Die Unterhaltung der Agenda 2010; der wahre Gewinner und die eigentliche Sensation beim Grimmepreis. Die Internationalisierung der UMUV-Diskussion. Die Transparenz des ZDF. Und im Gerichtssaal das Handtuch-Prinzip?
Kein Grimmepreis für die Kakerlakensendung: "Marl atmet auf". Den instruktivsten Kommentar zur gestrigen Verkündung, wer dieses Jahr alles den relativ renommiertesten deutschen Fernsehpreis bekommt, hat der Tagesspiegel. Darin macht Thomas Gehringer auch deutlich, dass Überschriften à la " Dschungelcamp fällt bei Grimme-Jury durch" nicht nur den völlig normalen Sachverhalt aufblasen, dass immer irgendwelche Nominierten "durchfallen", schon weil grundsätzlich gar nicht alle Nominierten gewinnen können, sondern dass sich die Grimmepreis-Jury tatsächlich dezidiert gegen die RTL-Show ausgesprochen hat:
"'Gutes Handwerk macht noch keinen Grimme-Preis', sagte Jury-Vorsitzender Gerd Hallenberger am Mittwoch bei der Bekanntgabe der Preise in Düsseldorf. Das Format reagiere zwar auf den gesellschaftlichen Wertewandel, 'aber nicht auf eine Weise, die uns preiswürdig erschien'. Hallenberger nannte 'Ich bin ein Star, holt mich hier raus' die 'Unterhaltung der Agenda 2010'"
"Sicherlich bewegt sich die Sendereihe produktionstechnisch auf einem hohen Niveau. Aber letztlich bleibt Voyeurismus, und sei er noch so gut produziert, Voyeurismus, zumal er hier, wie viele finden, mit medial instrumentalisierter Menschenverachtung einhergeht. Andere meinen, die Show veredle sich durch ironische Brechungen und im Dschungelcamp spiegelten sich beispielhaft die Prüfungen des alltäglichen Lebens mit Freund und Feind, Liebe und Verrat, Erfolg und Misserfolg", fasst die Funkkorrespondenz diese Diskussion zusammen. Dem Preis selbst habe sie jedoch "gutgetan", weil sie"für eine "schärfere Positionierung" sorgte, meint wiederum die Jurorin Hannah Pilarczyk bei SPON.
Sonst gab's, verglichen mit früheren Grimme-Prämierungen, einige Überraschungen: einen Preis für die "erste fiktionale Eigenproduktion eines deutschen Pay-TV-Senders überhaupt", "Add a friend" (TNT Serie) etwa. "Die eigentliche Sensation ist aber: Spitzenreiter Dominik Graf geht diesmal leer aus", obwohl er mit "Das unsichtbare Mädchen" einen gewohnt hochgelobten Film am Start hatte, bzw. nicht nur einen. Weitere Verlierer seien der "aktuelle Journalismus, die Doku- und Reportage-Reihen, die alle leer ausgehen" in der Doku-Kategorie, schreibt Gehringer.
Wer strukturell betrachtet der Gewinner ist, lässt sich an den Fingern abzählen: "drei Grimme-Preise für den WDR", "drei Grimme-Preise für NDR-Produktionen", "sechs Grimme-Preise 2013 für ZDF, ARTE und 3sat", "acht Auszeichnungen gehen an ARD-Koproduktionen". Und, tataa: "Neun Auszeichnungen für die teamWorx-Produktionen 'Der Turm' und 'Der Fall Jakob von Metzler'"
Nico Hofmanns Firma ist also nicht nur der Quoten-, sondern auch der offiziell anerkannte Qualitäts-Gigant im deutschen Fernsehen. Da möchte man sich gar nicht ausmalen bzw. ist schon jetzt gespannt, wie das 2014 aussieht, wenn der Guttenberg-Film, "Verratene Freunde" und vor allem UMUV an den Start gehen werden.
[+++] Die Debatte um "Unsere Mütter, unsere Väter" ist nun auch internationalisiert, bzw. die Internationalisierung ist durch reichweitenstarke Agenturmeldungen bekannt geworden.
