Rund 190 arbeitslose Journalisten mehr - so lautet eine Bilanz des gestrigen Tages. Beim Spiegel hat sich, wenn man Informationen aus München glauben kann, ein Spitzenkandidat für die Chefposition herauskristallisiert, doch andererseits lässt sich auch darüber diskutieren, ob die Frage, wer neuer Chefredakteur wird, überhaupt die entscheidende ist. Außerdem: der RBB-Rundfunkrat und die vielleicht fast schon vergessene Anrufaffäre; das Problem mit der Ironie, die jeder versteht; 50 Jahre New York Review of Books.
Ein heiterer Einstieg? Ist heute natürlich nicht drin. Die Nachrichtenagentur dapd hat gestern ihren Betrieb eingestellt, und der Spiegel-Verlag hat angekündigt, das noch relativ junge wöchentliche Wissenschaftsmagazin New Scientist nicht alt werden zu lassen und als letzten Erscheinungstag den 31. Mai terminiert. 175 Redakteure der Nachrichtenagentur und rund 15 bei der Zeitschrift aus Hamburg sind betroffen.
Widmen wir uns aber erst einmal einem Journalisten, der in naher Zukunft nicht arbeitslos wird, sondern möglicherweise in Hamburg bald sogar einen neuen Arbeitsvertrag unterschreibt. Die Rede ist von dpa-Chefredakteur Wolfgang Büchner, den Focus Online als Top-Kandidaten für den Posten des Spiegel-Chefs ausgemacht hat.
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Zwei der anderen Nachfolgekandidaten, Jakob Augstein und Miriam Meckel (siehe auch Altpapier), kommen den Münchener Darstellungen zufolge mittlerweile als Kandidaten für was anderes in Frage. Es werde beim Spiegel „eifrig“ darüber diskutiert, sie zu „Herausgebern“ zu machen:
„Während Büchner für das redaktionelle Tagesgeschäft zuständig wäre, wird Meckel und Augstein zugetraut, das Magazin in der Öffentlichkeit, etwa auch in TV-Runden, gut zu vertreten.“
Es steht außer Frage, dass es sinnvoll ist, dem Neuen nicht alles aufzubürden. Das hat man auch schon so gehandhabt, als Chefredakteure noch kein multidimensionalen Aufgabenfeld hatten. Aber: Büchner ist ein weitgereister Medienkongresstourist, er hockte schon auf vielen Podien. TV-Auftritte dürften zu seinen leichteren Übungen gehören. Dafür wird man Augstein und Meckel eher nicht brauchen.
Zur Nachfolger-Debatte äußert sich auch jene Person, die den tendenziell putzigen, aber leider nur selten bestückten Stefan-Aust-Fake-Account bei Twitter betreut: „Wolfgang kann es.“ Außerdem die aus dem Urlaub zurückgekehrte Silke Burmester, die heute - obwohl gar nicht Mittwoch, also ihr Kriegsreporterin-Kolumnentag, ist - mit ihrer Kolumne in der taz am Start ist:
„Scherzkekse haben Miriam Meckel ins Spiel gebracht, die in der Schweiz was mit Medien lehrt. Das ist auch nicht fair: Kaum braucht man mal schnell einen Frauennamen, muss sie herhalten.“
Über den Gärtner Jakob Augstein schreibt die Ex-Gärtnerin Burmester auch. Was die beiden noch verbindet: Sie sind Kolumnisten bei Spiegel Online. Die ebenfalls bei Burmester und auch sonst in dieser Causa immer mal erwähnte Spiegel-Mitgesellschafterin Franziska Augstein äußert sich nicht direkt, sie zeigt sich nur „empört“ über das ganze öffentliche „Gequatsche“, das den Ruf des Hauses schädige (AFP/newsrooom.de).
Die Frage, wer demnächst an der Spitze des Spiegels steht, ist für die Zukunft des Unternehmens eher zweitrangig, meint Thierry Chervel (Perlentaucher):
„Die eigentliche Arbeit kann (...) gar nicht von den Chefredakteuren geleistet werden: Es sind vor allem arbeitsrechtliche Fragen und die Frage der Eigentumsstruktur, die beantwortet werden müssen. Der Spiegel muss den Medienwandel als interne Revolution vollziehen.“
Konkret bedeutet das, dass die Spiegel-Mitarbeiter-KG nicht für die Macher des gedruckten Spiegel reserviert bleibt. Die Online- und TV-Kollegen müssten integriert werden, fordert Chervel. „Das heißt, die Print-Leute müssen etwas abgeben.“ Droht ein Blutvergießen im übertragenen Sinne?
