Kommt bald ZDF 60 plus?

In Erfurt revoltieren Zeitungsredakteure, bei arte beginnen die Fassbinder-Tage, und die Netzwerk-Recherche-Soap geht weiter. Außerdem: Fußballtaktik-Kompetenz im Fernsehen und in Blogs, Verwunderung über die Aufregung in Sachen Schufa sowie neue Vorschläge zur Reform der Digitalkanäle von ARD und ZDF.

Wenn sich in der Empörung über eine Sache sehr, sehr viele einig sind, von FDP-Brüderle bis zum grünen Innenexperten, von everybody‘s Twitter-Timeline bis zur Bergedorfer Zeitung, macht das immer ein bisschen stutzig. So ist es auch mit em Wirbel rund um die Schufa, die nun Daten aus sozialen Netzwerken zu sammeln beabsichtigt. Ein paar differenzierte Stimmen zu den Plänen des „ganz besonderen Institutionen-Darlings“ (Altpapier gestern) sowie den Reaktionen darauf gibt es aber auch. Thomas Stadler (internet-law.de) schreibt:

„Dass die Schufa aus allgemein zugänglichen Quellen Informationen sammeln möchte, ist (...) derart naheliegend, dass die Aufregung schon etwas erstaunt. Und auch wenn es den ein oder anderen überraschen mag, die Schufa darf das grundsätzlich auch“,

Für Süddeutsche.de nimmt sich Chefredakteur Stefan Plöchinger höchstpersönlich der Sache an:

„Google und Facebook wissen mehr über uns als die Schufa; das macht sie ja so interessant für die Schufa.“

Sowohl Stadler als auch Plöchinger kritisieren die Kritik der Politiker, ersterer meint, sie sei

„nur Ausdruck einer politischen Verlogenheit (...). Denn es ist gerade die Politik, die diejenigen gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen hat, die die Schufa jetzt für sich nutzen möchte. Wenn man schon empört ist, dann sollte diese Empörung doch in erster Linie der Politik gelten, die wieder einmal versucht, von sich selbst abzulenken.

Und der Online-Chef der SZ schreibt:

„Was die Schufa jetzt plant, nämlich noch mehr Daten anzuhäufen, noch umfassender Informationsquellen abzugrasen, ohne dass Grenzen zu erkennen sind: Das ist ein Problem, das reguliert gehört. Aber es ist kein wirklich neues Problem (...) Politiker und Datenschützer, die sich jetzt über die Internet-Pläne der Schufa beschweren, haben die Informationssammler jahrelang vernachlässigt.“

[+++] Es gibt aber auch Politiker, die heute ein gutes Bild abgeben: die ZDF-Fernsehratsmitglieder Cem Özdemir und Oliver Passek, die  unter dem Titel „(Lieber) Sparten statt warten“ einen achtseitigen Beitrag für die medienpolitische Debattenreihe der Funkkorrespondenz verfasst haben. Ob sich Medienpolitiker tatsächlich mit Medien auskennen, weiß man ja nie so genau, sogar der Hamburger Bürgermeister und Mediensenator Olaf Scholz hat neulich gewitzelt, allzu oft werde eine „medienpolitische Sau“ nur deshalb durchs Dorf getrieben, weil Ministerpräsidenten „krank zuhause gelegen“ und „sich durchs Programm gezappt“ hätten (siehe hier [dezente Eigenwerbung] und hier). Aber Özdemir und Passek kann man durchaus Detailkenntnisse nachsagen, sie schauen den sogar auch im Altpapier recht selten erwähnten Sender Euronews (wo sich ARD und ZDF beteiligen sollten, wie sie finden). Und loben, dass das ZDF

„als erster öffentlich-rechtlicher Sender überhaupt in den elektronischen Sport eingestiegen ist“.

Gemeint ist die ZDFkultur-Sendung „For the win“, die über das „E-Sport-Pendant zur Fußball-Bundesliga“ berichtet.
Im Kern geht es dem Autorenduo aber darum, neue Vorschläge zur Reform der öffentlich-rechtlichen Spartenkanäle zu präsentieren - wobei die Autoren den Begriff eigentlich nicht mögen, weil er so abschätzig klingt:

„Die Spartenkanäle sind kein Zusatzvergnügen, für das der Gebührenzahler auch noch aufkommen muss, sondern wichtige Plattformen für das Mediennutzungsverhalten der Zuschauerinnen und Zuschauer im 21. Jahrhundert.“

Zusammengefasst lautet ihre Forderung folgendermaßen: Sinnvoll sind zwei Info-Kanäle (einer von der ARD, einer vom ZDF), ein gemeinsamer Kulturkanal (Fusion aus Eins Festival und ZDFkultur), ein komplett neuer Jugendkanal (ebenfalls gemeinsam von ARD und ZDF veranstaltet) und ZDFneo. Wenig Sinn mache hingegen „eine Kopie von ZDFneo durch Eins Plus“.

