Was die #Neuland-Aufregung um Angela Merkels Nebensatz zum Internet immerhin beweist: Inzwischen werden auch fundierte Analysen (in so gut wie jede Richtung) in Quasi-Echtzeit verfasst.
Was gestern in diesem Internet geschah, ist natürlich längst wieder Altland. Und dennoch steht es nun in den gedruckten Zeitungen.
Heute bereiten sie den in den Echtzeitmedien intensivst analysierten Staatsbesuch in Deutschland nach. Ein staunenswert großes Spektrum decken die Leitartikel ab. Es reicht von "besonders peinlich" (Arno Widmann, BLZ) bis zu Stephan-Andreas Casdorffs sich überschlagender Begeisterung ("So fügt sich einiges an diesem besonderen Tag eines Jahres, in dem [Willy] Brandt 100 geworden wäre", Tsp.). Eine Position dazwischen, die in der als wabernd kritisierten Rede dennoch etwas entdeckte, das "allen Respekt" "verdient", gibt's auch (Ines Pohl, TAZ). Nur zum Beispiel natürlich, wir sind ja keine Politikkolumne. Jedenfalls, in schönster Meinungsvielfalt sind eine Menge unterschiedlicher Positionen bezogen wurden, zu Barack Obamas Rede genauso wie zu Michelle Obamas Kleidung.
"Und dann, kurz nach Mittag, Tusch, Trommelwirbel, stopp the Press:
+++ 12:14 Wolfgang Joop kritisiert Modestil von Michelle Obama +++",
das ist der Höhepunkt des schönen meedia.de-Montage "Tickerland ist abgebrannt" über den "Liveticker-Irrsinn". Das Originalzitat findet sich unter der genannten Uhrzeit noch im umfänglichen Liveticker-Textkörper von n-tv.de. Rehabilitiert wird der Stil der First Lady u.a. in der gedruckten Süddeutschen (S. 2: "Eine Frau kommt an/ Sichtlich entspannt trifft Michelle Obama auf die Berliner...") und bei bild.de sogar im Gratisbereich ("Mit diesen Looks betört sie Deutschland").
Ebenfalls so gut wie alle denkbaren Positionen bezogen sind zum Subthema, das vielleicht in die Fußnoten der in sämtlichen politischen Kommentaren erwähnten Geschichtsbücher einziehen wird, sofern einige künftige Geschichtsbücher noch gedruckt werden und nicht allenfalls Hyperlinks enthalten: die #Neuland-Posse um Bundeskanzlerin Angela Merkels "Fauxpas". Gestern konnte man multimedial einem sog. Mem beim Anschwellen zuschauen, und im Prinzip beim Abschwellen, auch wenn Abschwellen naturgemäßig weniger sichtbar ist. Was wirklich neu ist: Auch dazu wurden, wie das so schnell vermutlich noch nie geschehen ist, in Analysen eine Menge fundierter Positionen bezogen.
Dafür wie der Begriff in die Welt gelangte, haben die Kollegen von evangelisch.de in der Einleitung zur Storifizierung der Twitter-Aufregung vermutlich die beste Formulierung gefunden:
"Welcher Redenschreiber hat denn da die Kanzlerin ins offene Messer des Internets, Verzeihung, #neulands, laufen lassen?"
Merkel hätte sicher nicht auf der Formulierung "Das Internet ist für uns alle Neuland" bestanden, wenn sie eine bessere zur Hand gehabt hätte, etwas wie das, was später der relativ internetaffine Steffen "@RegSprecher" Seibert später nachgetwittert hat.
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Die Echtzeit-Kommentare dazu sind inzwischen in hunderten "So lacht das Netz"-Artikeln vom Leitmedium Spiegel Online bis zum Internetauftritt des Kreisboten aus Weilheim aggrekuratiert worden (wie ich gerade auf den Kreisboten komme? Der steht erstaunlich weit oben bei Google - Kompliment an die Weilheimer SEO; der Text selbst kam natürlich von der DPA). Storify-Formate wie das eben verlinkte von evangelisch.de sind, weil sie die zeitliche Abfolge erkennen lassen, die vielleicht sinnvollste Art, so etwas abzubilden.
