Die Abschaltung

Weinende Moderatorinnen, Leute, die leichenblass ins Schwarze schauen: Stimmen und Stimmungen zur unerhörten Begebenheit der abrupten Abschaltung einer öffentlichen europäischen Rundfunkanstalt mitten in Europa.

Ziemlich oft stößt man in Berichten deutscher Medien zurzeit auf den ausdrucksstarken Begriff "Kulturkampf", bei dem viele Assoziationen und eine komplexe Begriffsgeschichte mitschwingen. Es geht vor allem um die Auseinandersetzungen in Istanbul, aber auch ums neu-alte Berliner Schloss, mit dessen Bau gerade begonnen wurde. Heute auf der Meinungsseite der Süddeutschen trägt ein Kommentar die Überschrift "Kulturkampf", der kritisiert, dass Frankreich vor Beginn der Verhandlungen über ein EU-USA-Freihandelsabkommen per Veto-Drohung die Kulturelle Ausnahme fordert (die in der SZ und anderswo aber auch schon Zustimmung erfuhr). Heute auf der Medienseite der FAZ ist im Bericht aus Ägypten, wo Islamisten öffentlich zum Mord am deutsch-ägyptischen Schriftsteller Hamed Abdel-Samad aufrufen (S. 31; Interview mit Abdel-Samad kürzlich bei SPON), von "Kulturkampf" die Rede.

[+++] Ein Kontext, in dem bisher nicht von Kulturkampf die Rede war, wahrscheinlich jedoch nur deshalb, weil der Begriff gerade schon jeweils anderweitig besetzt war: die abrupte Abschaltung eines staatlichen beziehungsweise öffentlich-rechtlichen europäischen Rundfunks, die sich am Dienstagabend in Griechenland ereignete. Die ausführlichste Chronik der laufenden bzw. zumindest der bis zum Beginn eines 24-stündigen Streiks um 21.45 Uhr Ortszeit gelaufenen Ereignisse bietet, naturgemäß nicht unbefangen, das englischsprachige Liveblog bei enetenglish.gr, Fotos, Streams und Videos sowie Tweets inklusive. Das Bei-laufender-Kamera-den-Saft-Abdrehen lässt sich z.B. hier im ZDF-Video anschauen.

Heute bietet eine Menge deutscher Universalmedien in schönster Vielfalt Berichte von dieser in Europa ziemlich unerhörten Begebenheit, die gestern noch fehlten (wobei nachzutragen wäre, dass dwdl.de schon gestern nacht einen ausführlichen Bericht über die "merkwürdigste Nacht, die das europäische Fernsehen seit vielen Jahren erlebt hat", bot).

"Um 23.11 Uhr wurde den Griechen am Dienstag schwarz vor Augen. Jedenfalls all jenen, die das Programm der drei öffentlich-rechtlichen Fernsehsender verfolgten...", beginnt Alex Rühles Schilderung in der Süddeutschen. "Leichenblass steht Nikos Oikonomopoulos in der Nacht zu Mittwoch im Raum der Sportredaktion im zweiten Stock des ERT-Hauptgebäudes in der Mesogeion-Straße. Es ist brütend heiß, die Klimaanlage läuft nicht",  diejenige Ferry Batzoglous in der Berliner Zeitung. "Schwarz. Nichts. Kein Ton, außer dem Summen des Fernsehgeräts. Kein Testbild. Keine Endlosschleife. Einfach Schwarz", wiederum diejenige Gerd Höhlers fürs Handelsblatt (für das auch ich gelegentlich schreibe und das dem Bericht im Vorspann die leicht seltsame Formulierung "Die deutschen Gebührenzahler beobachten das Experiment gespannt" vorangestellt hat).

Für die TAZ hat Eva Völpel "weinende Moderatoren" im Fernsehen gesehen und vorm Sender selbst mit der konsternierten Programmdirektorin für die Dokumentarfilmsparte und das Kulturprogramm gesprochen.