Der Clou des Textes ist ein Blick „in die Glaskugel“:

„Warum sollte nicht auf die Dauer ein in die Jahre gekommenes Hauptprogramm durch einen Spartenkanal für die Zielgruppe ‚60 plus‘ aufgegeben werden?“

Nun ist zwar das ZDF-Hauptprogramm jetzt schon eine Art ZDF 60plus, es heißt nur (noch) nicht so. Der Kern des Vorschlags, das Hauptprogramm nicht mehr als Hauptprogramm zu betrachten, sondern nur noch als Zielgruppenangebot unter vielen, hat aber allemal eine gewisse Sprengkraft. Für zwei weitere potenzielle Namen des zukünftigen Ex-Hauptprogramms sei hiermit schon mal vorsichtshalber Titelschutz angemeldet: ZDF Ü60 und ZDF antik.

[+++] Die Küchenpsychologen unter uns freuen sich ja immer wieder über die auch in diesem Jahr „nicht einfach zu überblickenden Streitigkeiten um das Netzwerk Recherche“ (Altpapier). Jetzt hat der Vorstand des Journalistenvereins 21 „Tatsachenbehauptungen“ korrigiert, die zwei interne Kritiker - darunter der hier bereits erwähnte Kommunikationsdesignprofessor Rüdiger Pichler  - sowie V.I.S.D.P., das „künftig seltener" erscheinende „Magazin für Medienmacher“, in die Welt gesetzt haben. Bei Meedia findet man eine Zusammenfassung - wobei Christian Meier deutlich macht, dass er die Argumente des Vorstands plausibler findet als die der Opposition -, die volle Dröhnung gibt es direkt beim Netzwerk Recherche.

Am schönsten ist eine Entgegnung auf Pichlers Beschwerde, „trotz wiederholter schriftlicher Rückfragen“ seien seine „Fragen leider unbeantwortet“ geblieben:

„Diese Aussage ist falsch. Richtig ist: Der Erste Vorsitzende von netzwerk recherche, Oliver Schröm, hat unmittelbar nach Eingang der Mail mehrfach versucht, Kontakt mit Herrn Prof. Pichler aufzunehmen, um die Fragen zu beantworten. Herr Pichler hat am Telefon zunächst mitgeteilt, er könne gerade nicht sprechen. Bei weiteren Anrufversuchen hat er nur abgenommen, wenn die Nummer des Anrufers unterdrückt wurde, sodass er nicht wissen konnte, wer ihn zu erreichen versucht. Eine Terminvereinbarung für ein Telefonat hat er abgelehnt.“

Die Botschaft der Passage lautet ungefähr, dass dieser Professor ein recht komischer Kauz sein muss, weil er anders als Normalsterbliche, die bekanntlich mittlerweile dazu neigen, nicht abzuheben, wenn die Nummer unterdrückt ist, es zumindest gelegentlich genau umgekehrt handhabt. Interessant aber auch, dass der Vorstandsmann, der die „Anrufversuche“ unternommen hat - offenbar Chef Schröm himself -, es mal von einer unterdrückten und mal von einer nicht unterdrückten Nummer probiert hat. Reiner Zufall? Clevere Strategie? Wir werden es noch erfahren, denn eines ist sicher: The soap must go on.

Für eine etwas größere Zielgruppe relevant ist ein Konflikt, der sich laut taz gerade bei der Thüringer Allgemeinen abspielt. Steffen Grimbergs Einstieg ist allemal launig, aber auch nicht ganz rätselfrei:

„Dass JournalistInnen mit ihrer Chefredaktion Hühnchen zu rupfen haben, soll hier und da vorkommen. Bei der Thüringer Allgemeinen (TA) geht der Zoff aber weit über das Geflügelreich hinaus.“

Grimberg zitiert aus einem Brief, den „rund 80 UnterzeichnerInnen“ inclusive viele „Ressortleiter und Lokalchefs“ unterschrieben haben. Gerichtet ist er an Chefredakteur Paul-Josef Raue, dessen Kommunikationskompetenz offenbar ausbaufähig ist, wenn man dem Schreiben Glauben schenken kann:

„Ein organisierter, vertrauensvoller Kontakt zwischen den Redakteuren findet nicht mehr statt. Redaktionskonferenzen, wie sie in allen relevanten Zeitungen zur bewährten Praxis gehören, wurden formlos abgeschafft. (...) Diese Situation hat das Klima in der gesamten Redaktion auf einen bisher ungekannten Tiefpunkt sinken lassen. Demotivation wird geradezu organisiert.