Solche sich, oft auch in Shitstormformen rasant verbreitenden Meme sind nichts Neues. Und auch nicht, dass Thomas Knüwer, bekanntlich einer der schärfsten Hunde dieses Internets, oberhalb seines Nachtrags
"Auf Tubmblr darf hier und hier geschumzelt werden, während auf Twitter der Hashtag #Neuland grassiert"
eine gelehrte Instant-Polemik gegen "technophobe Politiker" mit Verweisen von Netscape bis Dante (Alighieri, nicht Bayern München) zum Thema bringt, bei der ebenfalls kräftig geschmunzelt werden muss.
Relativ neu aber die Menge augeruhterer Analysen, die verdammt schnell auf den Schirmen erschienen. Die Pressekonferenz, auf der der Satz fiel, lief bis 13.44 Uhr, wenn man dem n-tv-de-Liveticker traut. Um 15.19 Uhr war bei zeit.de Patrick Beuth mit einem kräftigen Kommentar am Start:
"Das Internet ist Neuland für uns alle, da kann man ja auch mal bei der Überwachung desselben ein bisschen zu weit gehen - denn das ist es, was die Kanzlerin damit sagte",
schreibt Beuth und knüwert dann:
"In Merkels wenigen Worten spiegelt sich denn auch die ganze erbärmliche Netzpolitik der Bundesregierung. Eine Netzpolitik, die das Internet in erster Linie als Gefahrenquelle ansieht und wenn überhaupt, dann nur nachrangig als Chance."
Obwohl die Kanzlerin Chancen für Chancen-Rhetorik eigentlich selten ungenutzt verstreichen lässt... Dieselbe Sache lässt sich aber auch anders interpretieren. Ab Seit 15.42 Uhr ließ lässt sich bei sueddeutsche.de Johannes Kuhns Kommentar wider das "Piefke-Netz" oder auch "Spießer-Netz" klicken:
"Der Kanzlerin ist ein Klassiker gelungen, der am Ende einiges über die Netzpolitik der Bundesregierung, noch mehr aber über die Wirklichkeitswahrnehmung jener Kreise verrät, die sie kritisieren. Denn natürlich bietet es sich an, die schwarz-gelbe Internetpolitik der zu Ende gehenden Legislaturperiode als vier verschenkte Rookie-Jahre zu betrachten. Gleichzeitig aber hat Merkel recht..."
Seine abschließenden Sätze lauten dann:
"Wenn der Rest der Deutschen einmal im Neuland der progressiven Internet-Versteher angekommen ist, er dürfte sich wundern, wie spießbürgerlich es dort zugeht."
So weit zwei kräftige, exemplarisch gegensätzliche Kommentare aus renommierte Redaktionsmedien (wobei es natürlich noch weitere gab, z.B. von Peter Seiffert bei focus.de, der um 17.55 Uhr freilich schon signifikant später online war).
Während bei Twitter unter dem trendigen #Neuland-Mem auch diese Kommentare bzw. die Links zu ihnen kursierten, kursierten dort außerdem Links zu keineswegs kürzeren Blogeinträgen zum selben Thema, die keineswegs später publiziert worden waren und mindestens so lesenswert sind. So gelangte z.B. Friedemann Karig in seinem gleichnamigen Blog, auf der Linie der Merkelkritiker-Kritiker, zu einer nahezu salomonischen Kompromissformel:
"Das Neuland, das die eitle Avantgarde für sich nicht gelten lassen will, obwohl sie auch oft genug im Trüben fischt und schwimmt, wenn es etwas schneller geht - dieses Neuland für 'uns' liegt da draußen. Eben nicht ein paar Klicks weg. Sondern bei genau der Mehrheit, für die das Internet noch vornehmlich für Kontrollverlust, Unsicherheit und Cyberspacehackeridentitätsbetrugsgefahren steht."