Bei aller Farbigkeit im Detail, der Tenor ist weithin ähnlich: Es gab viele berechtigte Kritikpunkte am griechischen Rundfunk; aber erstens ist diese Art der "foolhardy and unprofessional" (EBU-Direktorin Ingrid Deltenre) vollzogenen Abwicklung unwürdig, zweitens seien großteils die gleichen Parteien an den Problemen des Rundfunks schuld, die ihn jetzt abschalten wollen. Drittens könnte das womöglich gar nicht gelingen, weil gar nicht alle Parteien der Regierungskoalition dafür seien. Viertens soll der staatliche Rundfunk nicht vollständig abgeschafft, sondern durch eine Nachfolge-Institution irgendwann im August. Es ist quasi nur Sommerpause, bloß "ein Datum für die Wiederaufnahme des Betriebs" kann die griechische Regierung (FAZ, S. 31) nicht nennen.

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Zur ERT-Kritik: Auf der TAZ-Kommentarseite etwa erinnert Jannis Papadimitriou u.a. daran, wie man, als er selbst sich um Arbeit beim Sender bemühte, "bei gewissen Leuten..., am besten gleich beim Presseminister" hätte vorsprechen müssen.

"Die Großzahl der Mitarbeiter im Staatssender seien Verwaltungsangestellte ohne besondere Qualifikation - die jeweils regierenden Parteien hätten sich immer gefreut, jemandem einen solchen Versorgungsposten zuzuschanzen. Wie zu hören ist, erscheinen viele dieser Angestellten nur sporadisch an ihrem Arbeitsplatz. Manche, die dort ein Türschild haben, seien nie in ihrem Büro aufgetaucht",

hat Tobias Piller (FAZ, S. 3) erfahren, und zwar u.a. vom Italien-Korrespondenten des ERT, Dimitri Deliolanes. Auf der Medienseite ebd. berichtet Panagis Galiatsatos u.v.a. von "teuren Außenproduktionen, die bei Firmen von Verwandten des Personals landeten".  "Der Sender war lange Zeit ein unproduktiver, aufgeblähter Laden. Auch ist die Frage erlaubt, ob ein so kleines Land wie Griechenland tatsächlich 19 staatliche regionale Radiosender braucht", konzediert Alex Rühle in der SZ.

Damit zur Politiker-Kritik. Wer etwa aktuell an Missständen beim Sender schuld sei, weiß ebenfalls Rühle:

"Simos Kedikoglou, der am Dienstag so wohlfeil über den skandalösen Wasserkopf schimpfte, hat in seiner Zeit als Minister selbst 36 sogenannte Berater eingestellt. In erster Linie waren das gut aussehende Beraterinnen, darunter die Tochter eines Staatssekretärs und eine Provinzjournalistin aus seinem eigenen Wahlkreis".

Kedikoglou ist der schneidige Sprecher, der fürs Fernsehen so entschlossen das Ende der "skandalösen" Fernseh-Sendeanstalt verkündete. Dass nach Angaben eines altgedienten ERT.Moderators die von Kedikoglou angestellte Staatssekretärs-Tochter ohne journalistische Erfahrung das Zehnfache der knapp 1000 Euro verdient habe, die der Moderator nach 28 Jahren Arbeit selbst bekomme, steht dann auch noch im SZ-Artikel.

Um andererseits die bis Anfang der Woche gegenwärtige Bedeutung des Sendes zu skizzieren, nochmals der in der FAZ zitierte, seinem Sender gegenüber durchaus kritische Italien-Korrespondent: "Nur der Staatssender habe eine Meinungsvielfalt garantiert, kleine Parteien zu Wort kommen lassen, aber andererseits die nazistische Partei der Goldenen Morgenröte ausgesperrt." Um sich die historische Würde des Senders vor Augen zu führen, hilft der Associated Press-Bericht "ERT survived the Nazis and the junta but not the troika" bei enetenglish.gr.

Damit auf eine analytischere Ebene: Was könnte die in Europa, wo ERT 1950 zu den Gründungsmitgliedern der Europäischen Rundfunkunion EBU gehörte, einzigartige Sofort-Abschaltung eines öffentlichen Senders bedeuten?

