Lippenstiftgeschmack und Legitimationsbotox

Die Debatte um Rainer Brüderle geht in verschiedene Richtungen. Zum einen geht es - auch - um Politikjournalismus als Ganzes, zum anderen melden sich Anti-PC-Kombattanten zu Wort. Außerdem: endlich gefunden - die weibliche Antwort auf Udo Lattek. Noch nicht gefunden dagegen: eine neuer WDR-Intendant und ein neuer Kika-Chef.

„Warum muss bei jeder Diskussion um Sexismus Alice Schwarzer auf dem Sofa sitzen?“, fragt sich die Twitter-Nutzerin @NinaLaGrande. Man kann Günther Jauchs gestrige Runde zum Thema „Herrenwitz mit Folgen – hat Deutschland ein Sexismus Problem?“ auch noch zum Anlass für ein paar andere Fragen nehmen. Zum Beispiel: Was hatte da eigentlich dieser Gatte einer Abendblatt-Redakteurin zu suchen? Warum stammten, inclusive jenes Herrn und Alice Schwarzer, die Hälfte der Gäste aus der Kategorie Ü70? Die dritte in diesem Bunde war die ehemalige Stern-Redakteurin Wibke Bruhns (siehe Altpapier vom Freitag), die mit der Aussage „Männer und Frauen sind verschiedene Spezies“ aufwartete und, talkshowgast-technisch gesehen, wie eine weibliche Kreuzung aus 25 Prozent Arnulf Baring und 75 Prozent Udo Lattek wirkte - eine Mischung, für die der Talk-Betrieb künftig vielleicht noch Verwendung haben wird.

Laura Himmelreich, die Stern-Reporterin, die die Debatte mit ihrem Artikel über Rainer Brüderle ausgelöst hat, wollte nicht in die Sendung kommen, was Moderator Jauch offenbar nicht in Ordnung fand.

„Nachdem sie ihr eigenes Erleben so stark in ein Urteil über die Person Brüderles eingebracht hat, fehlt ihr nun offensichtlich der Mut, die Geschichte hinterfragen zu lassen“,

meckert auch Ralf Dargent in seiner Welt-Online-Frühkrititk - als seien in Deutschland Journalisten verpflichtet, ihre Artikel in Talkshows „hinterfragen zu lassen“. Und als es ob darum in solchen Sendungen überhaupt ginge.

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Statt Himmelreich saß in der Runde der frühere Abendbatt-Redakteur und heutige Stern-Chefredakteur Thomas Osterkorn (59), „der die Sendezeit (...) dazu nutze, sich als Frauen-Versteher und Sexismus-Gegner zu inszenieren“ (Melanie Mühl, faz.net-Frühkritik) - und, wie wir an dieser Stelle gern ergänzen, einmal seinen alten Springer-Polizeireporter-Charme durchschimmern ließ, als er en passant darauf hinwies, dass ja auch „unsere Freunde mit Migrationshintergrund“ in der Frauenfrage noch Nachholbedarf hätten.

Mühl lobt in ihrer Kritik Silvana Koch-Mehrin (42) und Anne Wizorek (31), die Initiatorin der #Aufschrei-Kampagne. Ihnen „und besonders Alice Schwarzer“, sei

„hoch anzurechnen, dass sie immer wieder tapfer versuchten, das Gespräch von Rainer Brüderle weg zu leiten und auf eine andere, eine wichtige Ebene zu heben: nämlich, dass über alltäglichen Sexismus (ob er nun in der U-Bahn oder im Büro geschieht) ernsthaft und sachlich diskutiert werden muss“.

Wobei hinzuzufügen wäre, dass ausgerechnet Schwarzer und ausgerechnet Koch-Mehrin ja quasi automatisch eine gute Figur abgaben - dank Bruhns halt.

Die Debatte bei Jauch spiegelte auch wider, was gestern in auf der Titelseite der WamS stand:

„Die öffentliche Diskussion hat sich längst von Brüderle und der journalistischen Ethik wegbewegt“,

konstatierte dort Annette Prosinger. Eine gekürzte Version findet sich hier - mit #Aufschrei-Tweets und anderen Reaktionen in einer eingebetteten Klickgalerie, deren grundsätzliche Fragwürdigkeit gerade im Freitags-Altpapier ein Thema war (siehe Artikel-des-Tages-Kasten).

