Irre und kurze, aber auch lange und spannende Liveticker aus Berlin. Wird das deutsche Internet auf den Stand von 1996 zurückversetzt? Zumindest ist das Zeitungssterben für einen Monat ausgesetzt. Außerdem: Der GEZ-Sitz Köln zahlt derzeit nicht an die GEZ; klicken Sie die Wahrheit, solange es noch geht!
Falls jemand die fünf oder zehn irrsten Liveticker des Jahres 2013 ranken wollen sollte, dürfte er um diesen kaum umhin kommen, der gestern vormittag, eine Minuten nach Einsetzen der Berichterstattung, um 10.39 Uhr meldete:
"Himmelreich ist da, mit einem Kollegen! Sie trägt einen dunkelblauen Mantel, rotes Oberteil, grauer knielanger Rock, rote Wildlederstiefel."
53 Minuten später gab er mit "Das Frühstück ist zu Ende" seine Live-Anmutung auf. Drumrum hat bild.de aber eine Menge mehr oder minder geläufiges Laura Himmelreich-/ Rainer Brüderle-Bonusmaterial drapiert. Sowie ein Video, das in gut einer Minute Laufzeit Himmelreich und Brüderle beim Schweigen zeigt, den Sprecher referieren lässt, was Brüderle nicht vor Kameras sagte ("Sexismus ist eine Debatte, die läuft, die eine gesellschaftliche Relevanz hat", um 11.18 Uhr dem Liveticker zufolge) und einen Bild-Zeitungs-Reporter die plausible Vermutung äußern lässt, dass der Politiker auf die sonst übliche Begrüßung jedes Journalisten mit Handschlag deshalb verzichtet habe, weil dafür einfach zu viele Journalisten anwesend waren. Eben das steht auch im Text drumrum.
Dass die Bild-Zeitung ihre Videos für Menschen gestaltet, die selbst die eher kurzen Texte des Blattes nicht lesen mögen, überrascht nicht unbedingt. Wenn aber "mehr als 80 Journalisten" (Liveticker, 10.40 Uhr) bzw. "74" (BLZ/ FR) oder "fünfundneunzig Hauptstadtkorrespondenten, Männer und Frauen" (FAZ, S.2 und online) selbst auf dem Boden hocken, um bei etwas dabei zu sein, das sie überhaupt nicht interessiert, kann es der Verlagslandschaft nicht wirklich schlecht gehen.
Immerhin sind auch eine Menge Texte entstanden: karge Meldungen wie "Brüderle entschuldigt sich nicht" (SPON, stern.de; dort hieß die Meldung ursprünglich "Brüderle schweigt beharrlich"), aber auch längere Stücke, aus denen hervorgeht, dass Brüderle gar nicht schwieg, sondern bloß über etwas redete, das die große Mehrheit der gekommenen Reporter nicht interessierte. "Stattdessen redet er über den Besuch des ägyptischen Präsidenten in Berlin, über die Lage in Mali, den anstehenden Koalitionsgipfel..." (zeit.de). Auf welche Frage er das mit der Relevanz entgegnete, erfährt man aus der TAZ, die auf der Titelseite heute auch einen hübschen Meta-Liveticker (inkl. Besuch des ägyptischen Präsidenten) bringt. Aber "die Sexismus-Debatte hat diese Begegnung keinen Deut vorangebracht", schließt die BLZ/ FR ihren Bericht, beinahe so, als hätte sie so etwas erwartet.
"Es ist ein seltsames Ereignis. Berlin steht Kopf: Journalisten berichten über Journalisten. Ein normalerweise durch und durch harmloses Polit-Meeting erscheint plötzlich als wichtigstes Treffen des Berliner Polit-Betriebs. Die 'Bild'-Zeitung berichtet auf ihrer Internetseite per Live-Ticker. Maximaler Alarm. Unweigerlich ist man versucht zu fragen: 'Geht's noch?'",
meint dann auch Spiegel Online (das bei Livetickern ja ausprobiert hat, wie weit's geht) im zweiten, ausgeruhteren Stück zu diesem Topthema.
[+++] "Der Journalismus ertrinkt in einem Meer von Texten" heißt das aktuelle Journalismuszukunfts-Stück bei Carta. Dort wirft Wolfgang Michal die Ansicht einer vom "gegenwärtigen Erzähl-, Meinungs- und Softjournalismus erzeugte Überproduktionskrise" in die Diskussionen. Darüber lässt sich natürlich streiten - am Beispiel dessen, was gestern aus Raum 6.556 im Jakob-Kaiser-Abgeordnetenhaus berichtet wurde, besonders gut.
