Von Rollatoren überfahren

ZDF-Intendant Thomas Bellut berichtet vom wilden Medienmarkt. Stefan Aust schreibt wieder, die "Generation Youtube" triumphiert, und der Freitag ist jetzt auch in einen Kleinkrieg mit der Bild-Zeitung verwickelt. Außerdem: Neues von Doris Heinze, der legendären Drehbuchautorin.

Großes Interview mit ZDF-Intendant Thomas Bellut heute in der Zeit (S. 24/ 25; von derselben vorabvermeldet, ausführlich von meedia.de weiterverarbeitet).

Chefredakteur Giovanni di Lorenzo und Autorin Anne Kunze befragt Bellut über eine fast vollständige, freilich von ein wenig Werbung flankierte Doppelseite hinweg. In der ersten Spalte geht's um Belluts türkischstämmige Ehefrau, Hülya Ozkan, und was sie so gesagt und geschrieben hat.

Am Ende der zweiten kommt der Brüller, den die Zeit zur Vorankündigung in der Unterzeile und online aufnahm: Da heißt es, Bellut spräche vom "Tag, an dem er fast von Rollatoren überfahren worden wäre". Konkret geht dieser Oneliner, mit dem Oliver Welke oder erst recht Fips Asmussen bei der richtigen Betonung kräftige Lacher erzielen würden, so:

"Neulich war ich auf einem Konzert von Joe Cocker - und wäre fast von Rollatoren überfahren worden! Nein, Spaß beiseite. Man konnte da gut sehen: Die Älteren leben heute anders als früher, sie versuchen, fit zu bleiben, Sport zu machen, sich der Mode zu öffnen. Wir haben es bislang nicht geschafft, diese Veränderungen in unserem Programm umzusetzen. Die große Show muss neue Impulse bekommen."

Ja, was zeigen all die ZDF-Programme zwischen "Volle Kanne" und "Markus Lanz" denn, wenn nicht ältere Mitbürger, die versuchen, fit zu bleiben, und sich der Mode öffnen? In Details konkreter Sendungen gehen die Interviewer von der Zeit leider selten. In der dritten Spalte des Interviews wird's dennoch interessant. Die Frage "Wollen Sie den Unterhaltungsdampfer ZDF in Ihrer Amtszeit stärker journalistisch ausrichten?" provoziert Bellut etwas, er antwortet:

"Ich bin überrascht, dass Sie Unterhaltungsdampfer  sagen, wir sind schon lange der Informationssender. Und ich möchte sogar noch mehr hart recherchierte Dokumentationen im Programm haben und bin bereit, dafür mal geringere Quoten hinzunehmen. Aber ich will auch Erfolg haben. Das Öffentlich-Rechtliche darf sich nicht in die verlockende, bequeme Hängematte der gezielten Erfolglosigkeit begeben."

Nein, das Öffentlich-Rechtliche muss versuchen, fit zu bleiben, Sport zu machen und sich der Mode öffnen. Das entgegnen die freundlichen Interviewer von der Zeit natürlich nicht. Sie stellen jedoch die gute Nachfrage "Wenn Sie gutes Programm machen, aber die Quote nicht stimmt - welche Dynamik kommt dann in Gang?". Der Intendant antwortet:

"Eine Dynamik, an deren Ende etwas wie das öffentlich-rechtliche Fernsehen in den USA steht. Dessen Marktanteil ist kaum noch messbar, dieses Fernsehen wird nur noch mit Beiträgen aus dem Staatshaushalt am Leben gehalten. Ich werde, solange ich hier bin, dafür kämpfen, dass das ZDF bedeutend bleibt."

Weiterhin kündigt Bellut an, dass die 19.00-Uhr-"heute"-Nachrichten sich verändern müssten, da "die klassischen Tagesnachrichtensendungen ... viel stärker in Konkurrenz zu den Internetanbietern" stehen würden. Wie sie sich ändern sollen, um der Konkurrenz zu begegnen, wird er nicht mehr gefragt, sondern stattdessen im Anschluss, ob er eigentlich Steffen Seibert vermisst.