So meint z.B. André Vatter, der über Blogger-Fame von Basic Thinking verfügt und sich selbst u.a. "Social Median" nennt, wiederum mehr auf der Linie der Merkelkritiker, ebenfalls zurecht:
"Dennoch finde ich die Empörung angemessen. Damit aus einem 'Neuland' ein bekanntes Land wird, muss etwas geschehen, so etwas regelt sich nicht von alleine. In puncto Entdeckergeist ist seit den Neunzigern - seitdem das Internet in Deutschland ankam - jedoch ziemlich wenig geschehen..."
Vatters Text mündet in die Aufforderung an das spottende Netz (bzw. die Twitternutzer, denen er zuvor nochmals erklärt hat, dass sie in Deutschland "gerade einmal sechs Prozent der Internetnutzer" darstellen), "dem Urzeitmenschengeschrei dann irgendwann auch mal die Browser-Nachhilfestunde mit Oma und Opa" folgen zu lassen.
Vielleicht ist es Zufall, dass die differenzierteren Quasi-Echtzeit-Analysen zur #Neuland-Aufregung in Blogs stehen, die sichtlich nicht primär kommerziell angelegt sind. Vielleicht ist es doch kein Zufall, dass die ebenfalls durchaus lesenswerten Kommentare, die Internetauftritte renommierter Zeitungen zum selben Thema bringen, weniger differenzieren. Polemik, die so oder so polarisiert, klickt schließlich besser und trägt eher zu den Einnahmen bei, auf denen die Geschäftsmodelle oder Geschäftsmodell-Ideen der Verlage beruhen.
[+++] Eine sehr sehr entspannte Analyse zu Merkels "Neuland"-Satz steht freilich doch in einem Redaktionsmedium:
"Vorher hatte Angela Merkel, wohl auch an Obamas Adresse, gesagt: 'Das Internet ist für uns alle Neuland.' Ganz so ist es ja nicht, aber man wusste, was sie meinte."
Das schrieb Edo Reents gestern auf faz.net (und steht heute auch im FAZ-Feuilleton). Allerdings handelt es sich nur einen Nebenstrang, denn sein eigentliches Thema ist die elaborierte, keineswegs ganz unplausible, aber zumindest kräftige und nicht entspannte These "Der Echtzeitjournalismus hat uns geistig auf den Wilhelminismus zurückgeworfen" - womit wir wieder beim Liveticker-Irrsinn wären, der bei Ereignissen aller Art ungefähr so gut floriert, wie er andererseits auch immer analysiert wird.
Jetzt ist zwar die auf ihre Weise ebenfalls irre, auch bei Twitter z.B. so und so kommentierte Fernsehberichterstattung zu Obama noch gar nicht zu ihrem Recht gekommen.