[+++] Andererseits, im Bundestag und in Livetickern von dort wurden gestern auch enorm weitreichende, hoch spannende Themen verhandelt:
"18:36 Uhr
Kauder denkt schon wieder laut: Man müsse doch vor der Verabschiedung des Gesetzes klären, wie schlecht es der Verlagslandschaft wirklich geht, 'wenn man ihr über einen Gesetzentwurf Geld zuspielt'. Je später der Abend, desto zynischer die Kommentare."
Das schrieb Johannes Kuhn im (auch wenn 18.36 Uhr in Berlin noch kein später Abend ist) lesenswerten sueddeutsche.de-Liveblog zur Presseverlags-Leistungsschutzrechts-Anhörung im Sitzungssaal 4.300.
Weitere Möglichkeiten, den turbulenten Verlauf dieser Veranstaltung unter Leitung Siegfried Kauders nachzuvollziehen: die offizielle Zusammenfassung des Bundestags unter dem kongenial treffenden Titel "Uneins über die Folgen eines Leistungsschutzrechts", der nicht direkt unparteiische ("... Vorher am Gesicht von Ensthaler zupfen und schauen, ob Kalkofe dahinter steckt") Liveblog von netzpolitik.org, eine auf Twitterbasis gestaltete 243-slidige Slideshow, das gleiche als scrollbares Storify-Dokument oder natürlich Twitter selbst mit dem Hashtag #lsr (das als Echtzeitmedium inzwischen jedoch seeehr viel Scrollen erfordern würde, um noch zum heißen Kern gestern nachmittag gelangen zu können).
Interessant in der schönen Storify-Aufbereitung: die Fotos aus Saal 4.300 (noch zwei weitere), weniger wegen spektakulärer Bildinhalte als weil Fotografieren aus irgendwelchen Gründen eigentlich verboten war (wie u.a. @marcelweiss hörte). Auch wenn der Verlauf der Diskussion schon deshalb, weil die Meinungen der geladenen Sachverständigen im Vorfeld bekannt und verföffentlicht worden waren, nicht besonders überraschte (CDU-Mann Thomas Jarzombek twitterte: "Erstaunlicherweise erklärt die eine Hälfte der Sachverständigen, das #lsr sei furchtbar, die andere findet es toll"), gab es doch neue und/ oder prägnant zugespitzte Ansichten:
"Kreutzer: Das #LSR wird ironischerweise eine Lex pro Google und pro Springer, wird aber ansonsten schaden. Ein Monopolschutzrecht also?",
twitterte @digitale_linke über etwas, das Till Kreutzer (irights.info) sagte. Beim Reinschauen in die Echtzeitmedien verfestigte sich gestern trotz hohen Unterhaltungswerts wieder der Eindruck, dass dort sehr am Rande des politischen Interesses über ein Gesetzesvorhaben hochkomplizierten Inhalts verhandelt wurde, dessen Folgen ziemlich gravierend sein dürften, die aber niemand seriös vorhersehen kann.
"Man könnte das alles längst im Wohnzimmersessel als Unterhaltungsprogramm genießen, mit einem Bildschirm, auf dem Twitter läuft. Im Sessel sitzend bräuchte man auch einen Bildschirm mit geöffnetem Browser, um die Beiträge vieler geifernder Blogger zu lesen, die im Kampf gegen das Leistungsschutzrecht längst das Florett gegen die Kettensäge eingetauscht haben. Und wichtig wären noch ein paar Tageszeitungen, in denen in den vergangenen Monaten zum Teil grob verfälschte Aussagen zum Leistungsschutzrecht erschienen sind...",
kommentiert heute Johannes Boie im SZ-Feuilleton und bemüht sich spürbar, dieses oft kritisierte Versagen der sog. Qualitätszeitungen wiedergutzumachen:
"Mehrere Verlage, allen voran der Berliner Springer-Verlag, aber auch der Süddeutsche Verlag, in dem die Süddeutsche Zeitung erscheint, möchten, dass Google für die Snippets künftig bezahlen muss. Was sich die Verlage also schaffen wollen, ist ein Geschäftsmodell per Gesetz."
Auf dem vorher von den Lobbys effektiv vorbereiteten Boden (sehr prägnant die gestrige Formulierung der Internetwirtschafts-Interessenvertretung Eco, dass im Falle einer LSR-Verwirklichung "Rechtssicherheit ...nur noch dadurch" bestünde, "dass jede Form von Suchfunktion oder Interaktivität abgeschaltet wird. Dann haben wir ein Internet auf dem technischen Stand von 1996"), um dessen Nachbereitung sich die jeweiligen Lobbys natürlich ebenfalls bemühen ("Experten stützen Leistungsschutzrecht für Presseverlage", haute der der Zeitungsverlegerverband raus), ist das Vertrauen in sinnvolle Gesetzgebung in diesem für Verlags-Geschäftsmodelle, aber auch das Internet an sich relevanten Fall auch von niedrigem Niveau aus nicht gewachsen.