[+++] Die gute Nachricht, dass der oberste Posten beim Montagsblatt vergeben ist, hat der Spiegel-Verlag noch nicht verkünden können. Statt dessen haute er am Donnerstag erst einmal die schlechte raus, dass das erst im November gestartete Wissenschaftsmagazin New Scientist eingestellt wird (kress.de, Meedia). Im Blog der Redaktion steht neben der Abschiedsmeldung kurioserweise noch was Upliftendes aus den Anfangstagen („Sie sind eine kreative und engagierte Wissenschaftsjournalistin / ein kreativer und engagierter Wissenschaftsjournalist und wollen beim Launch des Magazins mitmachen, dann bewerben Sie sich hier“).
Wenn die über Ostern im Hamburger Abendblatt genannten Auflagenzahlen („im unteren fünfstelligen Bereich“) stimmen, liegen sie möglicherweise in der Region des Freitag, jener Wochenzeitung, die - um jetzt mal an den Rand der Chefredakteurs-Nachfolgedebatte zurückzuschwenken - Jakob Augstein verlegt und redaktionell führt. Man muss sich so etwas wie den New Scientist also leisten wollen. Dass es dem Blatt in den letzten Monaten gelungen ist, auf sich aufmerksam zu machen, lässt sich im übrigen auch nicht unbedingt behaupten. Kann natürlich an mir liegen, wenngleich ich in dieser Hinsicht eigentlich nicht unter Aufmerksamkeitsdefiziten leide.
Eine Pointe dieser Einstellungsgeschichte besteht darin, dass, wie in der Causa Mascolo/von Blumencron, wieder Kai-Hinrich-Renner vom Abendblatt mit seinem oben zitierten Text einiges zur Beschleunigung von Geschehnissen im Hause Spiegel beigetragen hat.
Was Positives von der Ericusspitze gibt es gerade aber doch zu vermelden, nämlich den Start eines neuen Blogs (zum Thema Datenjournalismus).
[+++] Um kurz nach 15 Uhr war klar, dass um 17 Uhr alles vorbei sein wird - so kann man die Ereignisse des gestrigen Nachmittags bei der zweimal insolvent gegangenen Nachrichtenagentur dapd zusammenfassen, die zuletzt aber eh nur noch eine Karikatur einer Agentur war, zumindest insofern, als einige Redakteure in manche Städten ihre Arbeit von zu Hause aus oder - Digitale Bohème, Digger! - aus dem Café verrichteten (siehe newsroom.de neulich). Am ausführlichsten äußert sich Claudia Tieschky in der SZ (Seite 47) zum Aus für die Agentur:
„Unmittelbarer Anlass für die Insolvenzverwalterin Petra Hilgers, nun das Ende zu verkünden, waren offenbar gescheiterte Verhandlungen mit dem letzten möglichen Investor. Die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, die Interesse an dapd zeigte, habe am Dienstag die Gespräche abgebrochen, heißt es in einer Mitteilung der Insolvenzverwalterin. Die Russen sahen wohl keine Perspektive, da ‚die Zustimmung der Gesellschafter für eine Beteiligung an der Sanierung nicht vorliegt' und es auch kein Wagniskapital gebe, um laufende Verluste zu decken, lässt Hilgers erklären.“
Tieschky blickt auch ein paar Monate zurück:
„Seitdem die Berliner Firma Anfang Oktober vorigen Jahres Insolvenzantrag stellen musste, wurden an die 100 Stellen gestrichen und Abteilungen dichtgemacht. Es war ein Kampf mit rigiden Mitteln, der guten Journalisten ihre berufliche Existenz nahm und diejenigen zermürbte, die blieben.“
Joachim Huber (Tagesspiegel) wirft ebenfalls noch einmal einen Blick in die gar nicht so weit zurückliegende Vergangenheit:
„Durch die Steigerung der Mitarbeiterzahl auf rund 300 und einer aggressiven Preispolitik sollte der Platzhirsch auf dem engen deutschen Markt, die Deutsche Presse-Agentur, einge-, wenn nicht überholt werden. Größter Coup war, als dapd nach erfolgreicher gerichtlicher Auseinandersetzung den Millionenauftrag des Auswärtigen Amtes zugesprochen bekam, der bedeutete, dass künftig nicht mehr die dpa, sondern dapd die deutschen Botschaften mit Nachrichten beliefern sollte. Spätestens im Oktober 2012 zeigte sich, dass das Ziel einer wirtschaftlich tragfähigen Vollagentur auf Sand gebaut war. Mehrere Gesellschaften im dapd-Kerngeschäft mussten Insolvenz anmelden.“
Wie Journalisten-Gewerkschafter die Sache sehen, steht zum Beispiel bei agenturjournalismus.de. Dort findet man auch einen Überblick über dapd-Untergangs- und Abschiedsmeldungen in eigener Sache.
