Die neue Reporter ohne Grenzen-Jahresbilanz ist da und listet mehr getötet Journalisten denn je auf. Vom Dokumentarfilm-Drehen kann man bloß nicht leben. Außerdem: eine grundsätzliche Forderung an den Onlinejournalismus.
Wenn eine Institution, die was mit Medien zu tun hat, die "höchsten Zahlen" verkündet, seitdem sie überhaupt Jahresbilanzen veröffentlicht, wenn diese Institution aber nicht längst vor allem mit Produkten wie Daten (oder, um europäische Medienfirmen nicht auszuschließen: z.B. mit Tierfutter oder Immobilien) handelt, dann muss es sich um schlechte Zahlen handeln. Die Reporter ohne Grenzen haben in der Nacht die aktuelle Jahresbilanz 2012 (PDF auf deutsch; empfehlenswerter: interaktive Version auf englisch) veröffentlicht.
Es wurden "88 Journalisten", "6 Medienmitarbeiter" und "47 Blogger und Bürgerjournalisten" getötet, heißt es in einer naturgemäß etwas merkwürdigen Unterscheidung, jedenfalls soviele wie noch nie seit Erhebung dieser Daten. Auf S. 2 beziffern die ROG die Steigerungsrate der Getöteten auf "+33%" bei den Journalisten und sogar "+840%" bei "Bloggern und Bürgerjournalisten".
Grundsätzlich ähnelt die Zahl der, die die etwas weniger bekannte Organisation Press Emblem Campaign bereits "am Montag in Genf" (DPA/ taz.de) bekannt gab. Sie sprach von "mindestens 139 Journalisten" "in 29 Ländern", die "bei oder wegen der Ausübung ihres Berufes getötet worden" sind.
Das deutschsprachige ROG-Dokument nennt in Anverwandlung des aktuellen Onlinetrends zu übersichtlichen Superlativ-Bundles "Die fünf größten Gefängnisse für Journalisten". Das sind die Staaten, die in der wieder Ende Januar zu erwartenden "Rangliste der Pressefreiheit" (hier die noch aktuelle für 2011) ganz unten stehen werden. Es handelt sich um China, die Türkei, etwas überraschend Eritrea vor dem Iran und Syrien - wiederum absteigend numerisch geordnet nach der Zahl der inhaftierten Journalisten.
[+++] Sozusagen erfreulich: Europa ist "nur" mit den in Russland getöteten Journalisten Alexander Khodzinsky und Kazbek Gekkyev vertreten. Was Wertungen für die Pressefreiheits-Charts betrifft, so dürfte aktuell die Staatsanwaltschaft Dresden für eine gewisse Herabstufung sorgen, indem sie nämlich Berufung gegen den Freispruch zweier freier Journalisten im sog. Sachsensumpf-Prozess einlegte (TAZ/ EPD). Ob auch die Auseinandersetzung zwischen Ottfried Fischer und der Bild-Zeitung (mehr unten im Altpapierkorb) da hineinspielt - wohl eher unwahrscheinlich.
Klarer jedenfalls, wie auch an dieser Stelle oft betont, dass in internationalen Vergleichen deutsche Medienschaffende lediglich unter Luxusproblemen leiden, die vor allem die Monetarisierung (um noch einen Trendbegriff des endenden Jahres zu bringen) betreffen. Das zeigt an diesem Mittwoch eindrucksvoll ein weiteres Interview mit Lutz Hachmeister, der ja schon vor zwei Wochen (siehe Altpapier) ein langes Interview mit offenen Worten gegeben hat. Damals war's epd medien, heute interviewt ihn der Tagesspiegel, und zwar zum Thema Dokumentarfilme.
"Herr Hachmeister, Sie machen seit 1997 erfolgreich Dokumentarfilme. Können Sie davon leben?",
fragt Interviewerin Sabine Sasse am Anfang.