"'Wer erklärt den Deutschen, dass AK und SS nicht dasselbe waren?', fragt besorgt die größte polnische Tageszeitung 'Gazeta Wyborcza'. Zwar hat in Polen fast niemand den ZDF-Dreiteiler 'Unsere Mütter, unsere Väter' gesehen, doch die Kunde über die dilettantische Darstellung der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa, AK) in dem Film bahnt sich ihren Weg",
leitete der Tagesspiegel seinen Bericht über polnische Berichte und Internet-Äußerungen ein. Noch früher gab es zu diesem Thema, wie zu so einigen Themen, die in relativen Massenmedien später auftauchen, etwas bei publikative.org zu lesen.
"Mit seiner ebenso differenzierten wie schonungslosen Darstellung der Verbrechen im Krieg und der Schuld des Einzelnen hat 'Unsere Mütter, unsere Väter' also offenbar nicht nur hierzulande einen Nerv getroffen",
fasst sehr knapp das FAZ-Feuilleton (S. 29) zusammen. Dass das Nerv-Treffen international nicht nur oder kaum mit dem dreiteiligen Film zu tun haben können, sondern eher mit ähnlich schiefen wie aufmerksamkeitsstarken Sprachbildern, die UMUV zum "Meilenstein in der Erinnerungskultur der Deutschen" usw. aufbliesen (und zwar großenteils, aber nicht allein der FAZ zu verdanken sind), liegt auf der Hand.
[+++] Vom Nazizeit-Spielfilm gleich zum NSU-Prozess als einem weiteren Aspekt notwendig auch international wirkender Selbstdarstellung? Man muss ja nicht jeden Übergang nehmen, und der UMUV-Sender ZDF begeht gerade sein Halbjahrhundertsjubiläum...
Dazu hat die Funkkorrespondenz in der aktuellen Ausgabe und derzeit frei online nicht nur einen Blick in die Vergangenheit (u.a. "Der lange existierende Minderwertigkeitskomplex") und einen in die Zukunft gerichtet. Sie hat sich überdies die Anfang März relaunchte, von Intendant Thomas Bellut in Transparenz-Diskussionen gern erwähnte Subseite unternehmen.zdf.de angeschaut. Bellut sagt ja, was er verdient, könne man im Internet nachlesen. 2012 waren es also 276.713 Euro als Intendant, wozu jedoch noch einiges hinzukam:
"Bellut ist seit Anfang Februar auch Chef des Aufsichtsrats der Bavaria Fernsehproduktion, an der ZDF Enterprises mit 50 Prozent beteiligt ist. Die Tätigkeit in diesem Gremium, dem auch Norbert Himmler" - der ZDF-Programmdirektor - "angehört, wird vergütet. Aktuelle Zahlen dazu liegen nicht vor. Laut dem letzten verfügbaren Jahresabschluss der Bavaria Fernsehproduktion (Geschäftsjahr: 1.2.2011 bis 31.1.2012) beliefen sich die Bezüge des kompletten Gremiums auf 95.000 Euro",
schreibt die FK mit der Akribie, die im schnellen Medienmedien-Betrieb sonst selten ist. Mehr ZDF-Programmstoff - Stichworte: Maja (Biene), Matula (Detektiv), "Lerchenberg" (Selbstironie) - folgt später im Altpapierkorb.
[+++] Zurück zur Schnelligkeit und dem ressortübergreifend derzeit größten Medienaufreger: Relativ breaking berichtete sueddeutsche.de am ganz frühen Morgen von Ansätzen des Münchener Gerichts, "die türkischen Medien einzubinden". Barbara John, die Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der Opfer des Neonazi-Terrors, die auch bereits von der SZ aktuell interviewt worden ist, habe diese Formulierung vom Gericht gehört und das später der Passauer Neuen Presse gesagt (die in ihrem Onlineauftritt auch nur genau das schreibt). Man sieht also, was für zirkuläre Medienmechanismen schon vor Prozessbeginn im Gang sind.
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Tagesaktuell beteuert Hürriyet-Korrespondent Celal Özcan vorn auf der TAZ, dass er "bereits vor dem Akkreditierungszeitraum immer wieder beim Gericht angerufen und darum gebeten" habe, "rechtzeitig informiert zu werden, um bloß keinen Termin zu verpassen". Dass also das "Windhundprinzip", wie es die bayrische Justizministerin Beate Merk im Streitgespräch mit Heribert Prantl (SZ) nennt, gar nicht einmal eingehalten worden sei. Merk nun streitet mit Prantl ("Das stimmt doch nicht. In diesem Gesetz werden öffentliche Übertragungen verboten, aber keine gerichtsinternen"), ob eine Videoübertragung innerhalb des Gerichtsgebäudes gestattet wäre. Das Fazit der Ministerin lautet: "Das muss eindeutig und unmissverständlich geregelt werden. Aber das geht natürlich nicht mehr für den demnächst beginnenden NSU-Prozess."