Ebenfalls in der WamS: ein Artikel von Inga Griese, die meint, zum Besten geben zu müssen, dass sie sich „als angehende Reporterin Anfang der 80er-Jahre“ einst „geehrt“ gefühlt habe, als der damalige Ministerpräsident Uwe Barschel „bei einer CDU-Veranstaltung“ mit ihr „flirtete“. Uwe! Barschel! Man fasst es nicht. Und als reichte das nicht, schreibt sie auch noch dies:

„Irgendwann in diesen Achtzigern sagte Hans-Dietrich Genscher bei einem fröhlichen Abend in großer Runde an langen Holztischen zu mir: ‚Ich wüsste schon gern, wie Ihre Lippenstiftfarbe schmeckt.‘ Gott, haben wir geprustet. Es war für niemanden peinlich.“

Obwohl sich die Debatte bereits vom Stern-Artikel in verschiedene Richtungen entwickelt hat, ist es nicht verkehrt, mal eine genaue „Textanalyse“ vorzunehmen. Claudius Seidl (FAS) hat es getan, und in seinem Artikel steht Falsches und Richtiges.

„Wer quatscht wen an?“

ist für ihn keine unmaßgebliche Frage. Dass Himmelreich von Brüderle „wissen möchte, wie er es findet, im fortgeschrittenen Alter zum Hoffnungsträger aufzusteigen“, wie sie selbst schreibt, wirft für Seidl die Frage auf, „ob es für solche Sätze beim Stern ein Politikressort braucht“. Das sei ja eine Art „Stammtisch“-Frage. Aber da der Stammtisch und die Hotelbar einiges miteinander gemeinsam haben, spricht das ja nicht unbedingt gegen Himmelreich. Abgesehen davon: Seit wann sind blöde Fragen eine Rechtfertigung für noch viel blödere Antworten?

Aber es wird noch kruder:

„Es ist Mitternacht, es ist das Ende eines Tages, der für FDP-Leute sehr anstrengend war, und der Fraktionsvorsitzende, den man für kein politisches Genie halten muss, um seine Würde zu respektieren, trinkt ein Glas Wein, das er sich ganz bestimmt verdient hat. Und dann kommt, wie es der Stern beschreibt, eine ernste junge Dame, die, statt ein bisschen Smalltalk zu betreiben, ihm eine sehr ernste Frage stellt.“

Der arme Brüderle! Geht man nicht auch in die Hotelbar, um angesprochen zu werden? Wenn der Tag so „anstrengend“ gewesen wäre, hätte er seinen Weißwein ja auch in seinem Hotelzimmer trinken können. Wie kommen, und da ist Seidl ja nicht der einzige, Journalisten überhaupt dazu, Mitleid mit dem Repräsentanten einer Partei zu haben, in der, um es nett zu formulieren, Mitleid nicht allzu weit verbreitet ist?

Stimmig ist dagegen jene Passage, in der Seidl Grundsätzliches zum Thema Politikjournalismus sagt (siehe wiederum Altpapier):

„Um die soziale und kommunikative Struktur dieses Beisammenseins richtig einzuschätzen, muss man wissen, dass ein guter Journalist einen guten Bericht übers Dreikönigstreffen schreiben kann, ganz ohne dass er nachts noch an der Bar herumhängen müsste“.

Aber warum tun es allzu viele Journalisten dann doch? Sie

„hoffen, hier etwas über den sogenannten Menschen hinter der Rolle zu erfahren.“

Anders als Seidl findet Christiane Hoffmann (Spiegel, Seite 32), Journalisten seien „darauf angewiesen“, „Nähe mit Politikern herzustellen“. Die stellvertretende Leiterin des Spiegel-Hauptstadtbüros kam auch bei Jauch in einem Einspieler zu Wort, in dem sie „befürchtet“, Himmelreich könnte gewissermaßen die Geschäftsgrundlage von Politjournalistinnen gefährdet haben. Schließlich hat ja der notorische FDP-Rabauke Wolfgang Kubicki bereits angekündigt, „künftig Situationen wie Gespräche an der Hotelbar meiden, wenn Journalistinnen beteiligt sind“ (siehe u.a. Spiegel Online und Welt Online) - vermutlich, weil er Frauen weiterhin „Zaubermaus“ nennen will.

Hoffmann ruft uns heute auch noch aus dem Neandertal des Anti-PC-Diskurses entgegen:

„Ich habe keine Lust, in einem moralpolizeilich gesicherten Umfeld zu arbeiten.“

Wenn man einen aktuellen Publikative-Text darauf anwendet, handelt es sich dabei um einen vorhersehbaren „Gegenschlag“ der „klassischen Medien“, deren Definitionsmacht schwindet, weil sich - und das zeige sowohl die Debatte zum Sexismus als auch kurz vorher schon jene über „Israel-Hetze“ und „rassistische Sprache“ - „eine progressive Öffentlichkeit im Netz formiert, die zunehmend an Einfluss gewinnt“

