Uwe Vorkötter geht, Brigite Fehrle joggt, Günter Wallraff packt (im Karriere-Ressort). Außerdem: Aufschreie und Sprechblasen rund ums Kulturradio. Und schon wieder ein neues, jedoch weder von Thommy Gottschalk noch von Richard Gutjahr moderiertes Fernseh-Online-Experiment der ARD.
"'Die Nachricht kommt für uns überraschend', sagte Jan Thomsen vom Redaktionsausschuss der 'Berliner Zeitung'" (Tagesspiegel), "die Redaktion ... schien die Spekulation ... nicht ganz unvorbereitet zu treffen" (meedia.de): Ein frischer Chefredakteurs-Abschied bei "einer relevanten deutschen Tageszeitung" (Süddeutsche) ist zu vermelden. Uwe Vorkötter soll allgemeinem, bloß von offizieller Seite der zuständigen Verlagsgruppe M. DuMont Schauberg aus Köln noch nicht bestätigtem Vernehmen nach, als Chefredakteur der Berliner Zeitung und ihrer anders formatierten südhessischen Lokalausgabe Frankfurter Rundschau aufhören.
Am unüberraschtesten zeigt sich die SZ: "Geht er freiwillig? Wohl eher nicht". Ja, die überall, ursprünglich bei kress.de mitvermeldeten "anderen Aufgaben für den Verlag", die Vorkötter übernehmen könnte, könnten sogar in "einem 'Beraterposten'" bestehen, so wie er gemeinhin als kaum camouflierte Rausschmissentschädigung decodiert wird. Das schreibt der Ex-Berliner Marc Felix Serrao, der eigentlich ja im bunt-vermischten Panoramaressort ansässig ist und nun auf der Medienseite wie befreit ("... Und sie jogge gern. Sowas.") auf-schreibt.
Wer gerne jogge, sei die mutmaßliche Vorkötter-Nachfolgerin, bei der sich Serrao ebenfalls am relativ weitesten aus dem Fenster lehnt: Die bisherige Co-Chefredakteurin sowie "passionierte Kreuzbergerin" Brigitte Fehrle solle neue Haupt-Chefin der BLZ werden und wird in der Süddeutschen kräftig gelobt. Der dritte bisherige Co-Chefredakteur, Rouven Schellenberger, solle "sich künftig aufs Digitale konzentrieren".
Was könnte sonst noch aus der Umstrukturierung folgen? BLZ und FR scheinen "künftig wieder getrennt" geführt werden zu sollen (Tsp.). Allerdings, "nach dem großen Aufwand, der bis dato getrieben wurde, erschiene ein solcher Schritt nicht nachvollziehbar" (meedia.de). Oder aber (nochmals SZ):
"Die Verzahnung und Verkleinerung der Redaktionen hat sich durchgesetzt - Zeit für schlankere Strukturen an der Spitze."
Wer gespannt sein möchte, kann gespannt sein.
[+++] Richtiggehend gepackt war einer, der die Frage, ob denn die Frankfurter Rundschau tatsächlich noch einen eigenen Chefredakteur benötigt, sicher gut beantworten könnte: Michael Hanfeld vom Lokalrivalen FAZ. Dort auf der Medienseite kommt die BLZ/ FR-Personalie heute lediglich in einer elfzeiligen Meldung vor. Hanfeld hat gestern dafür gleich zwei Oden an Texte über Günter Wallraff geschrieben:
"Der alte Mann kann es noch: Neunundsechzig Jahre ist Günter Wallraff inzwischen und sich längst noch nicht zu schade, sich krumm zu machen für die Offenlegung eines Skandals",
schrieb er im ersten, einer Besprechung des Auftritts von Wallraff zunächst als Undercover-Paketbote im RTL-Programm und anschließend in der flankierenden Talkrunde bei "stern tv" (ebenfalls RTL). Geradezu anrührend, wie sanft Hanfeld Aussagen der an sich keineswegs unumstrittenen Medienfigur Wallraff ("Ich hatte geglaubt, so etwas gäbe es seit dem Frühkapitalismus nicht mehr") als "manchmal etwas überhöht klingendes Pathos" kritisiert, kurz nachdem er selber von "Manchester-Kapitalismus anno 2012" geschrieben hat.