Aber wenn in Quasi-Echtzeit verfasste Artikel da aufhören, wo sie ungefähr anfingen, macht das ja einen guten Eindruck
+++ Ewiges Rätsel Onlinejournalismus-Finanzierung. Bild.de hat den Bericht über Michael Hastings' Unfalltod (rollingstone.com) unter dem groß bebilderten Teaser "Rätselhafter Auto-Tod mit 33/ Der Reporter, der mit seinen Enthüllungen den legendären Afghanistan-General McChrystal stürzte" ins bezahlpflichtige Angebot: "Diesen Artikel gibt es nur bei Premium" Weiß Springer mehr? +++ Den schönen Satz "Ich freue mich schon darauf, im nächsten halben Jahr die Zahl der Abonnenten sagen zu dürfen" sagte Romanus Otte, seines Zeichens "General Manager" bei Springer (aber für welt.de, nicht bild.de) gerade in Frankfurt (faz.net). +++ Der ehemalige "Geschäftsführer des Nationalvertriebs" bei Springer, Markus Schöberl, kritisiert die Preise, die Zeitungen für ihre Digitalprodukte so erheben (newsroom.de).+++
+++ "Einer der wenigen Blogger in Deutschland, der von den Werbeerlösen seiner Arbeit leben kann" ist Stefan Sichermann von der-postillon.com. Daheim in Fürth wirkt er als "Chefredakteur, Systemadministrator, Webdesigner, Gagautor, Fotoredakteur, Leserbriefbeantworter, Rechtschreibprüfer, Social-Media-Beauftragter, Anzeigenakquisiteur" zugleich. Heute stellt ihn die Süddeutsche anlässlich der bevorstehenden Grimme Online-Preisverleihung vor.+++
+++ Was Noam Chomsky in Bonn noch sagte (siehe Altpapierkorb gestern), berichtet der Guardian.+++
+++ Einen europäischen Crawler statt eines deutschen Google fordert neunetz.com. +++ Dass ein netzpolitisches Dokument aus dem Bundeskanzleramt, falls es veröffentlicht würde, "Deutschland schweren Schaden zufügen" würde, hat netzpolitik.org erfahren, und zwar von höchster Stelle. Es geht ums Leistungsschutzrecht-Papiere. +++ Einen ersten Entwurf für eine "Verordnung zur Gewährleistung der Netzneutralität" des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie gibt's bei moenikes.de. +++ Von einer geplanten weiteren Versteigerung von Handy- (und damit auch Internet-) Netzen weiß die FAZ im Wirtschaftsressort. +++
+++ Auf der SZ-Medienseite geht's außerdem um den neuen Chef der Neuen Zürcher, der in Österreich als liberaler Politiker bekannt ist. +++ Und um die Frage, ob Gerichtsprozesse künftig per Kamera übertragen werden dürfen. "Die beiden Kernargumente gegen Fernsehbilder und Töne aus dem Gericht, die Karlsruhe damals", 2001, "durchdeklinierte, haben an Bedeutung nicht verloren. Das erste gilt dem Persönlichkeitsschutz. Es bedarf in Zeiten von Youtube keiner großen Fantasie, um sich vorzustellen, dass sich die Aussage eines Angeklagten oder eines Zeugen in einem Mord- oder Vergewaltigungsprozess auf den Weg durch die Weiten des Internets begäbe...", schreibt Wolfgang Janisch. +++
+++ "Selbsternannte Richter - Schattenjustiz bei Muslimen in Deutschland" heißt ein Dokumentarfilm heute im WDR-Fernsehen um 22.30 Uhr. Die TAZ und FAZ (S. 31) besprechen ihn. +++ Wie die offizielle türkische Justiz weitere soziale Netzwerke durchsuchen möchte, beschreibt der Tagesspiegel. +++ "Vor allem durch Kamera, Ausstattung und die Konsequenz, mit der ... die Grausamkeit der Wikinger erzählt" wird, sei die Serie "Vikings" sehenswert, die sich bald "gegen Gebühr (und leider unschön synchronisiert) bei der Amazon-eigenen Online-Videothek 'Lovefilm'" downloaden lässt, meint Jenni Zylka wiederum in der TAZ. +++ Auf andere Weise grausam findet Joachim Huber (Tsp.) öffentlich-rechtliches "Weißkittel-TV". +++ Dass die "Tatort"-Saison im Sommer endet wie die der Bundesliga, meinen BLZ bzw. DPA. +++
+++ "Wenn es eine Nische gibt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die so klein und versteckt ist, dass es ziemlich abwegig erscheint, sogar noch dort um Quoten zu kämpfen, dann ist es der Sonntagabend um 23 Uhr auf DRadio Wissen, dem digitalen Ableger von Deutschlandfunk und Deutschlandradio", schreibt dann noch Tobias Rüther in der FAZ. Die Einleitung lässt schon ahnen, dass auch die Nische quoten- bzw. jugendoptimiert werden soll und Alan Bangs' "Nightflight" Ende 2013 eingestellt wird. Dabei könne "man keine 'jüngere' Popmusik spielen, höchstens blödere", so Rüther. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.