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[+++] Auch ein Hintergrund der Sache: das Zeitungssterben. Im Fall einer historisch verdienstvollen, bloß in letzter Zeit verlustreichen Papierzeitung mit nominell überregionaler Verbreitung wurde es noch mal um einen Monat aufgeschoben: "Die FR wird auch den gesamten Februar über erscheinen", berichtet die Frankfurter Rundschau von ihrer gestrigen Betriebsversammlung in eigener Sache.
Es ist am Karl-Gerold-Platz noch voller gewesen als bei Brüderle. "Mindestens 300 der 500 Mitarbeiter" waren da. Noch viel mehr von ihnen werden aber wohl gehen müssen. "Fast alle Mitarbeiter in der Druckerei und im Verlag könnten ihre Arbeit verlieren - rund 400", heißt es ebd. Im Tagesspiegel klingt es nicht anders. Die TAZ hat offenbar mit einem Sprecher eines der beiden Kaufinteressenten, des türkischen Unternehmens Estetik Yay?nc?l?k geredet und die Aussage "Wir wollen die Rundschau so weiterführen, wie sie besteht. Sie ist lebensfähig" erhalten. So recht an diese Option zu glauben scheint aber auch sie nicht zu glauben und spekuliert dann lieber darüber, was der andere Interessent, die FAZ, mit dem insolventen Ex-Lokalrivalen anstellen würde.
"Als Interessent für eine reduzierte FR ist der Verlag dieser Zeitung im Gespräch",
meldet die FAZ-Medienseite 31 knapp. Sieht so aus, als würde die Frankfurter Rundschau dem fiesen Beispiel der Westfälischen aus der WAZ-Gruppe (siehe Altpapier) folgen müssen und als kostenpflichtig abonnierbares Trägermedium erhalten bleiben, bloß nicht oder kaum als Redaktion.
+++ Womöglich wird ab 1. Februar 2013 die Wahrheit nicht mehr online verbreitet. Das heißt nicht, dass ab morgen im Internet grundsätzlich die Unwahrheit verbreitet werden wird, jedoch, dass die TAZ-Satireseite nicht mehr zu klicken sei, ist zu hören. Grund seien Sparmaßnahmen der Chefredaktion bzw. Streit darum. Insofern: Klicken Sie die Wahrheit, solange das noch geht"-Hinweis am Ende, z.B. diese Reportage aus der Welt sog. soz. Medien von Christian Bartel [disclosure: ist nicht mit mir identisch]. +++
+++ Noch'n gestern dank Spiegel Online zeitweise ganz nach oben gespültes Medienthema: Die Kommunen sind gegen die neue Rundfunkgebühr. Ausgerechnet Köln will nicht mehr zahlen. Michael Hanfeld (FAZ) ließ sich von Kölns Pressesprecherin Inge Schürmann gern vom "bürokratischen Irrsinn" der (in Köln ansässigen) GEZ gern berichten ("Gelten Friedhöfe auch als 'Betriebsstätte'?"). +++ Dieses prägnanten Beispiels wegen kommentiert er vorn im Politik-Buch (S.8) so harsch wie vielleicht noch nie: "Man möchte meinen, die Sender schaufelten sich mit der neuen Totalgebühr ihr eigenes Grab. Zumindest, was ihr Ansehen betrifft". +++ Ja, sind ARD und ZDF denn daran interessiert, dass es zu unvertretbaren Belastungen der Kommunen kommt? Nein, "die Rundfunkanstalten haben keinerlei Interesse daran, dass es zu unvertretbaren Belastungen der Kommunen kommt", zitiert der Tsp. den SWR-Justitiar Hermann Eicher, und meldet auch, dass Berlin weiterhin zahlt. +++ "In Köln gibt es bereits eine Art Friedensangebot. Der WDR will der Stadt jetzt Berater ausleihen, die dabei helfen, zu einer schnellen und womöglich auch günstigen Gebührenrechnung zu kommen" (Süddeutsche, S. 25). Dass der WDR so rasch ausleihbare Berater im Haus hat, muss freilich nicht unbedingt das Vertrauen in den Umgang mit den Rundfunkgebühren stärken. +++
+++ "Wenn Journalisten ernsthafte Fragen stellen, um ihre Eindrücke zu verfeinern", könne das auch bei Wein zu später Stunde geschehen, argumentiert Andreas Petzold, einer der Stern-Chefredakteure, im Editorial zum neuen Heft, das die Sexismus-Debatte nun als Titelthema weiterdrehen möchte. Im fünfminütigen Video zum Heft macht er aber ganz guten Eindruck... +++