Die europäischen Institutionen sind mit dem Eindruck unglücklich, sie seien schuld. "Die Kommission hat die Schließung von ERT nicht verlangt", ließ die EU-Kommission verlauten, was natürlich auch keine Distanzierung darstellt (lostineu.eu). "Der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten, Hannes Swoboda, regte sich im Europäischen Parlament auf: 'Was hat das mit Demokratie zu tun, wenn mehr oder weniger die Leute das Gefühl haben, da kommen welche aus Brüssel und sperren uns das Radio und das Fernsehen zu?'" (erneut FAZ, S. 3).

Der "brachiale, hilflose Akt" (Anna Koktsidou, tagesschau.de-Kommentar) bedeute "nun offensichtlich eine Beschneidung der freien Information" (Michalis Pantelouris in seinem Blog):

"Das ist es, was diese Krise Europas uns vor Augen führt: Dass wir Schritt für Schritt jedes Gefühl verlieren und offenbar auch verlieren sollen für das Wichtige, das Richtige. Da sind die Kosten eines Rundfunks plötzlich als Frage so dringend, dass die wichtige Aufgabe des Rundfunks hintanstehen muss."

"Die Entscheidung der griechischen Regierung könnte deshalb als Vorbild für vergleichbare Maßnahmen in anderen Krisenländern dienen", heißt es am Ende dieses Überblicksartikels bei sueddeutsche.de.

"Die Abschaltung von ERT ... zeigt vielmehr einmal mehr die Abhängigkeit eines Staatsrundfunks von politischen Verzweiflungstätern - auch und gerade in einer Demokratie", bloggt der inzwischen ja selbst öffentlich-rechtliche Steffen Grimberg im Zapp-Blog des NDR im Anschluss an ein lustiges Eingangsschläufchen mit Steffen-Seibert-Gastauftritt. Und:

"Immerhin, Griechenland steht in Südeuropa nicht alleine da."

Dieser seltsame Satz steht im Artikel des Tagesspiegel zum Thema, der ... (weiter im Altpapierkorb)
 


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+++ Also, der Tsp.-Artikel nimmt Grimbergs lustiges Eingangsschläufchen beim Wort, stellt sich ganz dumm und fragt, mit Florian Silbereisen illustriert und "die Hoffnung eines" ungenannten "Bloggers im Internet" zitierend, ob so eine Abschaltung auch in Deutschland denkbar wäre. Die Antwort entpuppt sich als doch einen Tick interessanter als vermutet:  "Im Grunde ja", denn jedes Bundesland könne für sich, "laut Paragraf 62 Rundfunkstaatsvertrag", diesen Rundfunkstaatsvertrag auch aufkündigen, "sagt ein Sprecher der Berliner Senatskanzlei". Bloß sei das "ein sehr unwahrscheinlicher Fall, zwischen den übrigen Ländern blieben diese Staatsverträge dann auch in Kraft." +++

+++ Die Kernkompetenz des Tagesspiegel besteht ja in öffentlich-rechtlichen Personalien. Und da meldet er heute hinter dem leicht missverständlichen  Satz "Das große Duell fällt aus", dass nicht, wie die Auguren zuletzt von ihren Dächern pfiffen, Thomas Roth und Ingo Zamperoni um die Nachfolge Tom Buhrows als "Tagesthemen"-Moderator konkurrieren, sondern beide sich den Posten auch teilen könnten. +++ Missverständlich, weil das richtig große Duell, das zwischen Angela Merkel und Peer Steinbrück um den Bundeskanzler-Posten, auch im Fernsehen nicht ausfällt (ebd.). +++