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[+++] Die FAZ hat ihre Medienseite heute fast komplett der am Abend beginnenden EM gewidmet, lediglich 1.381 Zeichen sind fußballfrei (zu Thomas Gottschalk, siehe weiter unten im Altpapierkorb). Sieben Korrespondenten werfen einen Blick in andere Teilnehmerländer, unter medialen Gesichtspunkten natürlich. Erwähnenswert ist die Übertragungsrechtesituation in Frankreich, zu der Jürg Altwegg schreibt:

„Bei der RTL-Tochter M6 schickt man die Ruhestands-Reporter Thierry Roland und Jean-Michel Larqué nach Osteuropa. Der Chauvinist Roland hatte sich bei TF1 mit sexistischen und rassistischen Sprüchen einen Namen gemacht. M6 hat zehn, TF1 neun Spiele bekommen: aber ohne Exklusivität. Die restlichen Partien – und überhaupt alle Spiele – sind ausschließlich auf Al Dschazira zu sehen. Vor ein paar Tagen ging deren Filiale ‚Be In Sport‘ auf Sendung – Chef ist der über siebzigjährige Haudegen Charles Biétry, der früher den Sport bei Canal+ leitete. Es ist die erste EM, für die Frankreichs Zuschauer zur Kasse gebeten werden.“

Die Spieler der französischen Nationalmannschaft sind allerdings noch frei empfangbar.

Im Freitag nimmt Andreas Busche die EM zum Anlass, sich mit der Taktikkompetenz der hiesigen Medien zu befassen:

„Als ernsthafter Fußballfan fühlt man sich vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit seinem vorgeblichen Bildungsauftrag heute beinah sträflich unterfordert. (... ) Im Fernsehen befindet sich das Reden und Denken über Fußball in einer anhaltenden Krise. Man freut sich über den Tiki-Taka-Fußball der Spanier, ohne dieses Kunstwerk jemals einer ­genaueren Analyse unterzogen zu ­haben (...) Wer sich (...) ernsthaft über die Entwicklungen im modernen Fußball interessiert, ist mit einem Blick ins Internet gut beraten. Hier war in den vergangenen Jahren ein regelrechter Boom von ‚Taktik-Blogs‘ zu beobachten.“

Busche lobt in diesem Zusammenhang auch das Blog Spielverlagerung, wo  aktuelle gerade der Macher des niederländischen Taktik-Blogs 11tegen11 interviewt wird, was angesichts der EM-Gruppenkonstellation ja durchaus nahe liegt.

Um eine andere Baustelle im Bereich Fußball und Medien kümmert sich der Sportsaal: Es geht um „ein Interview, das man nur mit gutem Willen als solches bezeichnen kann“, abgedruckt war es in dieser Woche im kicker, und geführt hat es Chefredakteur Rainer Franzke (siehe Altpapier) mit Marcello Maggioni, dem „Executive Vice President Customer Group“ von Sky Deutschland. Es beginnt so:

„ARD und ZDF erzielen bei Welt- und Europameisterschaften Rekord-Einschaltquoten. Wie ist Sky, das keine Liverechte an der EURO besitzt, bei dem Turnier aufgestellt, Herr Maggioni?“ - „Perfekt. Unsere Kunden werden über unseren Sportnachrichtensender Sky Sport News HD 24 Stunden mit allem Wissenswerten von der Europameisterschaft versorgt. Uli Köhler, einer unserer Reporter vor Ort, berichtet in diesen Tagen zum siebten Mal von einer EM. Mehr Erfahrung geht nicht.“

Man weiß bereits alles über das Interview - und vielleicht auch über den kicker bzw. darüber, wie stark „die einzelnen Akteure im Fußballbusiness miteinander verwoben sind“ (Sportsaal) -, wenn man weiß, dass Franzke daraufhin nicht gefragt hat, warum es „perfekt“ ist, keine Spiele zeigen zu können.

[+++] Wer heute nicht EM guckt, schaltet vielleicht arte ein. Der Kulturkanal zeigt zum Auftakt seiner Rainer-Werner-Fassbinder-Retrospektive die restaurierte Fassung des WDR-Zweiteilers „Welt am Draht“. Es war, meint Thomas Gehringer im Tagesspiegel,  „visionäres Fernsehen, was da im Jahr 1973 über die Bildschirme flimmerte“. Er preist

„eine zeitlos anmutende Kulisse voller Spiegel und Glasflächen, die das 200 Minuten lange philosophische Spiel reflektierte: Wie viele Welten gibt es? Was ist ‚echter', die scheinbar reale Welt oder die reale Schein-Welt?“

Noch einen Tick entrückter klingt es bei Fritz Göttler in der SZ (Seite 15):

