Das Perlenumgangs-Problem

Schon wieder eine spektakuläre ARD-Dokumentation. Schon wieder um 23.45 Uhr. Heute nicht wegen Fußball, sondern einer dreistündigen Christine-Neubauer-Zweiteiler-Wiederholung wegen.

"'Dieses verfluchte Tor', sagt Rainer Höß. Er war nie dort, aber er hat die Bilder im Kopf, Schwarz-Weiß-Bilder..."

Es geht nicht um Wembley in diesem szenischen Einstieg in eine aktuelle Dokumentarfilm-Vorkritik (Tagesspiegel). Es geht um Auschwitz, wie mancher vielleicht beim Namen Höß ahnte. Pardon für den Bruch.

Rainer Höß, der Enkel des Kommandanten des Stammlagers Auschwitz I,  Rudolf Höß, spricht von einem Foto, das das hinter einem Gittertor direkt daneben liegende Wohnhaus der Familie zeigt. Er spricht davon im Dokumentarfilm "Meine Familie, die Nazis und ich", den die ARD heute abend sendet.

Der Film des israelischen Regisseurs Chanoch Ze’evi zeigt, wie fünf Nachkommen von Nazi-Verbrechern, darunter Höß, mit ihren Familiengeschichten umgehen. Er bekommt heute allerhand große und rundum lobende Besprechungen in den Zeitungen. "Ein kluger, ruhiger und ungewöhnlicher Dokumentarfilm über Nachfahren führender Nationalsozialisten", schreibt Robert Probst in der Süddeutschen (S.17), einer,

"der einen staunen lässt über das breite Spektrum zwischen abgrundtiefem Hass und kaum fassbarer Naivität im Umgang mit verbrecherischen Eltern oder Großeltern."

Daniel Haas lobt in seiner FAZ-Besprechung (S. 33) ebenfalls, kritisiert jedoch Rainer Höß, der "auf befremdende Weise narzisstisch" wirke. Damit steigt Haas sozusagen auf eine Metaebene des Films ein, denn darin ist zu sehen, wie Höß gemeinsam mit dem israelischen Journalisten Eldad Beck nach Auschwitz reist. Und daraufhin hatte Beck dann auf der israelischen Webseite ynetnews.com Höß "Opportunismus" vorgeworfen (hier, auf englisch).

Schwieriges Thema, das. Spannender Film scheinbar [ich habe ihn noch nicht gesehen]. Toll, dass das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen so etwas produziert und zeigt. Aber wann und wie?

Alle Aussagen aus dem vorigen Absatz kann man praktisch täglich äußern, und ganz besonders das Aber. Zuletzt konnte man sie gestern äußern, als die ARD den viel gelobten Dokumentarfilm "Charly Graf - ein deutscher Boxer" zeigte (die FAZ-Kritik dazu steht inzwischen frei online, die des Tsp. hatten wir gestern hier vergessen, taz.de hatte dann auch noch eine...). "Versteckte ARD-Perle" nannte meedia.de den Film und seufzte gegen Ende seines Textes routiniert:

"Was soll's!? Wie die ARD mit ihren Programm-Perlen umgeht, ist man mittlerweile leider gewohnt."

Das gestern in manchen Besprechungen thematisierte, in manchen, weil eben auch schon arg gewohnt, gar nicht erwähnte Perlenumgangs-Problem war der späte Sendetermin des Charly Graf-Films, um 23.45 Uhr. "Meine Familie, die Nazis und ich" heute hat genau dasselbe Problem, auch dieser Film läuft um 23.45 Uhr (endet aber schon um 1.05 Uhr statt 1.15 Uhr, weil er zehn Minuten kürzer ist).

Bzw., bei genauem Blick ins Programm ist das Perlenumgangs-Problem doch nicht ganz dasselbe. Denn gestern war die ARD turnusgemäß mit der Fußball-EM-Berichterstattung dran, sodass, trotz des Urlaubs der eigentlich turnusgemäß dienstags talkenden ARD-Talkerin Sandra Maischberger das Nicht-Fußball-Programm erst im Anschluss an den traditionelle Fußball-EM-Abend-Abschluss ("Waldis Club", der dann auch noch etwas länger dauerte) losgehen konnte. Zumindest in der mutmaßlichen ARD-Programmplanungslogik gedacht.