Ebenfalls in der SZ, die am Prozess vor der Haustür ja nah dran ist, kritisiert Hans Holzhaider, dass das Gericht Angebote akkreditierter Medien, ihre sicheren Plätze zugunsten türkischer Reporter aufzugeben, nicht eingehen will:
"Dass das Gericht nicht einmal diese goldene Brücke betritt und sich stattdessen hinter den angeblich unumstößlichen Akkreditierungsregeln verschanzt, zeugt von einer trotzigen Wagenburgmentalität, die der Bedeutung dieses Prozesses gänzlich unangemessen ist."
Was diese Angebote betrifft, verdient die frühe, medienübergreifende Initiative des akkreditierten, nun ebenfalls verärgerten Neuen Deutschland, Aufmerksamkeit. Auch die ARD erklärte sich inzwischen bereit, einen ihrer insgesamt fünf sicheren Plätzen im Gerichtssaal abzugeben (und also von vier Plätzen aus "für insgesamt 64 Radio- und 12 Fernsehprogramme" zu berichten). Doch nach noch aktuellem Gerichtsordnungsstand dürfte so etwas nicht helfen, weil aus der Liste der akkreditierten Medien in so einem Fall wohl der erste der Warteliste nachrücken würde, der Nordbayerische Kurier. (Hier sind beide Listen bei Spiegel Online dokumentiert; man muss sich, was das Nachrücken betrifft, nummeriert vorstellen).
Alle einer Meinung in dieser Hinsicht? Auch nicht ganz. Im Tagesspiegel kommentiert Jost Müller-Neuhof, der lieber von "Rattenrennen" als von "Windhundprinzip" spräche:
"Es geht um nicht mehr und nicht weniger als reservierte Sitzplätze. Wir Deutsche nehmen das sehr ernst und sind dafür, Stichwort Handtuch-Syndrom, als Urlauber international bekannt."
+++ Die Netzpolitik bzw. "Netzgemeinde" müsse sich nicht von Sascha "Beppe" Lobo "zentnerweise Asche" auf ihr Haupt schaufeln lassen, meint Meike Laaff in der TAZ, sondern sich wie die Atomkraftgegner sehen: "Wie die Netzbewegung galten auch Umweltaktivisten lange als ein Haufen von Freaks und Fachidioten. Dann merkten eine größere Öffentlichkeit und die Politik, dass diese Nerds ein Feld beharken, das irgendwie nicht zu ignorieren ist. Bis zum Atomausstieg hat diese Bewegung ein paar Jahrzehnte und zwei große Katastrophen gebraucht." +++ Dass "die Twitterkommunikation" auch "egalitäre Interaktivität" vortäusche, wo es letztlich "nur um die Bewahrung publizistischer und politischer Hierarchien" gehe, warnt eine von Lutz Hachmeister herausgegebene Studie am Twittern interessierte Politiker (FK). +++
+++ "'Wir haben sehr vieles angestoßen. Wir haben viel gemacht'. Tatsächlich liegt die Managerin mit dieser Aussage richtig. Klar wie selten definiert sie zudem ihr Ziel für die kommenden Jahre. Sie will Gruner + Jahr zum führenden Content-Haus formen", und Alexander Becker von meedia.de ist ganz begeistert von der G+J-Chefin ihrer Strategie bzw. der "Die Regierungserklärung der Julia Jäkel" (Überschrift). Das dürfte zumindest den meedia.de-Gründungschefredakteur Georg Altrogge, der inzwischen eine klangvolle Position in einem der blühenderen G+J-Geschäftsfelder bekleidet und und weiter meedia.de-Gesellschafter ist, freuen. +++ Anderswo las man die Zahlen und Strategieerklärungen anders. Claudia Fromme befasst sich in der SZ unter der Bertelsmann-affinen Prämisse des Auspeitschens mit den G+J-Zahlen. "Gruner + Jahr ringt um seine Zukunft", schreibt Kai-Hinrich Renner (Hamburger Abendblatt) und findet den Ansatz, "Communities of Interest" "auf verlagseigenen Sites ... nicht nur jede Menge journalistisch aufbereitete Informationen, sondern auch Produkte anzubieten", interessant. +++ Toll jedenfalls, wie launig der bunte Geschäftsbericht ("Jahrbuch der Relevanz", PDF) die Abwicklung der G+J-Wirtschaftspresse beschreibt (S. 71ff : "Für andere Titel der G+J Wirtschaftsmedien, die ebenfalls von der Einstellung bedroht waren, gab es ein Happy End. So wurde BÖRSE ONLINE vom Finanzen Verlag übernommen, der mehreren der in Frankfurt arbeitenden Redakteure eine Beschäftigung am Standort München anbot..."). +++