"Nein. Das ist eher ein gefährliches Hobby. Es gibt eine Art Qualitätsfalle: Gerade wenn man aufwendig recherchiert und dreht, generiert das kein Einkommen, von dem man leben könnte",
antwortet Hachmeister, der im weiteren Verlauf noch weiter geht, nachdem Sasse von den mit Steuern finanzierten Studiengänge sprach, mit denen all die Hobby-Dokumentaristen ausgebildet wurden:
"Es ist einfach kein Beruf, jedenfalls unter den gegenwärtigen Bedingungen. Man muss auch sehen, dass viele Dokumentarfilmer mit großem Namen, wie Georg Stefan Troller, Horst Königstein, Klaus Wildenhahn oder Horst Stern, bei den Sendern fest angestellt waren. Die Transformation zu einer freieren Szenerie ist im Grunde nicht gelungen."
Interessant in dem Kontext, dass Hachmeister untendrunter außer als Dokumentarfilmer auch als "Unternehmensberater" vorgestellt wird. Wer diesen Beruf ausübt, hat natürlich immer auch neue Ideen, insofern er dann:
"Man könnte über das Netz, über Mediatheken und andere Plattformen, auch mithilfe der Filmförderung, neue Geschäftsmodelle aufbauen...".
[+++] Hach je, beim Versuch zu beziffern, wie viele sympathische und im Einzelnen völlig einleuchtende Geschäftsmodelle über das Netz theoretisch vorstellbar sind und auch bereits vorgestellt wurden, und wieviele davon tatsächlich halbwegs dauerhaft als Geschäftsmodell existieren oder existieren könnten, würde man wahrscheinlich traurig werden. Stattdessen hier lieber ein fröhlicher frischer Text von Sascha Lobo. In seiner neue SPON-Kolumne verteidigt er, ja ohnehin das personifizierteste Geschäftsmodell des deutschsprachigen Internets, gewohnt eloquent die im Internet gängige "Gratismentalität" und arbeitet, im Einzelnen völlig einleuchtend, "das derzeit wichtigste Geschäftsprinzip des Internets" heraus:
"den Verkauf von Aufmerksamkeit. Weltkonzerne wie Google, Facebook und SPIEGEL ONLINE verdienen ihr Geld mit Leistungen, die der Nutzer nur indirekt bezahlt."
Größtes Kino natürlich, wie Lobo da nonchalant seinen Auftraggeber zum Weltkonzern verklärt. Aber auch unterhaltsam, wie er gegen den Kulturstaatsminister Bernd Neumann polemisiert, der am Rande (sicher weniger aus Interesse, sondern weil das halt der Zuschnitt seines vollständig "Staatsminister für Kultur und Medien" heißendes Amtes ist) eben auch was mit Medien zu tun hat.
[+++] Damit noch rasch zu den tatsächlichen Weltkonzernen, die beim Monetarisieren der meisten oder zumindest der erfolgversprechenderen Geschäftsideen ja doch schneller sind als diejenigen, die sich hierzulande bemühen, welche in Worte zu kleiden: Erstens entspann sich gestern in den Echtzeitmedien gewaltige Aufregung um die von Facebook über den kürzlich aufgekauften Fotodienst Instagram verhängten neuen Nutzungsbedingungen. Sie laufen darauf hinaus, dass zumindest theoretisch Instagram, also Facebook die Millionen heraufgeladenen Fotos beliebig und ohne die Fotografen zu bezahlen, als Werbung verwenden kann (siehe z.B. faz.net, meedia.de, mit am instruktivsten erklärt von Patrick Beuth bei zeit.de und Marin Majica in der Berliner Zeitung).
Inzwischen gibt's jedoch eine neue Entwicklung, einen "Rückzieher" von Instagram, wie ebenfalls die BLZ nun meldet. Dass die Vorspann-Formulierung "Niemand habe die Absicht, Nutzer-Fotos zu verkaufen, erklären die Verantwortlichen" an diejenige von der nicht beabsichtigten Mauererrichtung erinnert, mag reiner Zufall sein, oder redaktioneller Input der BLZ zur DPA-Meldung.