Seinen zweiten Text, der auch als Glosse in der gedruckten FAZ steht, legte Hanfeld nach, nachdem die von Wallraff attackierte Zustellungsdienst auf die Vorwürfe reagiert hatte ("Logistikfirma GLS blamiert sich/ Nachtreten gegen Günter Wallraff").
Den Original-Wallraff, also die "Günter Wallraff hat erlebt, wie Fahrer ausgebeutet werden"-Reportage aus dem Zeit-Magazin gibt es auch bereits frei online zu lesen. Lustigerweise hat zeit.de sie ins Karriere-Ressort gestellt.
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[+++] Nach Köln, wo nicht bloß Wallraff ansässig ist, sondern auch, zumindest im Umland, die "stern tv"-Show produziert wird, wird auch sonst geschaut. Die "teils erstaunlichen Erklärungen" am WDR-Sitz nach der Wiederwahl der Intendantin Monika Piel (siehe Altpapier gestern und vorgestern) bündelt dwdl.de. Ausgeruhtere Nachbetrachtungen zur unter besonderer Berücksichtigung der vom Rundfunkrat gleichfalls beschlossenen, umstrittenen Radioreformen bieten gleich drei Zeitungen.
"Ihr bislang wohl einmaliger Einsatz für ein Rundfunkprogramm ist bundesweit zum symbolischen Aufschrei enttäuschter Gebührenzahler geworden, die sich auch sonst intellektuell vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk vernachlässigt fühlen",
schreibt Alexandra Zwick im Tagesspiegel über die Radioretter, die gestern eine siebenseitige Stellungnahme (PDF) herausbrachten, und will gehört haben, dass das Radioprogramm WDR 3 intern inzwischen "DDR 3" genannt werde. Dagegen bekam die TAZ Gelegenheit mit noch einer Frau in einer Führungsposition, der WDR-Rundfunkratsvorsitzenden Ruth Hieronymi zu reden, und gibt nun so manche staatsmännische Sprechblase Experteneinschätzung ("Wir haben jetzt eine Situation, in der der Dialog geführt werden kann") wieder.
Einen Schritt zurück von diesen aktuellen Debatten tritt Radio-Experte Stefan Fischer in Süddeutschen (S. 17, derzeit nicht frei online) und gelangt am Ende seines lesenswerten Artikels zur Ansicht:
"Diejenigen jedenfalls, die ihre Erwartungen ans Kulturradio formulieren, wollen explizit ein elitäres Programm. ... .... Diese Klientel verlangt nicht nach dem kleinen Einmaleins der Klassik, sondern nach ernsthafter Musikpublizistik, nach Klangexperimenten, Essays und Dokumentationen auf hohem intellektuellen Niveau. Das kostet Geld. Und Geld wird knapper, denn die ARD gibt ihre Milliarden anderswo aus. Deshalb wird demnächst beinahe zwangsläufig eine Frage noch aktueller werden - ob jede ARD-Anstalt weiterhin ein eigenes Kulturradio organisieren muss."
Wofür die ARD ihre Milliarden jetzt wieder ausgibt? Siehe Altpapierkorb.
