dass das Entführungsopfer gar kein Spiegel-Reporter im engen Sinne sei, hält sich Leyendecker merkwürdig lange auf ("Mitte des vergangenen Jahrzehnts war er kurze Zeit bei Spiegel Online für die internationale Ausgabe fest angestellt, danach arbeitete er dort als freier Mitarbeiter, meist für vier Tage pro Monat - aushilfsweise... Mit dem Spiegel hatte der Entführte also nie etwas zu tun, mit Spiegel Online nicht mehr.").

Und wer online sucht, fände sowohl ein Video mit dem Mann bei der Google-Tochter Youtube als auch Berichte über seine Identität und die Umstände der Tat, sowohl in amerikanischen Medien, für die der Mann ebenfalls schrieb, als auch auf deutsch:

"Bei 'Piracy News' stand im Internet früh etwas über ihn, und in strafblog.de schrieb im Mai 2012 der Anwalt eines afrikanischen Piraten über den Fall."

Wer dort im Mai '12 sucht, wird wirklich schnell fündig. Und was hält Leyendecker denn nun von der aktuellen Medienberichterstattung?

"Welcher Informant auch immer den Einfall hatte, in der seltsam mäandernden Diskussion über die Arbeit der Geheimdienste mit dem Schicksal eines Opfers politisch Stimmung machen zu wollen, ist nicht bekannt. Eine Quelle ist eine Quelle, auch wenn sie stinkt."

[+++] Am Rande: Was ist strafblog.de? Ein Juristenblog durchaus auf Schlagzeilen-Augenhöhe mit den Online-Leitmedien SPON und bild.de ("Gruselig: Nackter Mann zerbeißt anderem Nackten das Gesicht - Polizei erschießt den Täter", auch das lief im Mai '12). Bzw. nach eigenen Angaben: "ein juristischer Blog der Beckoffice Content & Creation, Hamburg, der in enger redaktioneller Zusammenarbeit mit der Mönchengladbacher Strafrechtskanzlei Pohlen + Meister über interessante strafrechtliche Themen aus dem In- und Ausland informiert."

Beckoffice, Beckoffice... Da schwant Medienbeobachtern ja auch etwas. Doch offenbar (Bei beckoffice.net ist nach ebenfalls eigenen Angaben derzeit der Server "abgeschmiert"), offenbar handelt es sich bloß um eine Ex-Tochterfirma von Beckground-TV, die also nicht mehr mit der weiterhin von Reinhold Beckmann persönlich gemeinsam mit der NDR-Enkel- oder -Urenkel-Firma Cinecentrum betriebenen Fernsehproduktionsfirma verbandelt ist.
 


Altpapierkorb

+++ Fernsehsport war gestern und vorgestern großes Thema hier. Heute bringt der Tagesspiegel ein Interview mit dem ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky, in dem eine Menge Fragen, etwa nach dem dafür gezahlten Geld ("Ich kann nur sagen, dass die ARD-Intendantinnen und -Intendanten den Sportetat für 2013 bis 2016 erheblich gekürzt haben. Auch für Kernrechte gilt: Wir müssen nicht jedes Recht zu jedem Preis haben. Aber natürlich werden wir weiter in den Fußball investieren...") angerissen und bekannte ARD-Formulierungen wiederholt werden ("Den Schuh, dass Sie zu wenigen Sportarten Platz geben, ziehen Sie sich also nicht an?" - "Genau. Wir zeigen 50 Sportarten im Ersten und mit den Dritten gemeinsam werden es sogar 100. Diese Vielfalt bietet kein anderes Vollprogramm auf der ganzen Welt..."). Frische Fernsehsport-Spannung steht bevor, wenn demnächst wieder die Rechte für die kommenden Wimbledon-Tennisturniere versteigert werden, aber ja noch niemand weiß, ob deutsche Tennisspielerinnen wieder in die letzten Runden gelangen werden. Wer mehr über die gemeinsame ARD-/ZDF-Taktik wissen will, muss zum Tsp. klicken. +++

+++ "Herr Hauschild, wenn die vielen Fernsehkrimis eine Reaktion der Menschen auf die Globalisierung sind, warum boomen dann nicht Heimatfilme oder Kochsendungen zur regionalen Küche oder Lokalsport? Warum Krimis?" - Thomas Hauschild: "Kochsendungen und Heimatschnulzen boomen ja auch. ..." Eher etwas nichtssagendes Interview dagegen, das die Süddeutsche mit dem Hallenser Ethnologen über die "Krimiflut" im Fernsehen, aber auch über "James Bond" geführt hat. +++

+++ Breaking: Neue Spannung im Wahlkampf? "Peinliche Quoten-Schlappe für Kanzlerin Angela Merkel"! Die kress.de-Einschaltquotenanalyse ist ja wohl mindestens so repräsentativ wie eine Infras-Umfrage... +++

