Und alles hat Mehrwert. Asymmetrische Auseinandersetzungen, Kommentarkultur zur Kommentarkultur, Shitstorms als deutsche Spezialität - und bald auch die Shitstorm-Watch.
Am einen Tag ist man frustriert, am nächsten startet man mit frischem Mut und einem "Alles wird so gut" auf den Lippen oder in den Fingern (also auf der Tastatur und gleich auch im Netz: dass man vieles, was man eben erst dachte, sofort publiziert hat, ist ja ein zentrales Merkmal der Digitalära) wieder durch. So sollte es wohl in jedem Beruf sein, nicht nur in den sogenannten kreativen.
So ging es auch Markus Beckedahl, als er vorgestern auf netzpolitik.org "leicht frustriert" die Krise der Kommentarkultur beklagte (siehe auch Altpapier ganz unten). Gestern, nachdem meedia.de seinen Rant (vielleicht noch nicht überall geläufig und auch gar nicht so cool gemeint, wie es vielleicht klingt) mit einer kleinen Onlinechefredakteurs-Umfrage weiteraggregiert hatte, relativierte Beckedahl seinen Kommentarkultur-Kommentar. Freute sich "über die angestoßene Debatte" und gibt dabei einen guten Überblick über Formen des Umgangs mit Kommentaren im Netz.
Die von netzpolitik.org beschlossene Reform der sieht wohl so aus:
"Wir werden ein paar Regeln aufschreiben und nochmal zur Diskussion stellen. Auf Basis dieser Regeln werden wir Kommentare auch vermehrt löschen. Dazu werden Kommentare zählen, die destruktiv sind und keinen Mehrwert bieten, weder für den Autor, noch für die Debatte oder gar für die Leser. Das wird nicht jeden freuen, aber steigert hoffentlich unsere Laune und auch die Laune der Leserinnen und Leser, wieder vermehrt die Kommentare für konstruktive Beiträge zu nutzen - die selbstverständlich auch eine andere Meinung als der Autor/die Autorin abbilden können."
Und wie es sich für ordentliche, auch mit diesem Beitrag schon wieder angestoßene Debatten gehört, zieht sie diverse, auch schon über 50 Kommentare nach sich, darunter hochwertige wie etwa diesen (Nr. 3, von @thecitizen_de), der schon weitere Kommentarkulturdebatten anstieß:
"Wer entscheidet wie, welche Kommentare 'Mehrwert' bieten? Oftmals gibt es ja das (verständliche) Problem, dass derjenige, der das entscheiden darf, Kritik an sich selbst systembedingt als ohne Mehrwert ansieht. Und sowieso: Eine (objektive, überprüfbare) Definition von 'Mehrwert' hätte ich auch gerne. :-)"
Bei der eben erwähnten meedia.de-Umfrage kam übrigens auch heraus, dass in Online-Redaktionen "zumindest hinter der Hand ...gerne und ausgiebig über Nutzerkommentare geschimpft" wird, was allerlei Kommentatoren unter Online-Artikeln aus jenen Redaktionen ja auch tun und insofern wieder eine Gemeinsamkeit darstellt. Stefan Plöchinger von sueddeutsche.de, der Visionär mit Bodenhaftung unter den deutschen Online-Chefredakteuren, kündigte ebd. an:
"Ziel ist nicht mehr, dass möglichst viele Nutzer möglichst rasch und massenhaft Kommentarfetzen unter den Text schreiben - sondern dass wir als Redaktion gut argumentierte Beiträge von Lesern herausheben, andere nach hinten stellen oder bei Pöbeleien auch löschen."
Das Berufsbild der Communitymanager, wie sich Webseiten wie netzpolitik.org sie nicht leisten können, könnte insofern in die Richtung von Kommentaraggregatoren weiterdifferenzieren...
Mit dieser, langen, Einleitung hinein in die all die asymmetrischen Auseinandersetzungen, die sonst so toben.