„Eine kalte Melancholie liegt über dieser Welt, eine Gleichgültigkeit und Trauer - und sie werden immer stärker werden im restlichen Werk Fassbinders. Die Angst des Filmemachers vor der Phantomhaftigkeit der eigenen Existenz - dass sein richtiges Leben nur in seinen Filmen steckt. Dass es nichts als Melodram ist, Imitation des Lebens.“


ALTPAPIERKORB

+++ In Sachen Gottschalk: Eine Nachbereitung des Abschieds nach dem Abschied bzw. des „Nachschlags vom Fernsehgroßmeister“, der gestern Stefan Kuzmany und Jenni Zylka von Spiegel Online vergönnt war, gibt es natürlich ebd. Gesagt hat TG dort zum Beispiel: „Ich bin Kampf-Duzer. Nur Steuerbeamte siezen mich." Und: „Jemand, der sich hinsetzt, um sich zu mir Gedanken zu machen, der hat sie ja nicht alle." Das bezieht sich zwar auf „unzufriedene“ Menschen, die um vier Uhr morgens den Computer einschalten, um zu „stänkern“, aber als allgemeingültiger Satz klingt es natürlich viel besser.

+++ Die Funkkorrespondenz präsentiert aus gegebenem Anlass noch einmal  „Stefan Kuzmany im Online-Spiegel seines Wissens“ und alle Quoten von „Gottschalk Live“.

+++ Wer mehr über die griechische Nazi-Partei erfahren möchte, die am Donnerstag ein bisschen Netzgeschichte schrieb, weil sich mit der bekannten Schnelligkeit der Ausschnitt aus einer griechischen TV-Sendung verbreitete, in der ein auf nonverbale Kommunikation spezialisierter Kamerad auf eine kommunistische Politikerin einschlug, klicke zum ORF oder zur Jungle World.

+++ Die vermeintlichen Enthüllungen des Spiegel zu den von Deutschland nach Israel gelieferten U-Booten, die dort mit nuklearen Waffen bestückt werden - siehe auch die im Altpapierkorb am Dienstag zitierte, mindestens weird zu nennende Jakob-Augstein-Kolumne -, hätten in Israel niemanden gejuckt, meint Gil Yaron in der Jüdischen Allgemeinen: „Im Gegensatz zum Aufruhr in Deutschland, der durch den Bericht (...) ausgelöst wurde, lässt sich die israelische Reaktion darauf mit zwei Worten zusammenfassen: ‚Ja, und?‘ (...) Angesichts der täglichen Hasstiraden iranischer Führer (...) und der Bedrohung durch Terrororganisationen wie Hamas und Hisbollah, die Zehntausende Raketen in ihrem Arsenal horten, betrachten Israels Bürger Atomwaffen als wichtigsten Garanten ihres Überlebens.  Da Israel – im Gegensatz zu Iran – den Atomwaffensperrvertrag nicht unterschrieben hat, bestehe – so Jerusalems Lesart – auch kein Bruch internationalen Rechts.“

+++ „Disney verbannt bis spätestens 2015 alle Werbespots für Junkfood aus den Kinderprogrammen wie Disney Channel oder Disney XD. Nur fett, zucker und kalorienarme Produkte, die einen strengen Katalog erfüllen, dürfen zukünftig auf den Kindersendern beworben werden“ - das berichtet die FTD, die das Ganze aber gleich als „fette Mogelpackung“ entlarvt. Die SZ weiß: „Das Thema besitzt auch für Deutschland Relevanz. Seit 2007 gibt es eine EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste, in der die Mitgliedsstaaten aufgefordert werden, Werbung für ungesunde Lebensmittel und Getränke in Kindersendungen zu reglementieren.“

+++ Ebenfalls auf der SZ-Medienseite: Hans Leyendecker blickt voraus auf den am schon am 5. Juli, also zwei Jahre nach der Anklageerhebung, vor der Wirtschaftsstrafkammer des Hamburger Landgerichts beginnenden Strafprozess gegen die frühere NDR-Supertrickserin Doris Heinze aka Marie Funder-Donoghue. „Auch im Fall einer etwaigen Verurteilung gilt es als ausgeschlossen, dass davon ihre Pensionsansprüche betroffen sein könnten“, meint Leyendecker.

+++ Und im Feuilleton der SZ (S. 12) erinnert David Burnett, einer der „weltweit führenden Reportagefotografen“, daran, dass vor 40 Jahren (siehe auch Guardian) das ikonographische und viel analysierte Napalm-Girl-Foto des vietnamesischen AP-Fotografen Nick Ut entstanden ist. Burnett: „Nur wenige Bilder haben die Tragik, die der Krieg über Unschuldige bringt, auf so eindringliche und gleichzeitig humane Art gezeigt“. 

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.