[+++] Das aus der Debatte um die Causa Brüderle bekannte Motiv, Journalisten hätten es derzeit besonders auf die FDP abgesehen, findet man auch in in der aktuellen FAS. Volker Zastrow meint, dass es bei der Niedersachsenwahl eine „Zweitstimmenkampagne“ der CDU für die FDP gegeben habe, sei eine reine Erfindung, hinter der das „Interesse“ stecke, die FDP solle „im Bund nicht so stark werden wie in Niedersachsen“. Zastrow weiter:

„Die meisten (...) Erklärungen und Begründungen nach Wahlen sind so wie das Beispiel mit der Zweitstimmenkampagne: Im Kern handelt es sich um politische Forderungen, die als Sachverhaltsfeststellungen verkleidet sind. Oder um Legitimationsbotox für Falten der Autorität,“

[+++] Am Freitagmorgen haben wir hier auf einen Artikel der Funkkorrespondenz verwiesen, in dem von fünf Intendanten die Rede ist, die bei den Öffentlich-Rechtlichen in diesem Jahr zur Wahl stehen. Seit Freitagabend wissen wir, dass ein sechster Posten zu besetzen ist, weil Monika Piel beim WDR aus „persönlichen Gründen“ ihren Abschied verkündet hat. Das Medienmagazin von Radio Eins hat dazu Ruth Hieronymi interviewt, die Vorsitzende des heute tagenden WDR-Rundfunkrates. Michael Hanfeld (FAZ) beginnt den Vorspann seiner Piel-Abgangs-Analyse mit eher hämischen Worten: „Thomas Gottschalk und die Folgen“. Darüber hinaus streift er kurz das Zickenkriegsgebiet:

„Es ist kein Geheimnis, dass sich die Intendantin mit der Programmdirektorin Verena Kulenkampff nicht auf einer Wellenlänge befand.“

Und einen Bogen zum alles dominierende Thema dieser Tage schlägt Hanfeld auch noch, indem er darauf hinweist, Piel habe „sich in der inzwischen einschlägigen Zeitschrift Stern über das angeblich Pfauenhafte“ ihrer männlichen ARD-Intendantenkollegen „beschwert“.

Hans Hoff analysiert in der SZ, Seite 23):

„Mit Piels überraschender Ankündigung steht jetzt also der größte und einflussreichste ARD-Sender kopflos da, ein Nachfolger ist nicht aufgebaut. An diesem Montag sieht sich nun der für die Wahl zuständige WDR-Rundfunkrat konfrontiert mit der Anforderung, möglichst rasch die Nachfolge zu regeln. (...) Der hat unter seiner seit 2009 tätigen Vorsitzenden Ruth Hieronymi viel getan, um den Ruf des reinen Abnickergremiums oder politisch gesteuerten Wahlvereins loszuwerden.“

„Die Riege der sich anbietenden Kandidaten“ sei „eher übersichtlicher Natur“, meint Hoff. „Im  Gespräch“ sei unter anderem „die gerade erst zur BR-Fernsehdirektorin aufgestiegene Bettina Reitz“. Außerdem im Rennen laut SZ: WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn, den die taz als einzigen Kandidaten erwähnt.

[+++] Andere bevorstehende Postenwechsel in den öffentlich-rechtlichen Führungsspitzen: Der Kinderkanal hofft, aus dem Status eines Sorgenkindes (sorry für den Kalauer) endlich herauszukommen, indem er ab Sommer einen neuen Programmgeschäftsführer beschäftigt. Der derzeit wegen staatsanwaltlicher Entwicklungen beurlaubte Amtsinhaber Steffen Kottkamp (siehe Altpapier) wird nicht zurückkehren. Volker Nünning führt in der Funkkorrespondenz aus:

„Nach FK-Informationen hatten der MDR und der 44-jährige Kika-Chef bereits einen Aufhebungsvertrag geschlossen, bevor im Dezember 2012 die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft bekannt wurden. Zu welchem Termin mit diesem Aufhebungsvertrag das Arbeitsverhältnis offiziell beendet wird, war nicht zu erfahren. (...) Unbekannt sind auch die Gründe, die zu der Trennung führten. Möglicherweise sahen die MDR-Verantwortlichen keine Chance dafür, dass mit Kottkamp ein echter Neuanfang beim Kika erreichbar ist, nachdem bei dem Sender im Oktober 2010 die Betrugsaffäre um den Herstellungsleiter Marco K. bekannt geworden war.“


ALTPAPIERKORB

[+++] „Mehr als die Hälfte der deutschen Film- und Fernsehproduzenten mit finanziellen Problemen“ - das meldet der Spiegel mit Bezug auf eine Studie, die die Altpapier-Leser möglicherweise kennen.