[+++] Ist der Schriftsteller Albert Camus, neben vielem anderen, auch noch ein Visionär der Medienkritik? Jack Shafer stellt diese im Reuters-Blog in den Raum. Er zitiert Äußerungen des einst als Journalisten tätigen Camus aus dem Jahre 1946. Damals hatte er die Zeitung beschrieben, die er gern machen würde:
„It would be a critical newspaper, to be published one hour after the first editions of the other papers, twice a day, morning and evening (...) It would evaluate the probable element of truth in the other papers’ main stories, with due regard to editorial policies and the past performances of the correspondents.“
Nun gibt es eine derartige Zeitung zwar bis heute nicht, aber eine Bericherstattung, die in dieses Richtung geht, ja vielleicht doch. Um es mit Shafer zu sagen:
„Camus’ dream of real-time news analysis has largely been realized, although no single publication produces it.“
Die Fragen, die Camus vor 67 Jahren in diesem Zusammenhang stellte, lassen sich durchaus auch auf heutige Debatten übertragen.
„Do people really want to know how much truth there is in what they read? Would they buy the control paper? That’s the most difficult problem.”
+++ Oh, doch „kein Watergate an der Havel“! Unter dieser Überschrift berichtet der Tagessspiegel darüber, was gestern im Rundfunkrat des RBB zur einst sehr heiß gekochten Pressesprecher-Telefonanruf-Affäre (siehe unter anderem dieses Altpapier) gesagt wurde.
+++ Mit der Arbeit des FAZ-Herausgebers Holger Steltzner beschäftigt sich der Blog Annotazioni. „Um die Vermögensungleichheit in Europa so hinzurechnen, dass die Deutschen als vergleichsweise unvermögend erscheinen“, greife dieser auf „Zahlentricks und Manipulationen“ zurück. Er „macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt“.
+++ Das neulich bei Carta gar nicht gut weggekommene Evgeny-Morozov-Werk „To Save Everything, Click Here“ rezensiert Daniel Leisegang ebd. jetzt äußerst positiv. Die „Forderung nach einer Politisierung der Technologiedebatten begründet den aufklärerischen Wert des überaus lesenswerten Buchs“, schreibt er.
[+++] Ebenfalls bei Carta: Max Steinbeis meint, man solle Im Zusammenhang mit der Debatte um die NSU-Prozess-Presseplatzvergabe noch einmal über die von der großen Cornelia Vismann (siehe Altpapier) eingeführte „Unterscheidung (...) zwischen dem ‚theatralen‘ und dem ‚agonalen Dispositiv‘ des Rechtsprechens“ nachdenken. Über weniger theoretische Aspekte der Causa berichtet die FAZ, unter anderem über einen Appell von 55 Bundestagsabgeordneten von SPD, Grünen und Linkspartei.
+++ Zweimal Reklame in eigener Sache: Ein Text von mir zur Entwicklung bei Gruner + Jahr steht in der taz, wobei der gewesene Finanzchef Achim Twardy und der neue Produktchef Stephan Schäfer eine besondere Würdigung erfahren. Und für die Funkkorrespondenz blicke ich zurück auf das in der Karwoche bei SWR und arte veranstaltete Programm-Special „40 +: Jetzt oder nie! Fünf Tage und andere Katastrophen“ (inclusive einiger Gedankensplitter zum Niveau der Dritten Programme i.a.).