+++ Die wachsende Misere der mediokren Eindeutschungen eigentlicher guter internationaler TV-Formate analysiert dwdl.de: "Seit sich die meisten Sender aus der Eigenproduktion von TV-Formaten längst verabschiedet haben und bei Innovation und Kreativität allein auf die Zulieferung von Produktionsfirmen setzen, fehlt dem Sender eine gewichtige Rolle in der Umsetzung." +++ Aktueller Anlass: die neue RTL-Sendung "Die Zuschauer", die Peer Schader im Fernsehblog zerlegt. +++
+++ Arno Widmann (BLZ) bleibt dabei: Die deutsche Lettre International-Ausgabe sei "die beste Kulturzeitschrift der Welt", schreibt er zum Vierteljahrhundert-Jubiläum und lobt auch das Preis-Leistungs-Verhältnis ("Die Nummer 100 hat 186 Seiten mit sehr grob geschätzt 990.000 Anschlägen Text", kostet aber nur 15,00 Euro). +++
+++ Weitere Themen der SZ-Medienseite: dass Volker Schlöndorffs "Das Meer am Morgen" unbedingt einen Grimmepreis verdient hätte; das schon jetzt wohl Halbmilliarden (Dollar) schwere Al Jazeera America-Projekt, Jan Ullrichs Tätigkeit als Eurosport-Blogger. +++ TV-Besprechungen der TAZ: die neue "Game of Thrones"-Staffel, eine neue Degeto-Ambitions-Schmonzette. +++
+++ Zum ZDF-Programm: 1.) "Lerchenberg": Ein dann "doch flotter und unterhaltsamer, wenn auch eher zahnloser Satirebrei..., gewürzt durch den Mut" (also kein "Meilenstein), meint SPON-Autor Tim Slagman. "Rätselwitzekomik, die sich so hintergründig um drei Ecken windet, dass Lerchenberg eher eine Dokuserie ist, bei der die Gags wie Ostereier versteckt sind" (SZ, S. 40). Irgendwie ist die Fernsehkritiken-Metaphorik auch nicht mehr, was sie mal war. +++ "Man muss 'Lerchenberg' also schon deshalb gutfinden, weil sonst die schlechtgelaunt-zynischen Verantwortlichen, gegen die so ein Projekt von jungen, zweifellos motivierten Leuten durchgesetzt worden ist (oder wie immer die Erzählung dazu lautet), ja Recht hätten, dass es sich nicht lohnte, was anderes zu machen als das, was man immer macht", meint Altpapier-Autor Matthias Dell bei freitag.de.
+++ 2.) Über die neue "Biene Maja" informieren die FAZ und Jan Freitag im KSTA. +++
+++ Und 3.) Matula, das Ende für "Ein Fall für zwei". "Und wie lauten nun Matulas allerletzte Worte? Es ist nur eines: 'Klasse.' Die hatte er auch" (Katrin Hillgruber, )Tagesspiegel. +++ Die letzten Worte in Heike Hupertz' schwärmerischer Claus Theo Gärtner-Hommage auf der FAZ-Medienseite indes lauten: "Den Küchenchaoten Matula hatte sicherlich auch der ZDF-Koch Johann Lafer vor Augen. Er hat Claus Theo Gärtner gerade zu 'Lafer! Lichter! Lecker!' eingeladen." Hupertz hat sich aber auch gut unterhalten mit Gärtner: "Vielen beim ZDF galt 'Ein Fall für zwei' als zu links und durch seine Anwaltsfigur per se auf der falschen Seite stehend. In einer Folge trägt der Privatdetektiv schließlich eine F.A.Z. – um sie im nächsten Papierkorb zu versenken. Da wollten sie sich einen Jux machen..." +++
Neues Altpapier gibt's wieder nach Ostern.