####LINKS####
[+++] Zweitens Google. Da gibt's gar keine eigentlich neue Meldung, bloß eine interessante Analyse von Bernd Gäbler, der sich seinen aktuellen Namen ja durch weit überdurchschnittlich empirische und dennoch unterhaltsame Analysen populärer Medien-Phänomene (etwa der Fernseh-Talkshowflut oder der "Hohlen Idole" Dieter Bohlen, Heidi Klum und Daniela Katzenberger) gemacht hat:
"Scrollt man eine Woche lang täglich um 19 Uhr 50 die ersten zwanzig bis fünfundzwanzig Meldungen auf Google News durch und verfolgt anschließend um 20 Uhr die Hauptausgabe der ARD-'Tagesschau', werden die Unterschiede bewusst",
schreibt er im Tagesspiegel (als der neben Hachmeister zweite dort heute auf der Medienseite vertretene Ex-Grimme-Instituts-Leiter) anlässlich des 60jährigen Bestehens der Nachrichtensendung. Und das ist zumindest eine seeehr viel sinnvollere Würdigung des Formats als es der ARD selbst mit ihrer Sondersendung ("Peer Steinbrück, Wolfgang Schäuble, Sandra Maischberger, Günther Jauch, Campino, Dieter Nuhr und andere Prominente erinnern sich gemeinsam mit den Zuschauern...") gestern gelang und ihrem "Taa-taa ta-ta-ta-taaa!"-Onlinedossier gelingt
+++ Zurück zu Spiegel Online, diesem renommierten Weltkonzern. Anlässlich des Umgangs der Redaktion mit dem bereits im Montags-Altpapier erwähnten, begleitend zum jüngsten Amoklauf veröffentlichten Artikel "Asperger-Syndrom: Blind für die Emotionen anderer Menschen", formuliert Vera Bunse auf Carta eine grundsätzliche Forderung an den Onlinejournalismus, die man sich durchaus merken könnte: "Was die Leser von Onlinern - Journalisten wie Bloggern - erwarten können, ist, dass der Text so stehen bleibt, wie er geschrieben wurde. Dass Änderungen kenntlich gemacht werden. Dass nicht nachträglich an einem Artikel herumredigiert wird, bis die ursprüngliche Aussage verwässert ist oder dem Publikum besser gefällt." +++
+++ Ähm... Wenige Tage, bevor Steffen Grimberg offiziell beim NDR anfängt, erscheint von ihm in der TAZ das vermutlich ausführlichste und vielleicht auch freundlichste Zeitungsstück, das bisher überhaupt über die MDR-Intendantin Karola Wille ("Und dass der gesamte Mitteldeutsche Rundfunk eine Baustelle ist, weiß seine Chefin wohl am besten. Warum also nicht auch die Intendanz, wo die Handwerker es gut meinen und gleich auch noch das Parkett runderneuern, sodass die Intendantin seit ein paar Wochen ausquartiert ist. Wille wolle eigentlich bloß einen runden Tisch für ihr Büro...", heißt es unter der Überschrift "Keine für Klüngel"). +++
+++ "Dass die Pressefreiheit nicht zur Erpresserfreiheit verkommt", das will Ottfried Fischer im schon oben erwähnten, sich nun wohl bis vors Bundesverfassungsgericht hinziehenden Prozess gegen die Bild-Zeitung. Die Süddeutsche zitiert ihn auch mit der Auskunft "Seit 2009 seine Kontakte mit Prostituierten von der Boulevardpresse ausgeschlachtet wurden, 'krieg ich keine Drehbücher mehr'". +++ Gestern versuchte das Münchener Landgericht "zu klären, ob Fischer sich habe erpresst fühlen können" (FAZ, S. 29). +++ Die Regel, die Fischers Anwalt Steffen Ufer durchsetzen will, lautet: "Unter der Gürtellinie ist Schluss" (BLZ). +++