Altpapierkorb
+++ Weder die Piel'sche Neuentdeckung Thommy Gottschalk, noch der im Bayerischen Rundfunk hochangesehene und derzeit ja noch sendende (und bei meedia.de für seine "übergeigt vergagten Einspieler" verhämte, des "crossmedialen Scheiterns" bezichtigte), kaum minder sonnige Richard Gutjahr moderieren die ab Montag neue "tagesWEBschau" der ARD. "Kommentiert werden die Beiträge von einer Off-Stimme" (ebenfalls meedia.de), einer offenbar unprominenten. Mit diesem weiteren Fernseh-Internet-Hybrid-Experiment (bzw. wurde getwittert: "... muss Teil des Netzes und der anal. Welt sein") kehrt Radio Bremen zurück ins Bewusstsein des Nichtbremer Publikums: "Das Kernteam sitzt in der sogenannten 'Digitalen Garage' von Radio Bremen, wo vor allem ehemalige Volontäre des Senders an dem Projekt arbeiten." +++ "Das Pilot-Video war vor allem ganz entsetzlich munter" (Süddeutsche). +++ Die "Piraten-Mentalität ...!", die die AG DOK ARD und ZDF nun unterstellt (Carta), bürgt noch nicht für einen Erfolg der "tagesWEBschau". +++ Prompte Reaktion: "Die ARD erklärte die Vorwürfe aus ihrer Sicht für nicht nachvollziehbar, auch das ZDF wies die Vorwürfe zurück" (SZ, S. 17). +++
+++ Den Klick-Scoop, dass sich die GEZ künftig "ARD ZDF Deutschlandradio Beitragsservice" nennt, landete die Nachrichtenagentur DAPD. Springers Welt bringt Daniel Bouhs' Artikel in voller Länge und mit Autorennamen. +++ Wie millionenschwer dank GEZ-eingetriebener Gebühren die 14 deutschen Landesmedienanstalten genau sind, lässt sich jetzt (zumindest eine Woche lang) frei online bei der Funkkorrespondenz nachlesen. +++
+++ Was berichten die Medienseiten der DuMont-Presse, deren gedruckte Artikel teils verzögert, teils gar nicht ins freie Internet gestellt werden? Über den neuen Chefredakteur "jenes politischen Monatsmagazins, das noch immer zu wenige Menschen kennen", wie Christoph Schwennicke selber sagt. Um den Cicero geht es also (FR). +++ Um den israelischen Haaretz-Journalisten Uri Blau geht es im KSTA. Wegen des Vorwurfs "schwerer Spionage", die man freilich hierzulande eher als Investigation auffassen würde, droht ihm eine lange Haftstrafe. An der israelischen Zeitung ist DuMont übrigens auch beteiligt. +++
+++ Im o.g. Cicero-Text geht's auch um Probleme, die der Cicero-Eigentümer Ringier in der Schweiz hat. Dessen Ausstieg aus dem dortigen "Presse-TV" kommentiert Rainer Stadler in der NZZ. +++ In England vollziehen sich Chefredakteurs-Abschiede ruppiger als in Deutschland. Richard Wallace (Daily Mirror) erlaubte man "noch, ein paar Habseligkeiten von seinem Schreibtisch zu holen, dann musste er das Redaktionsgebäude verlassen", und Tina Weaver (Sunday Mirror) erging es ähnlich, berichtet die Süddeutsche. Beide Mirrors werden zusammengelegt. +++
+++ Um vor lauter Urheberrechtsdebatte die aktuell gültige, immer wieder gerichtlich umstrittene Rechtslage nicht zu vergessen: Die Freischreiber machen mit weiterführenden Links auf ein neues Urteil zur VG Wort aufmerksam. +++ "Springer unterliegt", meldet die TAZ wegen eines BGH-Urteils, über das Springer selbst sich zu freuen behauptet. +++
+++ Topthema der FAZ-Medienseite: ein Interview mit Tina Fey. +++ Über die "erfolgreichste amerikanische Comedy-Frau", die die TV-Serie "30 Rock" entwickelte, mitreden, obwohl man keine FAZ und keine Ahnung hat? TAZ! +++ Ferner empfiehlt die FAZ Fernsehsendungen, darunter "Im Visier der Nazis – Bürger wehren sich" um 21.15 Uhr im NDR (S. 35). +++ Ferner berichtet die TAZ aus Spanien von einem Zeitungstitelkonflikt. +++
+++ Und falls in einer künftigen Epoche der Kultur- und Mediengeschichte einmal eine bestimmte Textgattung "Niggi" (oder sogar eine ganze Epoche, äquivalent vielleicht zum Biedermeier im vorletzten Jahrhundert, "Niggemeier") genannt werden sollte, zumindest dann könnte eine andere Gattung, die der "sich von sich selbst distanzierenden" Texte, "Kuzy" genannt werden. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.