+++ "In Sachen Sexismus sollten die Medien sich an die eigene Nase fassen", schreibt die TAZ über einen lesenswerten, weil auf der Höhe der Medien-Gegenwart ("Es ist nicht schön, mit seinem Hinterteil durch die Presse und Comedyshows gezerrt zu werden") argumentierenden Gastbeitrag Agnes Krumwiedes, der "grünen 'Miss Bundestag'", wie die TAZ wiederum drüber schreibt. +++
+++ Die Debatte um den enorm provokanten ARD-Bücher-Entertainer Denis Scheck (siehe Altpapier vom Dienstag) hat auch Spiegel Online und den Tsp. erreicht. +++
+++ "Mein Anwalt hat sich an die Augsburger Allgemeine gewandt und gesagt, dass wir gerne die Nutzerdaten hätten, weil es verleumderisch sei, den Ordnungsreferenten der Rechtsbeugung zu bezichtigen. Wir haben lediglich Strafanzeige gestellt..." - Augsburgs Ordnungsreferent Volker Ulrich (siehe Altpapier gestern) ging auch für taz.de ans Telefon. +++
+++ "Grimme-Dschungel" (siehe ebenfalls Altpapier gestern): Die Dschungelcamp-Nominierung für einen Grimmepreis gelte nicht Dirk Bachs Tod (TAZ/ EPD/ MDR-Radio). +++ Umfassender Kommentar zur allg. Aufregung, inkl. der der Schauspielerin Katrin Sass in Markus Lanz' ZDF-Show, bei dwdl.de. Das auch dort aus rhetorischen Gründen (um die Kritiker zu kritisieren) ins Spiel gebrachte "Abendland" geriete sicher eher in Gefahr, wenn auch Lanz noch Grimme-nominiert werden würde. +++
+++ Was gestern durchrutschte, aber zur Meldung vom türkischen Interesse an der FR passt: Zumindest der ebenfalls (trotz des Springerkonzerns als Miteigentümer) insolvente Lokalsender TV Berlin, ebenfalls seit Oktober 2012 bleibt dank (deutsch-)türkischer Investoren erhalten (Tagesspiegel). +++
+++ ARD- und ZDF-Kritik auch mal wieder von Bundestagspräsident Norbert Lammert, dem in diesem Fall Dieter Graumann vom Zentralrat der Juden in Deutschland beipflichtet: Die Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus hätte live übertragen werden müssen (evangelisch.de). +++ Beim Zurückweisen mit allerlei Programmhinweisen war Peter Frey vom ZDF schneller als Volker Herres. +++
+++ Mehr Journalismuszukunft: Entweder der Stand des Zeitungssterbens oder doch bloß der wieder abgebildete zeitungsfreundliche Hund haben Thomas Knüwer so gerührt, dass er von der ganz harten Totholz-geh-sterben-Linie abwich und angesichts "der disruptiven Situation, in der sich gerade Tageszeitungen befinden", beinahe so etwas wie Mitleid zu empfinden scheint. Sein neuer indiskretionehrensache.de-Text enthält überraschende Bekenntnisse ("Ich glaube nicht an Allheilmittel und Standardlösungen..."); dass die durchnummerierten Ratschläge an die Presseverlage grundsätzlich neu klingen, lässt sich aber nicht behaupten: "6. Innovationen umsetzen". +++
+++ "Wie verrückt sind die Medien eigentlich geworden? Und wie kam es zu diesem erstaunlichen Relevanzverlust der journalistischen Debatte?" - großes Rad, das der eigentlich tief im Die Zeit-/ SPD-Milieu verankere Michael "Mike" Naumann heute im großen Aufmacher auf der FAZ-Medienseite zu drehen scheint. Titel: "Die Medien im Zeitalter der Erregbarkeit". Es handelt sich aber doch eher um eine Peer Steinbrück-Verteidigung unter besonderer Berücksichtigung von Beispielen aus Naumanns großer Zeit ("Die schnell dahingesagte politische Torheit - wie zum Beispiel der Vergleich von George W. Bush mit Adolf Hitler (Herta Däubler-Gmelin) - kann sich, wird sie einmal öffentlich, zum abrupten politischen Karriereende auswachsen. Unverzeihlich!"). Starker Schluss-Satz aber: "Das Medien-Tier wird nimmer satt." +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.