+++ Außerdem in der FK: Ist die „Finanzierung einer Stiftungsprofessur für Lokaljournalismus“, vorgesehen für die durch einen „Arbeitsentwurf zur Novellierung des Landesmediengesetzes“ auf den Weg gebrachte „Stiftung Vielfalt und Partizipation“ in NRW, wirklich koscher? „In den weiteren Beratungen über die Gesetzesnovelle könnte diese beabsichtigte Fördermaßnahme möglicherweise zu Diskussionen führen. Dass in einem Gesetz so konkret eine Stiftungsprofessur verankert werden soll, könnte unter Umständen die grundgesetzlich geschützte Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit verletzen.“
+++ Heute werden in Marl zum 49. Mal die Grimme-Preise verliehen. Das Casting-Network interviewt ausführlich Ulrich Spies, den Leiter des Grimme-Preis-Rreferats. Wie ist Marl eigentlich so? Was man heute Abend bei der 3sat-Übertragung der Preisverleihung nicht zu sehen bekommt, steht im Blog von Altpapier-Autor Christian Bartels.
+++ Uwe Wöllner, Christian Ulmens Kunstfigur, ist nicht witzig, findet der frühere Titanic-Chefredakteur Martin Sonneborn, und Katrin Wilkens findet das ebenfalls. Die journalist-Autorin kann auch mit vielen anderen Formen der im Fernsehen präsentierter Witzischkeit nix anfangen. Ihr Fazit: „Ironie, die jeder versteht, ist keine.“
+++ Morten Freidel amüsiert sich in der FAZ-Feuilleton-Glosse darüber, dass bei Film- und Theaterkritikern gerade das Wort „flirrend“ angesagt ist.
+++ Preisgekrönte Journalisten: Die frühere SZ-Modejournal-Leiterin, beim Stern als „Sibylle“ über Politik und Gesellschafterin kolumnierende und später bei der Abendzeitung als Herausgeberin fungierende Anneliese Friedmann bekommt den Henri-Nannen-Preis für ihr publizistisches Lebenswerk (dpa/Berliner Zeitung sowie SZ, Seite 47), und Carl Prine (Pittsburgh Tribune-Review) gewinnt einen Investigative Reporters and Editors’ Award für die langjährigen Recherche zu den Hintergründen an einem von US-Soldaten begangenen Mord an dreier unbewaffneten gehörlosen Jungen im Irak (Poynter, via @danieldrepper)
+++ Slate erinnert mit einigen ausgewählten Bildern an einen weiteren preisgekrönten Journalisten: den vor zwei Jahren in Libyen zu Tode gekommenen Kriegsfotografen Tim Hetherington (siehe Altpapier).
+++ Zum „Shitstorm“, den der ZDF-Reporter Béla Réthy für seine Performance beim Spiel zwischen Juventus und dem FC Bayern erntete, äußern sich Focus Online und Meedia. Beim Branchendienst nimmt „adg“ den Protest zum Anlass zur Grundsatzkritik. „Informationen vom Spielfeldrand, das der TV-Zuschauer nicht sehen kann, werden selten weitergereicht (...) Ebenso (fehlt) tiefergehendes taktisches Verständnis, das gerade im englischen TV häufig anzutreffen ist.“ Kein Widerspruch! Hätte man so ähnlich aber - leider! - auch schon vor rund 20 Jahren schreiben können, als es Meedia noch nicht gab, aber zum Beispiel dieses Buch.
+++ Mehr Fußball: Warum es in der Zeit seit gestern eine Seite zu diesem Thema gibt, erläutert Politikredakteur Bernd Ulrich ebd. in einem „Leiter“, wie die einen oder anderen von uns zu sagen pflegen.
+++ Die New York Review of Books wird dieser Tage 50 Jahre alt. Hannes Stein (Welt) disst aus diesem Anlass die „Lieblingszeitung der Salonradikalen“. Dass man bei Springers so etwas nicht mag, kann man verstehen, weil die Radikalen, die die Welt lieben, nicht in Salons verkehren. Zu kritisieren wäre an der Formulierung aber wenigstens, dass die NYRB keine Zeitung ist, sondern eine Zeitschrift. Dass Stein länger als zehn Minuten für den Artikel gebraucht hat, ist im übrigen nicht anzunehmen.
+++ Wer einen Eindruck von fiktionalem Geschichtsfernsehen aus Frankreich bekommen will: Der Tagesspiegel empfhielt „Saigon“, „den Indochinakrieg als Coming-of-Age-Geschichte“. Die FAZ hat dagegen „einen etwas zu stilisiert geratenen Spielfilm über Frankreichs Vietnam-Schock“ gesehen.
Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.