Am Rande des Masochismus

arte zeigt 222 Minuten Proust, die FAS zitiert einen NS-Schreibtischtäter, ohne seinen Namen zu erwähnen, und in Mexiko ist Journalistenmord eine Art Sport geworden. Außerdem: Zeigen die SWR-Rundfunkräte heute dem Intendanten die Werkzeuge?

Jetzt, da die EM fast vorbei ist, bietet sich noch einmal ein Anlass zu fragen, was das Personal der Fußball- TV-Berichterstattung von dem unterscheidet, das das Geschehen in anderen Sportarten präsentiert und manchmal vielleicht sogar erklärt. Dem Tagesspiegel ist aufgefallen, dass bei der EM, abgesehen von der im „Morgenmagazin“ zu sehenden Nia Künzer, als TV-Experten ausschließlich Männer auftreten. Deshalb hat sich Nico Schmidt mal umgehört. zum Beispiel bei ZDF-Sportchef Dieter Gruschwitz:

„Bei der Bewertung und Analyse von Frauen - und Männerspielen sind unterschiedliche Maßstäbe anzusetzen“,

sagt er, und deshalb kämen ehemalige Nationalspielerinnen nicht infrage. Schmidt bemerkt dazu:

„Diese strikte Trennung der Experten-Geschlechter gibt es in keiner anderen Sportart. Franziska van Almsick kommentiert seit 2005 die Leistungen deutscher Schwimmerinnen und Schwimmer, die frühere Biathletin Kati Wilhelm analysiert die Herren- und Damenstaffel und Katarina Witt kommentiert große Wettkämpfe der Eiskunstläuferinnen und -läufer bereits seit über 20 Jahren.“

Etwas besser als an der Fußballexpertenfront sieht es in Sachen Frauenquote dagegen künftig an den Ressortspitzen des Spiegel aus. Drei Frauen rücken dort demnächst in Führungspositionen vor, berichtet meedia.de.

[+++] Bereits in einer Führungsposition befindet sich Carolin Neumann, und zwar beim Debattenportal vocer.org. In ihrer aktuellen Kolumne für die Telekommunikationsunternehmensplattform bluewin.ch konstatiert sie ein Missverhältnis bei den Reaktionen auf den „Wunsch, öffentlich zu leiden“. Neumann ist aufgefallen, dass Medienmenschen, die im Netz eigene schwere Krankheiten ausbreiten - wie Jeff Jarvis und, kürzlich, Mark Glaser - eher positive Reaktionen bekommen, Offline-Prominente für ähnliches Verhalten in den alten Medien dagegen negative.

„Wenn sich eine recht bekannte Schauspielerin Jahre nach ihrem Schlaganfall an eine Boulevardzeitung wendet, um ‚erstmals öffentlich‘ über ihr Schicksal zu sprechen, oder lässt eine an Alzheimer erkrankte Fussballberühmtheit ein Buch über das drohende Vergessen veröffentlichen, folgt schnell die Frage nach den Beweggründen. Selbst wenn sie in Wirklichkeit aus ähnlicher Motivation wie Jarvis oder Glaser die Öffentlichkeit suchen, wird ihnen im ersten Moment zum Nachteil ausgelegt, dass sie ihre Geschichte nicht für sich behalten haben. (...) Wenn sich jemand an die Yellow Press oder - weniger verrucht - an eine angesehene Talkshow wendet, ist nicht die Rede davon, dass dies vielleicht einfach einem möglichen Zukunftsszenario entspricht.“

[+++] Eine Causa mit recht vielen medienjournalistischen Aspekten entblättert das Monatsmagazin konkret in seiner Juli-Ausgabe. [Disclosure: Ich schreibe seit Jahren sporadisch für konkret und bin in der aktuellen Nummer mit einem Text zu einem anderen Thema vertreten, siehe weiter unten im Altpapierkorb]. Der Heidelberger Wissenschaftshistoriker Philipp Osten kritisiert in seinem Beitrag, wie Philip Eppelsheim, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS), dort kürzlich in einem anlässlich des 75. Jahrestag des Absturzes des Luftschiffs Hindenburg erschienenen Artikel mit Quellen umgegangen ist. Osten schreibt:

„Etwa ein Viertel seines Beitrags schrieb der Redakteur des politischen Teils aus dem Buch ‚Kabinenjunge Werner Franz vom Luftschiff Hindenburg‘ ab, das der SA-Standartenführer Walter Freiherr von Medem (1887–1945) 1938 im Auftrag des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda verfasst hatte. (...) Mehr als 80 Zeilen übernahm er wörtlich. Den Hinweis auf ihren Urheber sparte er sich.“