Am heutigen Mittwoch hingegen überträgt das ZDF die EM (dazu gleich mehr). Und die turnusgemäß mittwochs talkende ARD-Talkerin Anne Will, die sonst immer dazu beiträgt, dass länger als 30 Minuten dauernde Dokumentarfilme frühestens kurz vor Mitternacht ins ARD-Programm kommen können, befindet sich ebenfalls gerade in der Sommerpause. Was macht die ARD-Programmplanung mit dieser Gelegenheit?

Sie packt sie beim Schopf, um um 20.15 Uhr, als Gegenprogramm zum Deutschland-Länderspiel, beide neunzigminütigen Teile des Christine Neubauer-/ Regina Ziegler-/ Degeto-Films "Gottes mächtige Dienerin" direkt nacheinander zu zeigen, insgesamt also drei Stunden. Deswegen verschieben sich die "Tagesthemen", die manche gerade nicht urlaubenden Gebührenzahler ja vielleicht auch lieber zur gewohnten Zeit um 22.15 Uhr sehen würden, um eine Stunde. Deshalb kann "Meine Familie, die Nazis und ich" heute erst um 23.45 Uhr auf Sendung gehen, so wie gestern "Ein deutscher Boxer".

Es ist zweifellos toll, was das deutsche Fernsehen alles für ambitionierte und relevante Dokumentationen herstellt. Es ist aber auch mindestens erschreckend, wieviele wenig bis nicht relevante Sendungen es herstellt (wofür die Degeto ja nur die relativ bekannteste Chiffre darstellte, der z.B. das "ZDF-Herzkino", wie es inzwischen heißt, quantitaiv und qualitativ in nichts nachsteht). All das neben Stunden und Aberstunden von Sportberichten im Programm unterzubringen, ist eigentlich weniger ein Perlenumgangs- als ein strukturelles Luxusproblem. Spätere Generationen werden darüber vermutlich staunen.

####LINKS####

[+++] Vergleichsweise unzaghafte Kritik an Aspekten der seit einem Jahr gängigen ARD-Praxis, fünfmal pro Woche eine Talkshow zu senden, wurde gerade vom Programmausschuss des NDR-Rundfunkrats laut (siehe Altpapier). Während der gestern auf dem falschen Fuß erwischte Tsp. sie heute bloß zusammenfasst, hat die TAZ beim Rundfunkrat nachgefragt, ob "das höchste NDR-Gremium" "zu den deutlichen Worten" auch selbst etwas sagen möchte. Das möchte es aber nicht.

[+++] Wie eben schon gestreift, geht die aberstundeweise EM-Berichterstattung heute wieder aufs ZDF über, das sich vermutlich über einen großartigen Marktanteil wird freuen können. Andererseits, wer schon einmal in diesen Tagen Katrin Müller-Hohenstein und Olli Kahn hat stehen sehen, weiß, dass es dort richtig ausgelassen auch nicht zugeht. SZ-Medienchef Christopher Keil, der eigentlich ja dem Sportressort entstammt, hat dazu, also zum ZDF-Ansatz der Bericherstattung von der polnisch-ukrainischen Europameisterschaft von der deutschen Ostsee (Symbolbild) aus, ein großes Stück geschrieben. Sein Text übt einerseits grundlegende Kritik:

"Es liegt eine politische Spannung über der Veranstaltung, eine gesellschaftliche sowieso, und es gibt die klassischen Konflikte einer Fußball-Meisterschaft, den Hooliganismus beispielsweise, der ebenfalls beobachtet werden muss. Und das ZDF legt sich an einen deutschen Ostseestrand."

Andererseits blitzt also Humor auf, auf den Keil auch bei Müller-Hohenstein und Kahn baut:

"Man kann allerdings hoffen, dass mindestens noch komische Momente geliefert werden vom Ostseestrand. Denn eines sollte man nie unterschätzen: den Humor eines gestrandeten Titanen."

Insofern sehr lesenswert. Während hingegen das Interview, das der Tagesspiegel mit dem Live-Reporter des heutigen deutschen Länderspiels führt, mit Béla Réthy, spätestens von Réthys Satz

"Wir haben beim ZDF jetzt so viele Jahre auf die Champions League gewartet, dass es ein Gefühl ist fast wie Weihnachten, jetzt, da wir von der nächsten Saison an dabei sind",

irgendwie sämtlichen Lesens-Wert verliert.