+++ "Geschmacklos", doch aus juristischer Sicht "wohl ... rechtmäßig": die neueste Werbeanzeige eines prominenten Autovermieters mit einem Gustl Mollath-Foto. Das sagt Medienrechtsanwalt Christian Solmecke zur Berliner Zeitung. +++ "Die Werbeagentur, die Gustl Mollath nach sieben Jahren in der Psychiatrie als erstes gleich wieder entmündigte" und mit solchen abwegigen Ideen schon so manche "Kreativen"-Erfolge feierte, heißt Jung von Matt. Daran erinnert Stefan Niggemeier in seinem Blog. +++

+++ "Wir sind das Mainzer Stellwerk", heißt es aus dem Berliner Studio des Mainzer Senders ZDF. Mitarbeiter beklagen sich, dass "der Personalabbau im Hauptstadtstudio proportional mehr Mitarbeiter erwischt als in der Zentrale" (Tagesspiegel). +++

+++ Wegen der Aufregung um die ZDF-Neo-Sendung "Auf der Flucht" sprach Kölner Stadtanzeiger mit Daniel Gerlach, einem dort auftretenden Experten sowie Mitherausgeber des Magazins Zenith. Der "sagt, die Aggressivität der Kritiker mache ihn nachdenklich. 'Sich online zu empören ist bequem. Wie wäre es stattdessen mit einem Engagement dafür, dass angesichts der dramatischen Lage humanitäre Hilfe für Flüchtlinge aufgestockt wird?'" +++

+++ Wiederum im Tsp. ein hartes Geld-Thema: die juristischen Streitigkeiten zwischen Kabel Deutschland und den Fernsehsender. Rund 46 Millionen Euro Lizenzgebühren soll der Kabelnetzbetreiber an die Privatsender-Verwertungsgesellschaft VG Media nachzahlen, entschied das Landgericht Berlin in einem seit sieben Jahren anhängigen Prozess; aber auch um die eventuelle Verschlüsselung des Radio Bremen-Programms wurde prozessiert. +++

+++ Von "atmosphärischen Störungen" und Pesonalien beim Focus berichtet die SZ-Medienseite ebenfalls. Die stellvertretende Chefredakteurin Carin Pawlak gehe, das "Debatten"-Ressort werde "nun endgültig aufgelöst", die Optik soll künftig dank "Ideen der Berliner Design-Agentur Kircher Burkhardt" "aufgeräumter aussehen" und außerdem "die Personalstärke von 2011" wieder erreicht werden. Dass diese Stärke damals nicht größer war als heute noch, sondern kleiner, versteht sich. +++

+++ Eine so gute Idee wie aufgeräumte Optik eines Printmagazins: ein Fernsehsender, der "das junge Publikum unterhalten, mitnehmen und zum Anpacken motivieren" möchte. Aktuell will dies in den USA der Sender Pivot, berichtet die TAZ. +++

+++ Noch'n Interview: ein interessantes auf der FAZ-Medienseite von Michael Hanfeld mit Gert Rosenthal, dem Sohn des "ursprünglichen "Dalli dalli"-Moderators Hans ("Sein Wunsch, zum Rundfunk zu gehen, hatte damit zu tun, dass er den Menschen sagen wollte: Wir Juden sind nicht so, wie es in der Nazizeit dargestellt wurde. Das war seine erste Überlegung, als er zum Rundfunk ging. Als er dann beim Rundfunk war, ist das völlig gekippt. Da sagte er: Ich will lieber nicht der 'Quotenjude' sein, ich verschweige das lieber. Ich möchte weder abgelehnt werden noch Zuspruch erfahren, weil ich jüdisch bin. Das kippte wieder, als er sehr, sehr beliebt war und sein Buch geschrieben hatte. Von dem Zeitpunkt an hat er über seine Zeit im Versteck im Holocaust berichtet. Da hat er die Menschen mit dem konfrontiert, was er in seinem 'ersten Leben' durchmachen musste"). Gert Rosenthal leitet die Hans-Rosenthal-Stiftung, die durch das neue ARD-"Dalli dalli" auf wieder erhöhtes Spendenaufkommen hofft. +++

+++ Der heutige ARD-20.15 Uhr-Film "Das Glück ist eine ernste Sache" "ist bereits im Winter 2008/2009 entstanden und gehört zum Vermächtnis der früheren NDR-Fernsehfilmchefin Doris Heinze. Der Film hat die Zeit im Lager allerdings unbeschadet überstanden", lobt Tilmann P. Gangloff. +++ "Ein bisschen zu viel Best-Ager-Kitsch", sah FAZ-Rezensent Philip Kovce, ohne auf die weit zurückreichende Entstehungsgeschichte einzugehen. +++ Wer eine besonders positive Kritik sucht, findet sie bei tittelbach.tv. +++ Siehe auch Altpapierkorb gestern. +++

+++ Und "Puffgänger! Puffgänger!", ruft die TAZ-Kriegsreporterin, um dann Titelschutz für die Jörg-Pilawa-Shows "Deutschlands Puffgänger", "Das große Quiz der Puffgänger" und "Das große Quiz katholischer Puffgänger" anzumelden. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.