Ganz am Ende des Interviews werden selbstverständlich Gemeinsamkeiten beschworen. Die Interviewer bemerken, dass das Internetangebot des ZDF inzwischen "weniger textlastig ist als das der ARD", und Bellut hebt an:

"... ... Schon die Vernunft gebietet mir, zu sagen: Lasst die ausführlichen Textangebote den Verlagen, den Zeitungen und Zeitschriften! Wir sind die Spezialisten für bewegte Bilder. Es wird andere Konflikte gebenauf diesem so wilden Medienmarkt, mit anderen Veranstaltern. Und ich glaube wirklich an die Allianz der Qualitätsmedien. Wir werden froh sein über jeden, der sich noch intensiv mit Inhalten beschäftigt."

Über jeden Leser/ Zuschauer/ User, der sich noch intensiv mit Inhalten beschäftigt? Über jedes Medium/ jeden Veranstalter, der das noch tut? Tja, auch das bleibt offen in dieser Hängematte von Interview, die dennoch durchaus zum gepflegten Lesen verlockt.

[+++]  User, die sich mit diesem Interview beschäftigt haben, könnte dann auch das interessieren, das nebenan bei evangelisch.de mit dem gestrigen 75-jährigen Jubilar Wolf von Lojewski geführt wurde. Der Ex-Moderator des "heute-Journals" sagt da u.a. zum Thema Internet:

"Die großen Nachrichtensendungen von ARD und ZDF haben sich kaum verändert, die sind sehr gut. Aber auch da wird mindestens zweimal pro Sendung darauf hingewiesen, dass man unter heute.de oder tagesschau.de alles noch viel genauer erfahren kann. Da war ich einer der letzten Dinosaurier, die das hartnäckig verweigert haben, weil ich gesagt habe: Die Menschen schauen doch jetzt mir zu, was soll ich die ins Internet verscheuchen?"

[+++]  Was Allianzen der Qualitäts- und weiterer Medien angeht, fällt übrigens ebenfalls in der aktuellen Zeit auf, dass heute wohl erstmals seit Verkündung dieser Personalie der Ex-Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust als Autor der Wochenzeitung auftritt. "Hat ein hessischer Verfassungsschützer einen der NSU-Morde begangen? Ein Polizist wollte ermitteln - die Behörde bremste ihn aus", so lautet die Unterzeile des Artikels von Aust und Dirk Laabs auf S. 6. Dass er auffällt, liegt weniger daran, dass Die Zeit selbst viel Aufhebens (wie etwa ums Bellut-Interview) darum macht, sondern daran, dass ihn der Internetauftritt der Bild-Zeitung weiteraggregiert ("Stefan Aust schreibt in der 'Zeit'..."). Dort ist also auch der Inhalt wiedergegeben, der freilich mit Medien wenig zu tun hat.

Wiederum eine Menge mit medialen Aspekten der NSU-Mordserie zu tun hat die Verbreitung des inzwischen anerkannten Unworts "Döner-Mord", die Christian Fuchs fürs Panoramaressort bei SPON zurückverfolgt hat. Die Wortherkunft rührt offenbar aus einem typischen Problem der gedruckten Presse: dem, dass Spalten oft so eng sind, sodass nur kurze Überschriften drüberpassen. Er geht in s Jahr 2005 zurück. Damals brachte

"die 'Nürnberger Zeitung' einen weiteren kurzen Bericht über die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Nürnberg, die versucht, die 'mysteriöse Mordserie an sieben ausländischen Kleinunternehmern in Deutschland' aufzuklären. Der Text ist nur 341 Wörter lang und findet keine größere Beachtung. Die Überschrift lautet ''Döner-Mord' - Nun wird bei Banken gefahndet'. Nur andeutungsweise ist den Zeilen zu entnehmen, worauf sich der Begriff in der Überschrift bezieht: 'Zuletzt wurden im Juni ein türkischer Dönerstandbesitzer in Nürnberg und ein griechischer Betreiber eines Schlüsseldienstladens in München getötet.' Auf Nachfrage sagt der Polizeireporter, dass er damals eigentlich 'Der Mord an dem Döner-Verkäufer' über den Bericht schreiben wollte. Aus Platzmangel kürzte er die Überschrift ein..."

