Wir sind ja nicht bei katholisch.de

Vielleicht war der gestrige Montag der erste, in dem sich ein Jahrtausend- (oder Halbjahrtausend-)Ereignis im Echtzeit-Internet spiegelte. Eine Flut an Papst-Content, Twitter wäre beinahe explodiert. Welche Papier-Zeitung muss man sich heute kaufen? Außerdem: das "gelobte Land für Zeitungen".

Um die beim Gang an den virtuellen Kiosk heute morgen allerdrängendste Frage zu beantworten: Nö, die Bild-Zeitung hat keinen Kracher-Nachfolger für ihre anno 2005 nach Angaben ihrer Urheber schnell "Kult" gewordene, zumindest wikipedia-fähige Kracher-Schlagzeile "Wir sind Papst!" gefunden.

Wie Sie hier bei meedia.de sehen können, lautet die heutige Schlagzeile "Keine Kraft mehr!" und ist weiß aufs rote Rückengewand des Papstes (wäre dies eine theologische Kolumne, müsste es wohl Mozetta heißen) drapiert. Links daneben ein Kommentar des stellvertretenden Chefredakteurs Alfred Draxler, Überschrift: "Wir sind Mensch!", was sich vorn auf der Bild-Zeitung nun wirklich etwas geheuchelt liest.

Ihren stärksten Reiz setzt die Bild-Zeitung eher online: "...oder wurde der Pontifex Opfer einer Verschwörung?" lautet am Dienstagmorgen die Aufmacher-Überschrift bei bild.de. Wobei "eine" noch untertrieben ist, schließlich enthält der Artikel dann noch dieses DPA-Foto mit der Bildunterschrift "Ein Zeichen von oben? In der Nacht nach dem Rücktritt schlägt ein Blitz in den Petersdom ein"...

Falls Sie ein Faible für die Boulevardzeitung haben, eine Mediengattung, die den Zenit ihrer Kraft ja ebenfalls schon länger überschritten hat: Hamburger Morgenpost, Münchener Abendzeitung und auf fast rührend berlinernde Weise sogar der Berliner Kurier machen mehr her als die Bild-Zeitung.

Und falls Sie sich zur Feier oder zum Gedenken des Tages nach dem Tag des Papst-Rücktritts unbedingt eine Papierzeitung kaufen wollen, dann besser die TAZ mit dieser Titelseite (noch größer und vermutlich dauerhafter wiederum bei meedia.de zu sehen). Wie das Hausblog schon gestern zeigte, passt sie auch optisch ziemlich gut zur TAZ-Titelseite vom Tag nach der Papstwahl. Zu verdanken ist die Zeile, anders als ihr Wortlaut vermuten ließe, der auf Facebook angetroffenen Schwarmintelligenz.

Schließlich zieht sich seit gestern mittag, 11.47 Uhr (vgl. nicht den Liveticker, sondern das " +++ Minutenprotokoll +++" des führenden deutschen Liveticker-Mediums Spiegel Online; zum Anfang in Teil 2 nach unten scrollen) ein Feuerwerk an Papst-Content jedweder Länge und Tiefe in gewaltiger Breite durch alle deutschen Medien. (Was in den Minuten vor 11.47 Uhr geschah, folgt weiter unten).

"Nur wenige Sekunden nach der Eilmeldung vom Rücktritt des Papstes explodierten die Trending Topics des Kurznachrichtendienstes Twitter förmlich", leitet tagesspiegel.de seine Twitterschau ein. Falls Sie kein Twitter-Nutzer sind: Die "Explosion" muss man sich so vorstellen, dass sich die Reihenfolge in der Liste dieser Trending Topics verändert hat, wie sie das öfters tut. Eine Twitterschau im Retrolook bietet taz.de ( "Es ist eine stehende Redewendung für nachrichtenarme Zeiten, auch in dieser Redaktion: 'Wenn heute nicht der Papst zurücktritt, wird‘s wohl ein ruhiger Tag werden'..."). Eine 190-teilige im modernen Slideshow-Format hat Carta.