Altpapierkorb

+++ Leser gedruckter Zeitungen könnten in den vergangenen Tagen auf Anzeigen gestoßen sein, die auf fairsearcheurope.eu verweisen (wo übrigens frappiert, dass die Verleger beim Argumentieren eher auf Videos als auf Texte setzen. Was dahinter steckt: der von europäischen Zeitungsverlegern bei der EU-Kommission erhobene Vorwurf, Google könnte bei seinen Suchergebnissen seine immer zahlreicheren eigenen Angebote wie Youtube bevorzugen, also besser platzieren, und die Konkurrenz benachteiligen. "Die EU-Kommission könnte, wenn sie Google wettbewerbsbehindernde Eingriffe nachweisen kann, Geldstrafen anordnen oder eine Offenlegung der Suchalgorithmen verlangen. Bis zu einer möglichen Entflechtung des Konzerns könnten die Konsequenzen der EU-Wettbewerbshüter reichen. Nur hält das derzeit noch niemand für wahrscheinlich", schreibt dazu Falk Lüke in der TAZ. Was sagt Google selbst? "Wir lassen uns sehr kooperativ auf die Kommission ein." (wahrscheinlich powerered by translate.google.com). +++

+++ Dass der französische Verlegerverband sich mit Google in punkto Büchern geeinigt hat, berichtet die FAZ (S. 33): "Das Abkommen macht Google zum klaren Sieger. Jeder Verlag wird selbst über die Auswahl der Werke und die Verteilung der Einnahmen verhandeln. Doch bei der Verwertung seiner Rechte bleiben ihm die Hände gebunden. Bei Bedarf darf er nachdrucken - aber die digitalisierten Dateien sind an den exklusiven Vertrieb durch Google gebunden. Unter Ausschluss aller anderen Kanäle wie zum Beispiel Apple und Amazon." +++

+++ Ein Bereich, in dem ebenfalls Millionen fließen, aber vielleicht nicht mehr lange in derselben Form: der Markt der Fernsehkabel, durch die ja längst auch Internet kommt. Bislang etwa zahlen ARD und ZDF für ihre Verbreitung an Kabel Deutschland, das wollen sie aber nicht mehr, berichtete die FTD gestern, inzwischen frei online, zum Start der ANGA Kabel-Messe in Köln. Siehe auch dwdl.de. +++

+++ Während die Auflage der gedruckten Presse regelmäßig sinken, befindet sich die (verlagswirtschaftliche) "Konzentration im Zeitungsmarkt ...auf einem Rekordhoch". Das entnahm meedia.de einem Horst Röper-Artikel (aus den Media Perspektiven; hier als 18-seitiges PDF mit interessanten Tabellen und Schaubildern, etwa einer Top 10 der Zeitungsverlage auf S. 6). +++

+++ Auf ein Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofs zum Recht der Kurzberichterstattung über Sportereignisse, deren teure Rechte andere gekauft haben, ist die Süddeutsche gespannt. +++ Auf eine "gemeinsame Jobbörse" des ZDF, das wegen KEF-Auflagen "Stellen im dreistelligen Bereich abbauen muss", mit dem Südwestrundfunk macht die FAZ aufmerksam: "Auf diese Weise können sich Freie, die für das ZDF gearbeitet haben, auch um Jobs in der ARD bewerben". +++

+++ Die Krise des Radio-"Tatorts" der ARD-Anstalten macht Stefan Fischer in der Süddeutschen zum Thema. 2012 habe es bislang nur einen "bodenständig erzählten, leutselig unterhaltsamen Fall" gegeben (diesen vom Saarländischen Rundfunk), "der Rest der Radio-Tatorte war in diesem Jahr... mangelhaft." +++

+++ Mit den Worten "Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell eine mikroskopisch kleine Kleinigkeit tagelang die Medien in Atem hält, wenn sie sich mit der schönsten Hauptsache der Welt ... befasst – und die Bild-Zeitung einen Aufmacher draus macht" versuchen BLZ/ FR, am Atem der Mehmet Scholl-/ Mario Gomez-Sache teilzuhaben. +++ Ralf Mielke informiert aber auch über die Lage der Medien in der Ukraine, und zwar mit Hilfe von Ivanna Kobernik, die für die "auflagenstärkste und politisch bedeutsamste Zeitschrift" des Landes, Korrespondent, arbeitet. +++

+++ Und "in der heutigen Zeit, wo Neuerscheinungen schon nach der ersten Ausgabe wieder vom Markt verschwinden und Chefredakteure kaum die Mittagspause durchhalten", kann die TAZ-Kriegsreporterin auf ihr Dreijähriges zurückblicken, "knapp 150 Texte". Herzlichen Glückwunsch. Zur Feier dieses Anlasses möchte sie "in Gedenken an Axels Springer ... mit den Chefredakteuren von Springer und Herrn Döpfner 'Die Reise nach Jerusalem'" spielen. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.