[+++] André Fahnemann, derzeit bekannter Günter-Wallraff-Kritiker, hat einen Blog-"Post an Hanfeld" geschrieben und dem FAZ-Medienredakteur darin mitgeteilt, warum er auf die vor dem Samstags-Artikel gestellte "ganze Reihe von Fragen" nicht geantwortet hat. Grund sei Michael Hanfelds "Lobhuddelei" für Wallraff, und dass Fahnemann sich "nicht verpflichtet" sieht, "meinem Henker noch den Strick zu flechten" - bei aller bildlichen Unstimmigkeit eine schöne Formulierung, die auf den Sprachbildfreund Hanfeld sicher Eindruck machen wird.
Außerdem schreibt Fahnemann von einem "einstündigen Telefoninterview", das er der Zeit gab und eigentlich wohl auch schon abbrechen wollte, das dann aber doch nicht tat...
[+++] Womit wir zu Michael Maier kommen, dem ehemaligen Chefredakteur der ehemaligen Netzeitung, bei der einst das Altpapier entstand. Derzeit sieht er sich als Herausgeber der Deutsch Türkischen Nachrichten in einer asymmetrischen Auseinandersetzung mit dem Spiegel. Im Altpapier gestern hieß es dazu, man müsse Maier "in Zukunft wohl ignorieren". Dass Maier beim traditionell mitternächtlichen Publizieren seiner oft mit Verve verfassten Artikel (Montag: 0.37 Uhr) wohl nicht reflektierte, dass er eine Scientology-Fangfrage seiner Gesprächspartner (in einer Art Interview, das er irgendwie auch abbrechen wollte) oder sowieso so einiges besser hätte weglassen sollen, muss aber nicht für den Spiegel sprechen.
Was Maier heute (1.19 Uhr) angekündigterweise gegen den Spiegel vorbringt, muss allerdings ebenfalls nicht gegen das Magazin sprechen. Vielleicht spricht es auch einfach für sich selbst: "'Spiegel'-Reporter bedroht bei Recherche zwei muslimische Frauen" lautet die auch am Artikelwortlaut selbst gemessen reißerische Überschrift.
Weiter unten bemüht sich Maier dann ostentativ um Sachlichkeit ("Es ist außerordentlich erstaunlich, dass es offenbar beim Spiegel gängige Praxis ist, dass Redakteure irgendwo bei unbeteiligten Bürgern anrufen und sich nicht anders legitimieren als über das Telefon. Woher hätten die Angerufenen wissen sollen, dass der Anrufer wirklich vom Spiegel ist?..."), ohne freilich das Pathos zu vernachlässigen ("Die Spiegel-Chefredaktion wäre verpflichtet gewesen, genau hinzuschauen, bevor sie den Kollegen ins Feuer schickt"). Wer sich eine Meinung bilden möchte, sollte das aber schon tun können.
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[+++] Schön wäre in dieser Sache wie auch in einigen anderen "so eine Art Shitstorm-Watch, ein virtueller Mediator", wie ihn Gunnar Sohn via Christoph Kappes auf theeuropean.de vorschlägt. Kappes ist "Internetberater", unterscheide sich allerdings von anderen "Beratungs-Gichtlingen" offenbar durch besseren und wohl auch preiswerteren Rat und wurde von Sohn zum Thema Shitstorms befragt. Dabei sagte er,
"zudem sei das Ganze ein deutsches Phänomen. Denn das Wort 'Shitstorm' würde es im angelsächsischen Sprachraum mit dieser Bedeutung nicht geben."
Am Ende plädieren Kappes und Sohn dafür, ihre Shitstorm-Watch mithilfe "entsprechender Software und eines pluralistisch besetztes Autorenteam" zu realisieren und "über eine Crowdfunding-Aktion [zu] finanzieren". Vielleicht wäre das zumindest sinnvoller, als über Crowdfunding das Grundeinkommen des Piratenpartei-Generalsekretärs Johannes Ponader zu finanzieren. Darüber berichten heute die FAZ-Medienseite (womit heute überm Strich zumindest eine Papierzeitung im Altpapier zitiert ist) und frei online auf netzpolitik.org wiederum Markus Beckedahl - mit Freude an kräftigen Kommentaren. Und mit noch einem Christoph Kappes-Zitat ("...Es gibt Ecken des Internets, da schlägt die Diskurskultur solche Blüten, dass man es eigentlich Habermas persönlich vorführen müsste").