[+++]  Die Zeitung mit den kürzesten, aber auch punktgrößten Überschriften, die den Aust-Querverweis gibt, die Bild-Zeitung, befindet sich mit der ebenfalls donnerstags erscheinenden Wochenzeitung Freitag wegen des bei ihr online aktiven Bloggers mit dem Pseudonym Sean Quentin Dexter in einem aktuellen Kleinkrieg. Die komplexeren Hintergründe zum nicht mehr verfügbaren Beitrag "Kai Diekmann geht über Leichen" stellt der Tagesspiegel eher knapp und recht Springer-freundlich dar ("Freitag.de muss falsche Behauptungen über die 'Bild' zurückziehen). Ob der Freitag-Chefredakteur Philipp Grassmann mit der Aussage "Wir würden die lebendigen Debatten auf unserer Seite abwürgen, wenn wir jeden Beitrag erst gegenlesen" sich oder seinem Blatt einen Gefallen tut, ist eine der daran geknüpften Fragen. Ob der Presserats-Freispruch für die Bild-Zeitung in der bewussten Sache allerdings ein valides Argument ist, eine andere (vgl. bildblog.de aus dem Juni).

####LINKS####

Äußerst ausführlich-investigativ und mit vielen externen Links legt Stefan Winterbauer auf meedia.de die Sache dar, um am Ende das Fazit daraus zu ziehen:

"Falls noch jemand einen Beweis suchen sollte, dass Bürger-Journalismus kein Ersatz für professionellen Journalismus sein kann - den Beweis liefert Sean Quentin Dexter, das Web-Phantom."

Was selbstredend auch wieder den Debattenstoff liefert, den es soll.

[+++]  Wenn wir bei strukturellen Gegensätzen zwischen gedruckten und digitalen Medien sind, noch ein Katzensprung zu ACTA. Das gestrige Scheitern des Urheberrechts-und-anderes-Abkommen im Europäischen Parlament ist heute ein top-prominentes Medienthema. Die Berliner Zeitung ruft die "Generation Youtube" aus. Es gibt "Netzaktivisten- feiern-Acta-Ablehnung"-Umschauen wie bei sueddeutsche.de und allerhand Kommentare ("Ritterschlag für die Bürgerrechtsorganisationen, die sich selbst als Lobbyisten der Internetnutzer bezeichnen", meint Patrick Beuth bei zeit.de).

Und es gibt einen Kommentar in der TAZ, der sich über einen Kommentar Andrian Kreyes gestern in der Süddeutschen (auch im Altpapier erwähnt) ärgert. Heute also schreibt Meike Laaff:

"Protestbewegungen sind unangenehm. Sie stören Routinen, verstopfen Postfächer und Straßen, einige ihrer Anhänger sind mitunter bescheuert. Aber sie sind Ausdruck einer lebendigen Demokratie, einer aktiven Zivilgesellschaft. Die Anti-AKW-Bewegung - ein Shitstorm? Die Ostermärsche oder Stuttgart 21? Dass Printjournalisten offenbar analog auf die Straße getragenen Argumenten mehr politische Substanz zusprechen als digital kommunizierten, sagt mehr über deren Horizont als über die Acta-Gegner."

Seitens sueddeutsche.de hat nun Dirk von Gehlen nun sehr staatsmännisch ("Den digitalen Graben überwinden") nach-kommentiert.

Kommentare-Mangel ist schließlich eines der geringsten Probleme der Gegenwart.
 