So fehlte in dem Text zwangsläufig auch der Hinweis auf von Medems mörderisches Wirken als „Gebietskommissar“ in Lettland - ebenso wie im Eintrag zu ihm bei Wikipedia, der sich auf dessen publizistische Karriere beschränkt (Da muss die Crowd wohl noch mal ran!). Ich habe die Causa für die taz aufgegriffen - und mir hat Eppelsheim, der kürzlich für so eine Art Furore sorgte, als er sich als Kröte verkleidete, um Günter Wallraff zum Geburtstag zu gratulieren (jaja, manchmal sind sie richtig crazy, die allgemeinen Frankfurter). auch geantwortet. Auf eine Anfrage Ostens hatte der FAS-Redakteur indes geschrieben, er habe diese an den Justiziar des Hauses weitergeleitet - obwohl es in der Angelegenheit gar nicht um rechtliche Dinge geht, sondern um den journalistischen Umgang mit Quellen.

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[+++] Sehr gespannt ist Michael Hanfeld (FAZ, Seite 37) darauf, wie sich heute die im SWR-Rundfunkrat hockenden Politiker verhalten. In der aktuellen Sitzung geht es unter anderem darum, ob Intendant Peter Boudgoust seinen „als konservativ geltenden“ Wunsch-Programmdirektor, den derzeit noch bei arte waltenden Christoph Hauser, durchbekommt:

„Hauser im Rundfunkrat abzuschießen würde bedeuten, dem Intendanten sehr deutlich die Werkzeuge zu zeigen, was sich die Landesregierungen eigentlich nicht leisten können. Gerade die Regierung Kretschmann hat beteuert, sie wolle sich nicht im üblichen Parteipostengeschacher üben. Daran darf man sie messen.“

Um die Orchesterfrage, also die geplante umstrittene Fusion zweier SWR-Orchester (siehe Altpapier), geht es bei der Sitzung auch. Mit dieser beschäftigt sich die Regionalpresse (Südkurier, Badische Zeitung) ausführlich.

[+++] Das am breitesten auf den Medienseiten behandelte internationale Thema ist heute die lebensgefährliche Situation der Journalisten in Mexiko. Die traurige Tatsache, dass Drogenbusiness-Dienstleister und Sicherheitskräfte „allein in diesem Mai“ neun Medienschaffende ermordeten, hat die SZ zum Anlass genommen, Rafael Rodríguez Castaneda, den Chefredakteur des politischen Magazins Proceso, zu interviewen. Der sagt:

„In einigen Regionen geben viele Reporter auf. Aber der Drogenhandel besitzt eine Attraktivität am Rande des Masochismus. Bei Proceso hat noch niemand abgelehnt, das Thema zu covern.“

Die FAZ stellt auf ihrer Medienseite unter dem Titel „Allein gegen die Öl-Mafia" Castanedas nach Deutschland geflohene Journalistin Ana Lilia Perez vor, und in der taz tut dies Fatma Aydemir, die ihre Protagonistin mit folgenden Worten zitiert:

„Ein Auftragskiller ist so billig in Mexiko, dass Journalisten zu ermorden zu einem Sport geworden ist."

[+++] Uneinigkeit herrscht vor über die Qualität der 222 Minuten langen Verfilmung von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, die heute bei arte zu sehen ist. Im Tagesspiegel jubelt Joachim Huber über „feingeistiges Fernsehen für den sensitiven Zuschauer“ und gibt sich poetisch ambitioniert:

„Der Film, nicht eben rasant inszeniert, hat den Charakter und die Güte eines Werks, das zwar einem Regentropfen nicht beim Fallen zusieht, wohl aber die Welt wie durch einen Regentropfen betrachtet.“

Auch das Hamburger Abendblatt freut sich („Proustianer werden ... an der Verfilmung Vergnügen finden“). Johannes Willms scheint dagegen kein „sensitiver Zuschauer“ zu sein, jedenfalls urteilt er in der SZ harsch, die Version von Regisseurin Nina Companéez sei noch ärgerlicher als die auch bereits misslungenen Verfilmungen:

„(Deren) Schwächen (...) werden hier nicht einfach nur verdoppelt oder verdreifacht, sondern summieren sich zu einem Desaster, von dem man nur hoffen kann, dass es jede und jeden, die oder der es künftig besser machen will, wenigstens eines Besseren belehrt.“

Und auch Andreas Platthaus (FAZ) meint, Companéez sei gescheitert:

„Wem es (...) nach verlorener Zeit gelüstet, der bekommt heute Abend bei arte einiges geboten. Allerdings nicht im Sinne Prousts.  


ALTPAPIERKORB

+++ Die Jüdische Allgemeine würdigt das 60-jährige Jubiläum der Satire-Pionierzeitschrift MAD und erinnert daran, dass die einst von Herbert Feuerstein geleitete hiesige Ausgabe der deutschen Sprache „schöne Worte“ wie „würg“ und „ächz“ geschenkt habe.