Grundsätzlich ist Twitter natürlich Witz- bzw., wie taz.de sagen würde, Kalauer-orientiert. Gut ging gestern der Papst insbesondere in Kombination mit dem aktuellen Megathema Plagiate - eine "Kerbe", in die "etliche Twitter-User" "mit dem für den Kurznachrichtendienst typischen Humor" "schlugen", würde die DPA sagen), aber auch mit dem zeitlosen Metathema Lothar Matthäus (ebd.). Einen Überblick über witzigere Witze zum Papst hat Giesbert Damaschke für den ZDF-Hyperland-Blog verfasst. Eine smarte Analyse des demokratisierten Echtzeit-Humors bzw. "Lachens im Live-Web" hat das Gefällt mir-Blog auf sueddeutsche.de erstellt:

"Mit der Verbreitung von Nachrichten in Newsblogs oder Live-Tickern hat sich natürlich auch die Art verändert, wie Menschen darauf reagieren. Und dabei tritt zuvorderst die folgende Erkenntnis zu Tage: Sie halten sich selber für lustig. Niemand will mehr bis zum Abend warten, wenn ein Spät-Show-Talker humorvolle Bemerkungen zum Tagesgeschehen macht, jeder hat selber eine (vermeintlich) humorvolle Bemerkung zur Hand - jetzt!"

Insofern kein Wunder, wenn die holzverarbeitenden Medienindustrien sich dem Tempo des Live-Webs anpassen und "zwei Stunden nach Bekanntgabe der Rücktrittserklärung" schon mal das "Das Buch zum Rücktritt des Papstes" annoncieren, wie das FAZ-Feuilleton echtzeit-glossierte.

Bis zu dessen Eintreffen an den points of sale muss sich, wer vertieft in die Analysen einsteigen möchte, mit fünf Seiten in der Süddeutschen und/ oder vier Seiten in der FAZ begnügen. Wir steigen da jetzt nicht in die Inhalte ein, wir sind ja nicht bei katholisch.de (könnten freilich bei der Gelegenheit auf das umfangreiche Angebot von evangelisch.de verweisen, z.B. den Artikel von Arnd Brummer, seines Zeichens auch Herausgeber von evangelisch.de, bei Chrismon...)

####LINKS####

Einen haben wir sowieso noch, einen direkten Link aus den Medienressorts zum Top-Tages- oder, wie Alfred Draxler sagen würde, Jahrtausends-Ereignis: Die FAZ-Medienseite macht aus der gewissen Not, dass Talkshowkritiken am Morgen nach der Sendung gern geklickt werden, am Tag nach dem Morgen nach der Sendung aber aufgrund der allgemeinen Inhalte- und der besonderen Talkshowflut kaum mehr gedruckt werden können, eine Tugend. Und erweitert die Frühkritik zur Günther Jauchs Sonntags-Talkshow (Thema: "Die Glaubens-Frage: Wie lebensnah ist die Kirche?"), die unter der Überschrift "Die letzte Hoffnung des Katholizismus" gestern schon lange vor 11.47 Uhr online stand, in einen Artikel mit der fulminanten Überschrift "Wir waren Papst". Frühkritik-Autor Frank Lübberding schreibt da u.a.:

"Beim Rücktritt von Annette Schavan reichte die Erinnerung nur bis zum Freiherrn zu Guttenberg. Wer die Kirche als Institution verstehen will, muss sich diese soziologische Einzigartigkeit bewusstmachen. Sie hat fast zweitausend Jahre lang überlebt, obwohl die Kritik an der moralischen Integrität der Kirche und ihren theologischen Positionen keineswegs neu ist."

Und jetzt also, so endet der Artikel:

"Die Ankündigung eines Rücktritts auf Latein und die faktische Sprachlosigkeit in einer Talkshow – die Krise der katholischen Kirche ist offenbar. Sie ist wohl nur mit den Folgen des Auftretens Martin Luthers auf dem Reichstag zu Worms im Jahr 1521 zu vergleichen."

Also quasi ein Halbjahrtausends-Ereignis.

[+++] Immerhin, die Verkündung auf Latein spülte die lateinkundige italienische Journalistin Giovanna Chirri für einen Moment in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Sie war es, die gestern als Allererste die Rücktrittsankündigung des Papstes verstanden hatte (newsroom.de).


Altpapierkorb

+++ "Wenn es so etwas gibt wie ein gelobtes Land für Zeitungen, dann ist das Indien. Mehr als 110 Millionen gedruckte Zeitungen erscheinen dort jeden Tag", leitet die neue Medienressort-Chefin der Süddeutschen, Claudia Fromme, ihr Interview mit dem leitenden Redakteur der englischsprachigen Zeitung The Hindu, Sandeep Dikshit, ein, der den Printboom in seiner Heimat so erklärt: "Die Alphabetisierung ist der Hauptgrund. Immer mehr Menschen können lesen und schreiben, was ihnen den sozialen Aufstieg ermöglicht. Den wollen sie dokumentieren - indem sie eine Zeitung lesen." Kostengründe habe er auch ("Eine Kilowattstunde Strom kostet sieben Rupien, wenn man zwei Stunden Zeitungen lesen will, sind das schon 14 Rupien. Da ist es doch besser, sich eine Zeitung zu kaufen - die kann man wenigstens an die Nachbarn weitergeben"), sowie klimatische ("...Gedruckt wird aber weiter, allein schon wegen des feuchtwarmen Klimas. Viel zu teuer, sich ständig neue Computer kaufen zu müssen!"). +++