+++ Was wird aus der FR? Im Laufe der Woche fällt eine Entscheidung. Die taz berichtet, unter anderem mit Bezug auf einen Beitrag des Hamburger Abendblatts: „Besonders die Meldung über eine mögliche Übernahme durch die FAZ dürfte die FR-Mitarbeiter nicht begeistert haben, seit Wochen stehen sie einem solchen Modell sehr skeptisch gegenüber. Zwar liegen die beiden Redaktionen nur rund vier Kilometer auseinander - politisch unterscheiden sie sich jedoch deutlich.“

+++ Ebenfalls in der taz: Jenny Zylka interviewt der früheren Radiomoderator Hugo-Egon Balder„Es gibt relativ wenig Berichterstattung über Radioinhalte, die Macher sind kaum bekannt, dabei ist Radio das einzige Medium, dessen Quoten nicht fallen oder das kurz vor dem Konkurs steht. Wieso genießt Radio keine höhere Wertschätzung (...)? - „Vielleicht fühlen sich Radiomacher selber immer ein wenig in der zweiten Reihe. Wenn irgendwo ein Event stattfindet, und alle Medien sind da, werden sie auch tatsächlich teilweise von den TV-Kollegen so behandelt. Das sind dann natürlich Leute, die keine Ahnung haben, aber das ist wirklich ein Problem: Fernsehen versaut. Radio nicht. (...) Viele Radiosendungen sind tausendmal besser als Fernsehsendungen!“

+++ Der Fight zwischen Stefan Niggemeier und dem „ahnungslosen“ Anti-ARD-und-ZDF-Kampagnero Hans-Peter Siebenhaar (Handelsblatt) geht in eine neue Runde, wobei durchaus bemerkenswert ist, dass Niggemeier, der oft als vehementer Kritiker der Öffentlich-Rechtlichen in Erscheinung tritt, sich in dieser Sache gezwungen sieht, diese zu verteidigen,

+++ Noch ein Duell: Christian Jakubetz gegen Horst Röper. Ersterer stinkt gegen die Äußerung des Zeitungsforschers an („Journalismus ist nicht mehr erstrebenswert. Ich rate allen, tut euch diesen Beruf nicht an. Die Attraktivität hat massiv nachgelassen“). Jakubetz schreibt, er habe „ein kleines bisschen Wut (...) auf den Professor Röper, der mit einer sehr plakativen und auch populistischen Äußerung mal wieder seine 15 Minuten Ruhm oder wenigstens Aufmerksamkeit bekam“.

+++ Wie Nazis das Thema Kindesmissbrauch instrumentalisieren, zeigt der Erfolg einer Facebook-Seite. Der Rheinneckarblog berichtet.

+++ süddeutsche.de gratuliert der Zeitschrift National Geographic zum 125. Geburtstag: „Die amerikanische Ausgabe kommt heute auf eine Auflage von über vier Millionen Exemplaren. Sie ist die älteste, heute noch erscheinende Monatszeitschrift, die durchgehend auf dem Markt war.

+++ Medienhistorisches auch auf der Aufmacherseite des Feuilletons in der Printausgabe der SZ: Lothar Müller würdigt Margaret Bourke-White (1904 - 1971) anlässlich einer Ausstellung in Berlin: „Durch ihre Industriereportagen fand sie Eingang in das 1930 gegründete Fortune, 1936 kam die erste Nummer von Life mit einem Titelbild von ihr heraus. Wenn sie 1940 Winston Churchill und 1941 Stalin fotografierte, waren diese Fotografien als Titelbilder in Life gedruckt.“

+++ Die am Sonnabend zuende gegangene Staffel von „Ich bin ein Star, holt mich hier raus“ war „so schlecht wie immer, aber noch schlimmer“, schreibt Matthias Kalle (Tagesspiegel).

+++ Zum Fernsehen heute: Viel Lob gibt es für den ZDF-Montagsfilm „Die Kronzeugin“, an dem „Meister Hitchcock seine Freude hätte“ (Meister Hanfeld, FAZ). Iris Berben spielt „eine Luxusnutte, die zur Luxusehefrau wurde, um dann mit ihrem Ehemann einen Luxuspuff aufzumachen, bevor sie sich dazu entschied, das alte Leben hinter sich zu lassen und gegen ihren Mann und die Russenmafia auszusagen (Kurt Sagatz, Tagesspiegel). Die SZ porträtiert Melika Foroutan, die die Kronzeuginschützerin mimt (Seite 23). Und last but not least tittelbach.tv: „ein Thriller, der unter dem Deckmantel des Psychodramas agiert. Der Film ist (...) nicht nur ein Vexierspiel auf der Beziehungsebene, sondern auch in seinen Genre-Referenzen.“

Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.