+++ "Kann einer SPD-Oberkommunikator werden, der noch nicht mal mit Facebook umgehen kann?" Das fragt ebenfalls der Tagesspiegel mit Blick auf Steinbrücks neuen Sprecher Rolf Kleine, der erst mal sein Facebook-Profil löschte. +++ Von einer Diskussionsrunde des Verbands der deutschen Internetwirtschaft, bei der computeraffinere, neztpolitisch interessierte Politiker aller größeren Parteien (außer den Piraten offenbar) darüber diskutierten, wo nach der Wahl Netzpolitik gemacht werden sollte, berichtet Stefan Krempl bei heise.de. +++ Wie steht noch mal die SPD zum Leistungsschutzrecht? Sie ist dafür und hat es erst möglich gemacht, habe Frank-Walter Steinmeier auf dem Kongress Deutscher Lokalzeitungen gesagt (netzpolitik.org). +++ Auf demselben Kongress wurde, allerdings erfolglos, beklagt, dass die Bundesregierung in lokalen Zeitungen zu wenige Anzeigen schaltet (SZ). +++

+++ Dass "die Zeitungen auch in der digitalen Welt ein Kommunikationsgigant seien", nämlich "mit dem gedruckten Produkt täglich fast 50 Millionen Menschen" und dazu "annähernd 30 Millionen Nutzer der Verlagswebsites" erreichen würden, sagte der Zeitungsverbandspräsident Helmut Heinen auf einem anderen Zeitungskongress. Meldet der Zeitungsverband BDZV. +++

+++ "Was Edward Snowden enthüllt hat, halten Präsident, Parlament und Gerichte für legal. Gerade darin liegt das Verstörende: dass grenzenlose Überwachung inzwischen im politischjuristischen Mainstream akzeptiert ist", heißt es im Leitartikel der Süddeutschen heute. +++ Einen "sehr ungewöhnlichen Schritt" von Google, dem dann auch  Facebook und Microsoft auf ähnliche Weise folgten, nämlich offen mehr Transparenz von der US-Regierung zu fordern, schildert knapp die TAZ. +++

+++ Gestern in einem Nebensatz, heute in einem eigenen Artikel mokiert sich die Süddeutsche-Medienseite über "Jan Josef Liefers und seinen Zynismus, in ein Kriegsgebiet zu fahren, um dann eine weltbewegende Katastrophe mit kindischen Lösungsvorschlägen zu banalisieren". Liefers war in Begleitung eines Bild-Zeitungs-Reporters in Syrien, wobei der Liefers-Content vor allem das frisch bezahlpflichtige Onlineangebot bei bild.de aufpeppen soll. +++

+++ Anhand der nun auch ins deutsche Fernsehen gelangenden ORF-Serie "Vier Frauen und ein Todesfall" betont die Süddeutsche, "dass Fernsehen oft einfach besser ist, wenn es nicht als Teil einer Fließbandproduktion entstanden ist". +++ "Der Tatortreiniger", eine der wenigen nicht als Teil einer Fließbandproduktion entstehenden deutschen Serien, soll nicht mehr (beim Vivendi-Angebot watchever.de) online vorab vermarktet werden, berichtet Jürgen Overkott (derwesten.de). +++

+++ Stimmen zum Ende des Brockhaus: ein gelehrtes Alphabet von Bernd Graff (sueddeutsche.de), ein Glösschen von Hubert Spiegel ("Wenn die reichbestückte Bücherwand die Rolex des Intellektuellen ist, dann war der Brockhaus der Rolls- Royce unter den Nachschlagewerken", FAZ). "Wer sich den 30-Bänder in der aktuellen, 21. Auflage zulegen würde, bekäme für seine 2.800 Euro ein Werk, das zwischen 2005 und 2006 erschienen ist. Der 'Deutschland'-Artikel datiert vom Oktober 2005, Redaktionsschluss irgendwann im Frühjahr - da war Gerhard Schröder noch Bundeskanzler", weiß Dietmar Bartz in der TAZ, und die "renommierte Fachredaktion" des Lexikon gibt es auch längst nicht mehr. +++

+++ Nachträge zum 100-Sendungen-Jubiläum der ZDF-Digitalsender-Talkshow "Log in": "Leider häufig konfus" sei sie (Daniel Bouhs, TAZ). Nimmt man jedoch die vermeintliche öffentlich-rechtliche "Ausgeburt von Interaktivität", Frank Plasbergs Talkshow, als Maßstab, ist "Log in" schon ganz in Ordnung (Ulrike Simon, BLZ). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.