[+++] Vielleicht die asymmetrischste Auseinandersetzung überhaupt im Moment: die um Julian Assange (siehe zuletzt Altpapier vom Freitag). Ein Update zur Faktenlage, das auch erklärt, wieso die Super-Binse, dass ein europäisches Land niemanden in die USA ausliefert, dem dort die Todesstrafe droht, zur Top-Nachricht avancieren konnte, bietet heise.de.
Einen lesenswerten Kommentar zur deutschen Kommentierung des Themas hat Ansgar Mayer für Carta verfasst. Ursprünglich als Kommentar zu einem Kommentar Karsten Polke-Majewskis auf zeit.de, plädiert er dafür, in dieser Debatte, die wie so viele aktuelle (zumal im Internet kursierende) Debatten verzwickt, ist,
"drei Dinge auseinanderzuhalten:
- die Person Julian Assange
- die Vorwürfe wegen sexueller Misshandlung und Vergewaltigung
- die Entwicklung von Wikileaks."
So schlicht, so überzeugend: "Dinge auseinanderhalten" sollte in jedem der regelmäßig aufgelegten, manchmal umbenannte Zehn-Thesen-zum-Onlinejournalismus-Artikel zumindest vorkommen.
+++ Geballten geldwerten Mehrwert gibt es gerade auf ftd.de abzusahnen. Zum Einen enthüllt Bernhard Hübner "exklusiv" "Axel Springers altmodisches Online-Erfolgsgeheimnis". Der Kauf der "biederen, aber erfolgreichen Seite meinestadt.de" (u.a. von einem Holtzbrinck-Unternehmen) bildet den Anlass. Für alle, die keine Zeit haben, hier das Geheimnis in Kurzform: "Statt in neue Technologien und Geschäftsmodelle" investiere Springer "in Rubrikanzeigenportale. Die Anzeigen für Immobilien oder Jobs gehörten in gedruckter Form jahrzehntelang zu den Haupteinnahmequellen der Zeitungen - bis die Anzeigenkunden auf billigere Internetmarktplätze abwanderten." +++ Zum anderen direkt untendrunter: "Bezahl-Inhalte Das Erfolgsgeheimnis der 'New York Times' im Internet". Hier allerdings zieht die FTD die Spendierhosen aus bzw. nutzt das NYT-Erfolgsgeheimnis gleich selbst. Kaum geht es im Artikel um den Boom der sog. "Bezahlschranken", wird der Artikel kostenpflichtig. +++
+++ ARD, 20.15 Uhr, Schauplatz Leverkusen, aber kein Fußballspiel, sondern ein Fernsehfilm vom Stefan Krohmer und Daniel Nocke. "Haarsträubend. Schier sensationell." "Als wär’s ein Film der Coen-Brüder", schwärmt Joachim Huber im Tagesspiegel. +++ "Es hätte nicht viel gefehlt, und der ganze Film wäre zum Absturz ins Alberne verdammt gewesen. Aber die souveräne Regie und die mit großem Ernst agierenden Schauspieler...", lässt Klaudia Wick (BLZ) etwas Luft heraus. +++ "...ein fieser, richtiggehend böser Film und eine brüllkomische, tiefschwarze Komödie dazu", lässt Heike Hupertz (FAZ) wieder Luft hinein. +++ "Doch die feine Ironie des Films wird nicht jeder verstehen", sorgt sich die TAZ. "Riskante Patienten" heißt der Film übrigens. +++
+++ Teamworx verfilmt für Sat.1 "den Liebesroman 'Herztöne' der Kolumnistin und Buchautorin Katja Kessler... Die Hauptrolle der Klatschreporterin Lissie Lensen wird von Jennifer Ulrich gespielt", vermeldet exklusiv die Süddeutsche. +++