+++ Ein "langer Prozess über mehrere Instanzen" scheint auch der zunächst vor dem Berliner Landgericht verhandelte über die Frage, ob ARD und ZDF die Kabelnetzbetreiber weiterhin bezahlen müssen, zu werden (Tsp.). +++
+++ Zurück zu Facebook: Die Auseinandersetzung zwischen dem Milliardenkonzern und dem schleswig-holsteinischen Datenschutzbeauftragten Thilo Weichert, der diesem ein Bußgeld von 20.000 Euro androht ("die ein Buchhalter bei Facebook in den Bilanzen ohnehin mit der Lupe suchen müsste") und immerhin einer Entgegnung (nämlich dem Vorwurf der "Verschwendung deutscher Steuergelder") gewürdigt wurde, schildert ebenfalls die Süddeutsche: "Die Auseinandersetzung ist ein weiteres Signal dafür, dass Facebook mehr und mehr mit europäischem Datenschutzrecht aneinandergerät und ihr Ausgang wird von anderen Klägern und Facebook-Kritikern bereits mit Interesse beobachtet." +++
+++ Eine richtig gute Nachricht: "Ich verschwinde jetzt erst mal ein paar Monate vom Bildschirm und warte auf eine Erleuchtung", sagte Thommy Gottschalk der FAZ (S. 29). Was Gottschalk sonst noch so sagte, wirkt etwas wirr, wird von Michael Hanfeld aber en detail wiedergegeben ("Auch das kleine Fernsehspiel, in seiner Nähe zum Radio, reizt mich mehr denn je, denn der große Samstagabend war einmal - nicht nur für mich"). +++ Womöglich schon bald kann, wer möchte, Thommy im neuen "Kultabend" des BR-Radiosenders Bayern 3 zumindest hören. +++
+++ "Kult-" und "Kultur-" sind eher wohl Gegensätze, jedenfalls: Zur Kulturradio-Debatte meint Hans-Jürgen Krug in epd medien: "Der 'Kulturauftrag' von ARD und (irgendwann wohl auch) ZDF kann eigentlich nur trimedial verhandelt werden." +++
+++ Ferner auf der FAZ-Medienseite: "Ein Aufruf zum abschaltenden Widerstand" von Jan Wiele ("Zwei Dinge am gegenwärtigen Fernsehen können einen verrückt machen - wenn sie uns nicht vorher völlig abstumpfen lassen: der sogenannte schwarze Humor, der meistens einfach nur schlechter Humor ist, und die Beiläufigkeit einer Gewalt, die an Drastik allerdings nichts mehr ausspart"). +++ Und die Meldung, dass beim Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz eine Beschwerde gegen den neuen Rundfunkbeitrag eingereicht wurde: "Der Rundfunkbeitrag belastet nach Ansicht des Anwalts [Marcel] Séché mittelständische Unternehmen wie jenes, das er vertritt [eine Straßenbau-Firma], unverhältnismäßig." +++
+++ Die TAZ hält die schöne Form der abratenden Fernsehkritik am Leben (anhand einer "leider langweiligen Hommage" an Italo Calvino auf Arte). +++ Und line extensions zwischen Hörzu Reporter und Focus Alzheimer (welche davon aus polemischen Gründen ausgedacht ist und welche nicht, fehlt jetzt die Zeit zu recherchieren...) beglossiert ebd. die Kriegsreporterin. +++
+++ Schließlich: Sagt Moritz von Uslar: "Geld oder Liebe?" Sagt Peer Steinbrück: "Beides". Das fünfminütige Youtube-Video könnte zumindest die Einschätzungen, dass Steinbrück inzwischen schon in genug Talkshows performt hat und von Uslar damit nicht noch anfangen sollte... +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.