+++ "Wie sinnvoll man Zwangsgebührengelder anlegen kann, zeigt sich hier", auf Phoenix, meint Michael Hanfeld, "der Rest ist Alaaf und Helau": So bricht die FAZ-Medienseite 31 das Papstthema auf die alltäglichen Kämpfe herunter. +++ Falls interessiert, ob der Papst die Quoten gerockt hat: ebenfalls nö (dwdl.de). +++

+++ Der ARD-Vorabend ist eher tödlich als heiter, er "hat vermutlich in seinem zweistündigen Revier zwischen 18 Uhr und 20 Uhr mehr mediale Karrieren gekillt als Quentin Tarantinos 'Django' Gegner im Kino", schreibt der Tagesspiegel. Was so knallhart grundsätzlich anfängt, geht dann leider über ins Abfragen von Honoratioren-Meinungen anlässlich eines weiteren Krimiserienstarts. Bettina Reitz sagt "Irgendwann wird sich Qualität durchsetzen. Ganz bestimmt",  ARD-Vorabendkoordinator Frank Beckmann (dessen andere brisante Baustelle nicht erwähnt wird) sagt auch so einiges. Und Regisseur Franz Xaver Bogner denkt über die "Scripted"-Formate von RTL 2 nach: "Da fasst du dich ans Hirn, aber das ist Kult für die Jugendlichen. Mich würde ja interessieren, ob man das Ganze auch in gut machen kann...". Dass ein ungenannter "ehemaliger Vorabend-Produzent" es "skandalös findet", dass "ARD und ZDF beide mit Krimiformaten um die Zuschauergunst buhlen", verpufft ein wenig. +++

+++ Beinahe wäre ja die Top-Medienressort-Personalie des gestrigen Montags die im Juni geplante Rückkehr des u.a. für die "Wir sind Papst!"-Schlagzeile verantwortlichen Bild-Zeitungs-Chefredakteurs Kai Diekmann aus Kalifornien gewesen. Doch nun gibt's nur Meldungen. +++

+++ Neu im Netz: das LobbyPlag, exakt: lobbyplag.eu. FAZ und ausführlicher sowie die TAZ informieren über das u.a. von Richard Gutjahr initiierte Projekt. +++ Dieselben beiden Blätter besprechen auch die heutige Arte-Doku zum gleichen Thema, "Brussels Business" (20.15 Uhr). Ulrike Winkelmann (TAZ) ist nicht rundum begeistert: "Wo keine Gesichter sprechen, wird viel in schwarzen Limousinen durch nächtliche Brüsseler Straßen gefahren..., es werden etliche schwarze Buchstaben auf weißem Papier gezeigt, das aus Geräten quillt, und es laufen zahlreiche Anzughosenbeine über blanke Fußböden. Wie soll die Abwesenheit von Demokratie auch aussehen? Die mediale Ästhetik der Lobbykritik darf jedenfalls noch weiterentwickelt und besser in Szene gesetzt werden". +++ Es "ist eben keine Dokumentation über den alltäglichen Lobbyismus in Brüssel. Es ist ein klischeebeladener Film über eine vermeintliche neoliberale Verschwörung von Industriellen, die die EU jenseits jeder demokratischen Kontrolle allein für ihre Zwecke instrumentalisiert hat" (Hendrik Kafsack, FAZ, S. 31). +++

+++ "Niemand ist wirklich in der Lage, sich die Ausprägungen über alle Lebensbereiche vorher exakt auszudenken...": Das Interview mit SWR-Justiziar Hermann Eicher, der sich Rundfunkbeitrags-halber in den Gesetzgeber einfühlt, hat die BLZ aktuell-katholisch bebildert. Schließlich "jaulen" auch Bistümer wegen der Kosten "auf". +++

+++ Das ist selten: Kritik an einem Christian-Ulmen-Projekt. Die TAZ findet "Who wants to fuck my girlfriend?" "platt". +++ Jedenfalls nicht platt: das Fernsehblog bei ulmen.tv.. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.