+++ Der gespannt erwartete Krimi von Kesslers Journalistenkollege Thomas Steinfeld, auch bekannt als Per Johannson, ist jetzt draußen. Gerrit Bartels macht im Tsp. Leselust: "Hauptthema dieses Krimis: die Gefahren, die der Welt durch Börsenspekulanten, die Allmacht der Märkte und den computergesteuerten Finanzverkehr drohen - und durch Kriege, die virtuell ausgetragen werden. Lehman, Cyberterrorismus, Wikileaks, you name it – und als Kontrapunkt dazu: die schwedische Idylle, vor der die Globalisierung nicht halt macht. Der Wintersturm, der Schonen dann heimsucht und die Existenz schwedischer Bauern und Waldbesitzer bedroht, ist die etwas dick aufgetragene Metapher für diese heftig in Bewegung geratene Welt... " +++ Die TAZ-Kriegsreporterin hat nur einen kleinen Seitenhieb für Steinfeld ("Roman, in dem man sich all den Kleinscheiß von der Seele schreibt, den man sich sonst nicht zu sagen traut"), die meisten Hiebe bekommt "Günni", ihr "Assistent".+++
+++ Wo viele Journalisten real ermordet werden: in Mexiko. Der Tagesspiegel stellt Lydia Cacho vor, die nun doch aus ihrer Heimat geflüchtet ist und "sich an einem unbekannten Ort auf[hält], vermutlich in Spanien". +++
+++ Die kürzlich verstorbene Susanne Lothar ist heute im selben Szenenfoto aus dem Film "Staub auf unseren Herzen", ihrem letzten, groß auf den Medienseiten von SZ und FAZ zu sehen. Anlass: der First Steps-Preis, den dieser Film gerade bekam. +++
+++ Von einem Pressegespräch des Marktanteils-Shootingstars "ZDFinfo" (von 0,1 auf 0,4 Prozent in nur einem Jahr) berichten Süddeutsche und Tagesspiegel. +++
+++ Die gestern rumgegangene Dieter-Moor-Sache beglossiert die FAZ so: "Wenn der letzte Beitrag des von ihm moderierten Kulturmagazins 'ttt – titel thesen temperamente' in der ARD zu Ende geht, steht er bereit, ein Lächeln im markanten Gesicht. Die Witze, zu denen er dann anhebt, sind keine billigen Gags, sondern geschliffene Sprachspiele, Nachweise gewissermaßen, dass er zu Recht im Kulturfernsehen auftritt..." Insofern sei trotz Entschuldigung doch sein Ruf "beschädigt": "Ein Plagiator ist er wohl nicht, aber, wie jetzt alle wissen, schreibt er seine Witze nicht allein." +++
+++ "Der 'Stern' stand meistens, steht häufig und sollte immer dafür stehen, Modernität und Avantgarde innerhalb des bürgerlichen Mainstreams abzubilden." ... "Printmedien werden immer mehr zu Luxuskonsumgütern, in dem Sinne, dass wir sie nicht brauchen, sondern haben wollen. Es geht nicht mehr nur um das Stillen von Bedürfnissen, zum Beispiel das Nachrichtenbedürfnis, sondern es geht auch um das Wecken von Begehrlichkeiten." - Da hat Herr Wichmann vom Stern dem geduldigen meedia.de-Chefredakteur Georg Altrogge ein Interview gegeben. +++
+++ Und auf den feinen Humor der Kieler Nachrichten ("Von Boetticher bald Jugendschützer?") wies uns ein norddeutscher Leser hin. Neu daran (im Vergkleich zum SZ-Bericht gestern), dass gar "in Medienkreisen von Boetticher gute Chancen für den Vorsitz im Medienrat eingeräumt" würden. +++ NACHTRAG: Allerdings hat er es nicht einmal "auf die Vorschlagsliste für den Medienrat" geschafft (welt.de). +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.