Altpapierkorb

Heute vor Gericht: Doris Heinze, die legendäre Drehbuchautorin, "die Marie Funder war". Details im Tagesspiegel und der TAZ. Falls Sie sich fragen, wo Heinze selbst 2011 von "absolutem Schwachsinn" sprach: im Videointerview auf daswortzummord.de. Wer einen Heinze/ Funder-Film sehen möchte: Morgen abend auf Arte läuft einer, worauf die TAZ hinweist. +++

+++ Großes Interview auf der FAZ-Medienseite: Die UFA strukturiert sich um. "Die digitale Transformation reißt alle Mediengeschäfte mit. Dem stellen wir uns und strukturieren deshalb die Ufa um", sagt der Vorstandsvorsitzende Wolf Bauer und erklärt dann sehr ausführlich, wie "immer komplexere Aufgaben" an die Bertelsmann-Firma "herangetragen" würden, wie toll es um deren "Innovationsfähigkeit" bestellt sei usw. usf. Die Überschrift lautet "Die digitale Revolution reißt alle Mediengeschäfte mit". Ob Transformation und Revolution eigentlich völlig identisch sind, das müsste im FAZ-Feuilleton vielleicht nochmal bitte ein Nobelpreisträger erörtern. +++

+++ Zwei Seiten davor geht's nicht um die UFA, sondern die UEFA: "Die Tränen einer Frau aus Düsseldorf haben vergangene Woche den Fußball so nahe an das Kino herangerückt wie noch selten zuvor", schreibt Bert Rebhandl mit Bezug auf die ins Halbfinale einmontierten Tränen: "Das Kino stellt für das Verständnis des kontroversen Manövers zwei Begriffe bereit, die weit vom Fußball wegführen und doch auch wieder zu ihm zurück: zu einer neuen Idee von Fußball nämlich, wie die Uefa ihn 2012 so nachdrücklich propagiert hat wie noch nie zuvor. Die Begriffe lauten 'stock footage' und Melodram". Allerdings hätten die UEFA-Regisseure nicht begriffen, dass Individuen kein "stock" seien, oder höchstens, wenn man sie so missbraucht, wie einst Leni Riefenstahl das tat (ohne dass Rebhandl aber die UEFA in die Nähe der Nazi-Filmtradition rücken möchte). Großes Feuilletonkino jedenfalls (S. 29). +++ ARD und ZDF schätzen das jedoch weiterhin nicht (TAZ kurz). +++ Der Freitag, der ja eigentlich ein großer Freund des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist, ist indes keiner des öffentlich-rechtlichen Sportmoderators Oliver Schmidt. +++

+++ Hans Hoff bestätigt die auch von Thomas Bellut geäußerte These, dass Casting-Shows "ihre besten Zeiten hinter sich" haben, und zwar am Beispiel der neuen "X Factor"-Staffel bei Vox. +++ Außerdem geht's auf der SZ-Medienseite 17 um George Entwistle, der vom "Fernseh- und Online-Chef der British Broadcasting Corporation zum Generaldirektor der gesamten Organisation", also der BBC, aufsteigt, und um die seit Ende Juni von der New York Times betriebene chinesischsprachige Webseite cn.nytimes.com. Sie sei "aufwendig, aber journalistisch ergiebig". +++

+++ "Was soll sich bei den Freitagsfilmen, die häufig Frauen ab 60 schauen, ändern?", fragt Tilmann P. Gangloff die neue Degeto-Chefin. Christine Strobl antwortet: "Die bisherige Zielgruppe ist uns auf jeden Fall sehr wichtig. Aber es gibt qualitativ gesehen eine große Bandbreite. Ich möchte den Sendeplatz 'heutiger' machen: mit modernen Geschichten, modernen Familienkonstellationen und moderner Erzählweise" (KSTA). +++

+++ "Das Böse wurzelt in jedem Einzelnen und kann schon am Arbeitsplatz durchbrechen", lautet beunruhigend der letzte Satz in Hans-Jörg Rothers Tsp.-Empfehlung der heutigen Arte-Dokumentation "Das Böse". +++

+++ Und die letzten Sätze der heutigen TAZ-Fernseh-Empfehlung lauten: "'Taste the Waste' war mit über 120.000 Zuschauern der meistgesehene Dokumentarfilm 2011. Er wurde mit Preisen überhäuft und fand eine starke mediale Beachtung, aber hat er darüber hinaus etwas bewirkt? Kaum: Es fand nur eine kurze Debatte um das Mindesthaltbarkeitsdatum statt, die von der Politik erst aufgenommen wurde und dann versandete." "Taste the Waste" läuft heute um 23.30 Uhr im Dritten des WDR. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.