+++ Diese „schönen Worte“ stecken implizit in allerlei aktuellen TV-Programmbetrachtungen, nicht nur bei den Proust-Verfilmungsskeptikern. Wenig hält zum Beispiel Thomas Gehringer (Tagesspiegel) von der ZDF-Comedysendung „Nicht nachmachen“ mit Wigald Boning („sechsteiliger Sommer-Quatsch“). Beim Interview, das Welt Online mit Boning geführt hat, werden die meisten Leser wohl nicht einmal dazu kommen, „ächz“ zu sagen, weil sie vorher schon eingeschlafen sind.

+++ Komplett misslungen, teilweise gar „lächerlich“ und „albern“ findet Reinhard Lüke (Funkkorrespondenz) die heutige NDR-Reportage „Kampf um den Fisch – Deutsche Trawler vor Afrikas Küsten“. Teile der Aufnahmen entstanden auf einem „Presseboot“ von Greenpeace, und diese oder ähnliche kennt der eine oder andere Zuschauer vielleicht schon aus dem ZDF.

+++ Ebenfalls in der FK: eine Rezension zur Doku „Das Dorfexperiment – Gemeinsam in die Zukunft“, die am Montag im Dritten Programm des SWR läuft, jenes Senders also, in dessen Rundfunkrat es heute vielleicht hoch her geht (siehe oben). Der Film über einer 50-köpfige Genossenschaft, die sich Selbstversorgung auf ihre Fahnen geschrieben hat, ist trotz des interessanten Themas wohl allenfalls mittelprächtig. 

+++ Einen Blick zurück auf die ferkelige RTL-2-Dokusoap „Villa Germania - Forever young“, also auf „acht Folgen, die ausschließlich Fassungslosigkeit darüber evozieren, was im deutschen Fernsehen inzwischen alles möglich ist und in deren Mittelpunkt zwei Rentner stehen, die sich „wie 16-Jährige aufführen, nur noch selbstreferentieller“, findet man bei süddeutsche.de. Die Mädchenmannschaft ist auch angewidert: „Die in der Doku-Soap auftretenden thailändische Frauen werden als sprachlose Produkte vorgeführt. Die [Nichtvorzeige-]Männer bringen bei, wie deutsches Bier mit Krönchen serviert wird, erzählen unerträglichen Sinnlos-Kram (O-Ton: ‚Ohne das Thai-Gesicht würde sie aussehen wie meine verstorbene Frau‘) und zeigen in fast jeder Szene, hinter welch hetero­normativ-rassistischem Mond sie leben.“

+++ Jetzt aber mal zu rundum guten Fernsehen: Peer Schader (FAZ-Fernsehblog) jedenfalls gefällt die ORF-Wissenschaftshow „Science Busters“: „Das Faszinierende (...) ist, mit welch einfachen Mitteln die Show funktioniert: ganz ohne virtuelles Studio und aufwändige 3D-Animationen. Es gibt nur eine schwarze Bühne, zwei Schreibtische, ein paar Scheinwerfer und eine Wand, auf die Animationen oder mitgebrachte Diagrammen projiziert werden.“

+++ Auf das Phänomen, dass man den einen oder anderen Verriss durchaus gern liest, obwohl man das, was verrissen wird, gut findet, geht der New Yorker im Zusammenhang mit der fast zeitgleich im US-amerikanischen und im deutschen Pay-TV gestarteten Serie „The Newsroom“ ein (siehe dieses und dieses Altpapier)

+++ Dem Informationskrieg um Syrien, einem Thema, das hier zu Lande wegen europäischer Finanzen und europäischem Fußball etwas aus dem Blick geraten ist, widmet sich Index on Censorship.

+++ Die Berliner Zeitung berichtet über die Aufsplittung von Rupert Murdochs Konzern News Corp. (siehe Altpapier). Dass die Entscheidung „im Zusammenhang mit dem Abhörskandal und der geplatzten BSkyB-Übernahme stehen könnte, wies Rupert Murdoch von sich. Dieser Schritt sei ‚keine Reaktion auf irgendetwas in Großbritannien.‘“

+++ Nach uns die Software: Um Schreibprogramme, die die Aufgaben von Journalisten aus Fleisch und Blut übernehmen, geht es in meinem oben schon en passant erwähnten konkret-Artikel (siehe auch Altpapier).

+++ Die WoZ bereitet ihre Enthüllungen um die Domain adolf-hitler.ch nach (siehe Altpapier).

+++ Für unsere Leser in Frankfurt und Umgebung: Im Rahmen dieser Ausstellung ist im Jüdischen Museum heute der vierte Teil des zwischen 1968 und 1970 ausgestrahlten Spielfilm-Fünfteilers Ich, Axel Caesar Springer zu sehen. Das rund sechsstündige Werk war „mit seinen Produktionskosten von über 7 Millionen DDR-Mark eine der aufwendigsten Produktionen des DDR-Fernsehens“.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.